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Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Blumenbinderin, Ehefrau, Kranführerin, Mutter, Überlebende. In ihrem Roman Schwebende Lasten setzt die Autorin Annett Gröschner ihrer Heldin Hanna Krause ein literarisches Denkmal und erzählt berührend von einem Leben, in dem sich die Brüche und Systemwechsel der Nachkriegszeit ebenso ablesen lassen, wie das Buch auch Zeugnis von weiblicher Überlebenskraft und Anpassungsfähigkeit ablegt. Großartige Lektüre!


Es könnte schiefgehen, wenn ein Roman mit einem Epitaph beginnt, der eigentlich schon alles vorwegnimmt, was da auf den kommenden 280 Seiten auf die Leser*innen wartet.

Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 1930er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 7

Was soll da noch kommen, wenn die ersten Zeilen gleich die ganze Geschichte verraten und den biographischen Rahmen abstecken, der die Leser*innen im Folgenden erwartet? Ein herausragendes Leseerlebnis, mit dem Annett Gröschner demonstriert, was lebendiges Erzählen ausmacht, das weit über einen biographischen Rahmen hinausweist. Denn sie verleiht der Lebenserzählung ihrer Heldin Hanna Krause Anschaulichkeit und Tiefe, wie man sie wirklich nicht alle Tage findet.

Das große Leben der Hanna Krause

Annett Gröschner - Schwebende Lasten (Cover)

So folgt sie chronologisch dem Leben Hanna Krauses, die kurz vor dem Kriegsbeginn des Großen Krieges, der später der Erste Weltkrieg heißen sollte, zur Welt kommt. Vaterlos wächst sie im „Knattergebirge“ genannten Armenviertel Magdeburgs im Schatten der Johanniskirche auf. Als Blumenbinderin unterstützt sie ihre Halbschwester Rose, lernt später ihren künftigen Mann Karl kennen und macht sich als Blumenbinderin mit eigenem Laden dort im Knattergebirge selbstständig. Blumig oder farbenreich ist in ihrem Leben allerdings höchstens die Auslage in ihrem Laden. Denn das Leben dort in Magdeburg bedeutet ärmliche Verhältnisse, bei denen immer wieder Hannas Geschick und Findigkeit vonnöten ist, wenn sich mal wieder die Geldsorgen häufen oder sich schon bald die ersten Kinder im Leben der jungen Frau einstellen.

Schwebende Lasten ist das beeindruckende Bild von weiblichem Anpassungswillen und Überlebenskraft, die Hanna an den Tag legt, um ihre Familie um Karl und ihre Kinder zusammenzuhalten. Schon beginnt der Zweite Weltkrieg, der die Armut der Familie noch einmal potenzieren wird. Verluste ihrer Kinder im Zuge der Luftschläge der Alliierte, das Ausgebombt-Werden mit ihren kleinen Kindern, das Hamstern und Überleben der vom Historiker Harald Jähner „Wolfszeit“ getauften Periode, die ständige Not, die Hanna aber nicht brechen kann, davon erzählt Annett Gröschner plausibel und greifbar.

En passant erzählt dieser Roman auch die großen geschichtlichen und gesellschaftlichen Brüche des 19. Jahrhunderts mit, die immer wieder auf Hannas Leben durchschlagen.

Politische und gesellschaftliche Brüche

So fordert der Zweite Weltkrieg einen hohen Preis von ihr, ihre beständig wachsende Familie muss dramatische Verluste hinnehmen. Später wird sie im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat der DDR entgegen aller Widerstände zu einer Kranführerin, die mit ihrem Kran scheinbar schwebend die schweren Lasten passgenau durch die Maschinenhalle manövriert, obschon Misogynie und Ungleichbehandlung auch dort zum Alltag gehören, ehe sich Hanna auch hier ihren Platz erobert.

In der Nacht bevor Hanna das erste Mal auf den Kran stieg, schlief sie schlecht. Sie hatte Höhenangst, aber das konnte sie nicht zugeben. Sie wollte nicht mimosenhaft sein, auch wenn sie Mimosen mochte. Die Blumen ähnelten ihr, denn sie waren nur scheinbar empfindlich.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 165

Aus den Krupp-Werken wird die Maschinenfabrik Krupp-Gruson im Besitz der sowjetischen Maschinen-Aktiengesellschaft, politische Systeme ändern sich, die Menschen müssen sich anpassen – und mittendrin Hanna Krause, in deren Leben sich all die Veränderungen bis hin zum neuen Deutschland nach der Wende ablesen lassen.

Ein literarisches Kunststück, das zu Verständnis beiträgt

Mit ihrem Roman gelingt Annett Gröschner das Kunststück, dass sich ein fiktives und schicksalsschlagreiches Leben völlig glaubwürdig und schon fast universal anfühlt. Das, was man mit dem schwammigen Schlagwort der „Würdigung von Lebensleistung“ vor allem in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Ost- zu Westdeutschland immer wieder diskutiert, es erhält hier eine (zumindest von mir) selten gelesene Prägnanz und Anschaulichkeit.

Ihr gelingt es, mit Schwebende Lasten literarische Verständigungsarbeit zwischen Generationen und Landesteilen zu schaffen. Sie erzählt von Überleben und Mutterschaft, vom Kampf um Selbstbehauptung und Eroberung von Räumen, die Frauen viel zu lange nicht zugedacht waren. Gröschners Roman gelingt es, die immensen Veränderungen, die das Leben insbesondere in den ostdeutschen und mitteldeutschen Landesteilen bedeutete, vor Augen zu führen und glaubwürdige Porträts ihrer Figuren zu zeichnen, die von Staatsdoping in der DDR bis hin zur Kunst als Kraftquelle aus einer Fülle an Themen schöpft, ohne dabei die Geschichte mit übertriebenem Stilwillen oder literarischer Extravaganz zu überfrachten.

Das macht das Buch im besten Sinne massenkompatibel und setzt dem sachbuchlastigen, von Männern wie Dirk Oschmann bis Jakob Springfeld geprägten Diskurs ein literarisches Kunstwerk entgegen, das Kopf und Gefühl gleichsam anspricht.

Fazit

Diesem Buch sind ebenso viele Leser*innen wie Nominierungen und Besprechungen zu wünschen, schließlich gelingt der Autorin hier ein kleines, großes Kunstwerk, das in Zeiten erhitzter Ost-West-Debatten Bewusstsein für die Brüche und Leistungen jenseits der damals existenten Mauer schafft und nicht zuletzt exemplarisch ein Frauenleben schildert, wie es für das Funktionieren des Landes über alle Staatsformen hinweg unerlässlich war, und das doch noch immer viel zu oft übersehen wird. Insofern leistet Annett Gröschner mit ihrem Roman wichtige Arbeit und unterhält auf erhellende und begeisternde Weise. Dieses Buch ist keine Last, sondern die reine Freude!


  • Annett Gröschner – Schwebende Lasten
  • ISBN 978-3-406-82973-4
  • 280 Seiten. Preis: 26,00
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Kristine Bilkau – Halbinsel

Wie viele Krisen halten Beziehungen aus? In ihrem angenehm unaufgeregten Roman Halbinsel erkundet die Schriftstellerin Kristine Bilkau genau das. Sie erzählt von einer Bibliothekarin, die nach einem Zwischenfall ihre Beziehung zu ihrer Tochter überdenken und neu betrachten muss. Dabei blickt Bilkau ebenso ins Innere des Beziehungsgefüge zwischen Mutter und Tochter, wie sie auch die Frage nach dem Leben in Zeiten der Klimakatastrophe stellt.


Eigentlich glaubte Annett ihre Tochter Linn schon weit weg von sich. Zum Studium war sie von Annetts Wohnort an der Nordsee nach Berlin gezogen, interessiert sich für Umweltthemen und hat nach Volontariaten im Umweltsektor nun ein Studium in der Hauptstadt begonnen. Doch Linn kehrt überraschend wieder heim zu ihrer Mutter. Auslöser ist ein Zwischenfall auf einer Tagung in einem Hotel. Dort hat Linn einen Schwächeanfall erlitten und ist zusammengebrochen.

Nachdem Annett kurzfristig den Weg nach Berlin angetreten hat, kommt ihre Tochter mit ihr an den Ort, wo sie aufgewachsen ist. Sie zieht wieder in Annetts Haus ein und richtet sich damit an ebenjenem Ort wieder häuslich ein, von dem sie eigentlich aufgebrochen war, um die ersten Schritte in ein eigenes, unabhängiges Leben zu gehen.

Die Tochter kehrt zurück

Kristine Bilkau - Halbinsel (Cover)

Doch nun ist ihre Tochter wieder mit ihr im Haus – und Annett muss erkennen, wie weit sich die Lebenswege der beiden Frauen voneinander entfernt haben, die sich nun so plötzlich wie überraschend wieder annähern. Kristine Bilkau erzählt davon, wie eng einst die familiäre Band war, auch bedingt durch den frühen Tod von Annetts Mann und Linns Vater – und wie verblüfft Annett über ihre Tochter ist, die etwa nach ihrer Rückkehr in die Heimat mit ihrer Mutter erst einmal groß einkaufen möchte, wohingegen Annett stets darauf angewiesen ist, mit ihrem knappen Budgeht zu haushalten, das ihr die Arbeit in der lokalen Stadtbücherei verschafft.

Genau beobachtet, empathisch und feinsinnig geschildert und damit alles andere als effekthascherisch ist das Erzählen, das Kristine Bilkau in diesem Roman zeigt. Ähnlich wie zuletzt auch Daniela Krien blickt sie tief in die Seele ihrer Protagonistin, in der sich Verwunderung, Ärger über und Zuneigung für ihre Tochter mengen. Die unterschiedlichen Generationen, die verschiedenen Lebensweisen, sie dürfen hier nebeneinander stehen – verbunden mit der mütterlichen Sorge, die Annett seit Kindertagen um ihre Tochter kennt.

Als Linn anderthalb Jahre alt war und laufen gelernt hatte, wollte sie jede Treppe alleine hochklettern. Sie zappelte und schrie, sobald ich sie auf den Arm hob, auch an die Hand durfte ich sie nicht nehmen. So viele Male stand ich mit angehaltenem Atem hinter ihr, während sie wie in Zeitlupe Stufe um Stufe hochstieg und dabei gefährlich ins Wanken geriet. Jeden Moment war ich bereit, meine Tochter aufzufangen. Ich sag das Stolpern und Stürzen in grellen Details. Bei dem Gedanken an das Geräusch, den dumpfen Aufprall, kniff ich unweigerlich die Augen zusammen. Mit dem Kind war mit einem Mal eine neue, intensive Vorstellungskraft da.

Kristine Bilkau – Halbinseln, S. 7

Leben in Zeiten der Klimakrise

Eingewoben in das erzählerische Grundgerüst der zwei Frauengenerationen ist auch die Frage der Vergänglichkeit, die insbesondere an der Nordsee nicht nur die Kultur durchdrungen hat. So beschrieb Detlev von Liliencron einst in seinem Gedicht Trutz, Blanke Hans von 1883 das Verschwinden Rungholts und die unbändigen Kräfte der Natur, die immer wieder Menschenleben fordern.

Nicht nur, dass in Annetts Bücherei diese eingängige Ballade mit ihrer Beschreibung des Vergehens noch immer nachgefragt wird. Auch direkt vor ihrer Haustür ist diese von Liliencron in Verse gegossene Vergänglichkeit zu beobachten. Ob auf den vom Klimawandel bedrohten Halligen oder der Nordsee, die immer wieder in ihren Zyklen von Ebbe und Flut die Spuren der Menschen im Meer auswäscht.

Augenscheinlich ist die menschliche Vergänglichkeit Tag für Tag – und Annett nimmt sie mit feinem Sensorium wahr. Insbesondere, da der Zusammenbruch ihrer Tochter Erinnerungen an den Tod ihres Partners weckt, ist die Verlusterfahrung wieder da, wenn sie denn überhaupt jemals fort war.

Und auch Linns Rückkehr bringt Erinnerungen zurück. Wie verhält sie sich angesichts der omnipräsenten Auswirkungen der Klimakrise? Welche Informationen über die Bedrohung unserer Existenz mutet man einem Kind zu? Ohne aktivistischen Missionseifer oder Zorn beschreibt Bilkau einfach nur, die Fragen, die in ihrer Protagonistin wachwerden und die sie beschäftigen.

Fazit

Die Rede von der Polykrise ist ja kein neues. Halbinsel illustriert den Umgang mit der Gleichzeitigkeit der großen und kleinen Dramen des Lebens aber wirklich lesenswert. Das Nebeneinander der Krisen, das Verhältnis von Müttern zu ihren Töchtern, die Verständigung zwischen zwei Menschen, die sich voneinander entfernt haben und nun plötzlich wieder zusammenfinden: all das macht Kristine Bilkaus Text aus, der unaufgeregt einen steten Lesefluss entwickelt und dem es gelingt, das Leben in all seinen Schattierungen lesenwert zu beschreiben.

Für diese Leistung wurde Kristine Bilkau mit einer Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik honoriert. Die Jury preist Halbinsel einen sensibel gebaute[n] Roman über emotionale Altlasten, über Großzügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen – und ich widerspreche nicht.


  • Kristine Bilkau – Halbinsel
  • ISBN 978-3-630-87730-3 (Luchterhand)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin

Agrippina, Boudica, Nero und Tacitus. In ihrem neuen Roman lässt Ursula Krechel eine Lateinlehrerin seitenweise über Gewalt und Geschichte dozieren. Das drängt die übrige Handlung dieses Romans an den Rand, was ausnehmend schade ist. Denn die Erzählansätze und Themen von Sehr geehrte Frau Ministerin sind für sich genommen wirklich spannend. Wäre da nicht der Latein-Overkill.


Ein wenig fühlt man sich in die Schulzeit zurückversetzt, wenn man sich in die Seiten des neuen Buchs von Ursula Krechel hineinbegibt. Denn Krechels Buch ruft Erinnerungen an den Lateinunterricht wach, beschäftigt sich das Buch doch seitenweise mit der Zeit der römischen Kaiser. Die Epoche Neros steht im Mittelpunkt des Textes und hier ist es insbesondere das Verhältnis von Kaiser Nero zu seiner Mutter Agrippina, der optima mater, wie er sie in seiner ersten Thronrede bezeichnete. Es sind Überlegungen zur Beziehung der beiden, zum Herrschaftsstil Neros und der Geschichtsschreibung, die in ihrer Genauigkeit und Platzanspruch die restliche Handlung der Gegenwart überlagern.

Immer wieder drängen die historischen Exkurse und Überlegungen die Geschichte der „Kräuterhändlerin“ Eva Patak an den Rand. Diese versieht in einem altmodischen Bioladen in der Essener Innenstadt ihren Dienst. Im sanftgrün gestrichenen Laden bedient sie Kunden und verkauft Kräuterbonbons , rückstandsfreie Biotees und Heilkräuter, die von der überschaubaren Kundenschar dort gekauft werden Ihr Sohn wohnt noch daheim in seinem Zimmer und verbringt die Tage vor dem Computer, sie selbst führt ebenfalls eine unauffällige Existenz, eben ganz so wie der Laden, in dem sie arbeitet.

Eine Kräuterhändlerin, eine Lehrerin, eine Justizministerin

Ursula Krechel - Sehr geehrte Frau Ministerin (Cover)

Das Leben Eva Pataks und ihr Umfeld eröffnen sich nur durch kurze Szenen und Schlaglichter. Eigentlich sind es aber die seitenweise römische Exkurse, die im Mittelpunkt des ersten von drei Teilen des Romans stehen. Warum es zu dieser disparaten Verbindung kommt, das eröffnet sich im zweiten Teil des Romans, der die Lateinlehrerin Silke Aschauer einführt. Diese ist Kundin im Laden von Eva und kämpft im ab ovo untertitelten Teil mit einem übermäßigen Blutfluss und ihrer Rolle als Leiterin eines Lateinleistungskurses. Dies erklärt auch den an ein Propädeutikums-Stil des ersten Romanteils, dessen Charakter im Buch weiterhin fortgesetzt wird.

Caesars De bello gallico, die Geschichtsschreibung Tacitus´, ein fiktives Gespräch zwischen der Keltenkönigin Boudica und Agrippina, dazu viel Wortarbeit mit Wortfeldern und Konjugationen. Es fühlt sich alles stark wie einst an, als man auf das Große oder Kleine Latinum vorbereitet wurde. Nur eines fehlt – eine klare Richtung, in die der Roman will. Erst am Ende des dritten Teils, der auch die dritte, zentrale Frauenfigur einführt, findet das Buch eine Spur, auf die es einbiegt.

Denn den ersten Teil des Romans schloss ein Brief von Eva Patak an die ebenfalls aus dem Ruhrgebiet stammende Justizministerin. Diese und ihr Wirken steht nun im finalen Teil des Buchs im Mittelpunkt. Ihre Arbeit, die Post, mit der sich die Ministerin konfrontiert sieht, dazu noch ein Blick auf Eva, die einen neuen Job bei einem Hörgeräteakustiker gefunden hat. All das mäandert weiter wie gewohnt vor sich hin, bis es zu einem eruptiven Akt der Gewalt kommt, der die optima mater Eva und ihren Sohn mit dem Leben der Justizministerin zusammenschmiedet.

Erschlagender Lateinunterricht, zu wenig Fokus

Es könnte ein guter Roman über Gewalt sein, die sich von der Antike bis in unsere Tage erstreckt (wie das wie es professionelle Kritiker*innen, darunter etwa Adam Soboczynski in der Zeit tut). Auch wäre der Roman in seiner historisch begründeten Schau auf das Verhältnis von Müttern und Söhnen interessant. Doch auch dieses Thema wird vom dozierenden Stil dieses Buchs erschlagen, etwa wenn dann seitenweise Exkurse über die kriegsbedingten Wirren um die Goldene Madonna im Essener folgen, die mit dem Werdegang und den Missbrauchsgerüchten um den Bischof des Bistums aufgepolstert werden.

Weniger Überfrachtung und eine Reduktion auf klare und sprechende Bilder wäre mehr gewesen. So werden alle zeitgeschichtlichen und psychologischen Komponenten leider vom wissenssatten Übermaß an lateinischer (Sprach)Geschichte und der springenden Erzählweise in ihrer Wirkkraft gemindert.

Auch der heutige Aspekt von Gewalt gegen Politiker, netzgespeiste Verschwörungsideologien und Paranoia kommt gegen das Zu Viel im Text nicht an. Unausgewogen und unbalanciert ist dieses Dreierlei aus Frauen, Mutterschaft und lateinischer Gewaltgeschichte.

Das ist schade, weil sprachlich stets das Talent der Lyrikerin, Dozentin und Romancière Ursula Krechel aufscheint. Auf einem kreativen und präzisen Niveau, wie man es sonst nur von Ulrike Draesner kennt – bis hin zum schönen Wort Ehrpusseligkeit – umkreist sie die Gedankenwelt ihrer Figuren. Sonderlich konkret und plastisch werden sie damit leider aber nicht, die damit ähnlich amorph wie die Botschaft des Buchs bleibt.

Fazit

Die Stringenz und Figurengestaltung, die Krechel in ihrem buchpreisgekrönten Weitwurf Landgericht an den Tag legte, Sehr geehrte Frau Ministerin lässt all das vermissen. Zu viel lateinische Geschichte, zu viele Arabesken und zu wenig Fokus auf die eigentlichen Themen verschenken leider das Potenzial, das Krechels Geschichte innewohnt.


  • Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin
  • ISBN 978-3-608-96653-4 (Klett Cotta)
  • 368 Seiten. Preis: 26,00 €
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Arnon Grünberg – Gstaad

Wie man sich in einem Buch täuschen kann. Statt eines luftigen und unterhaltsamen Schelmenromans irgendwo zwischen Manns Felix Krull, Der Zauberberg und Drei Männer im Schnee, den die Außengestaltung des neuesten Bandes der Anderen Bibliothek nahelegt, gibt es mit dieser Neuausgabe eines Frühwerks von Arnon Grünberg einen bedrückenden, teils ekelerregenden, doch auch faszinierenden und rätselhaften Roman zu lesen, der tief in die menschlichen Abgründe hinab- und dann wieder auf die Hügel und Berge bis nach Gstaad emporsteigt.


François Lepeltier ist ein Kind der vielen Namen und Geschichten. Einst wurde er im Badezimmer eines Hotels in Heidelberg gezeugt, in dem seine Mutter als Zimmermädchen arbeitete. Seinen Vater, von dem Francois den Namen übernahm, verstarb kurz nach der Geburt an einer Krebserkrankung. Trotz einer erwogenen Abtreibungen und Adoptionsversuchen ist er bei seiner Mutter geblieben, mit der er nach einem regelrechten Vagabundenleben nun in Baden-Baden in der Pension am Sonnenhügel Quartier bezogen hat.

Er macht sich im Haus nützlich, unterstützt die Mutter bei ihren Diebestouren, lenkt das Verkaufspersonal ab und ist treuer Adlatus seiner Mutter, die von der Pensionsbesitzerin ausgenutzt wird. Dort in Baden-Baden machen Mutter und Sohn die Bekanntschaft mit dem illustren Ehepaar Cecherelli, die als Dauergäste in der Pension wohnen. Zunehmend geraten François und seine Mutter in den Bann der beiden. Während Herr Cecherelli den Korintherbrief übersetzt, braucht seine Gattin „Bewachung“, die ihr François‘ Mutter zukommen lassen soll. In diesen rätselhaften Spielen aus Befriedigung, Voyeurismus, ödipaler Spielereien und Streicheleinheiten begegnen sich die Beteiligten, wobei es sogar zu Verstümmelungen kommt.

Vom Sonnenhügel in Heidelberg bis nach Gstaad

Arnon Grünberg - Gstaad (Cover)

Schlusspunkt dieses Kapitels Sonnenhügel wird der Tod Frau Cecherellis in der pensionseigenen Badewanne sein, die sich mit einem Tauchsieder selbst kocht und daraufhin von François‘ Mutter ersetzt wird. Zusammen verlassen Herr Cecherelli und die nunmehr Rodolfo Cecherelli und seine Mutter die Pension, um das Vagabundenleben fortzusetzen. Die nächsten Stationen des Vagabundenlebens liegen vor ihnen…

Ebenso wie in der Folge die Hotels und Städte wechseln, ist auch die Beziehung zwischen François und seiner Mutter sowie dessen Karriere und das gemeinsame Erleben vielen Veränderungen unterworfen. Es wird es zu Morden kommen, Francois wird in Stuttgart zu Herrn Kühler werden, der als Hochstapler-Zahnarzt unter Mitarbeit seiner Mutter Ausgestoßene und randständige Menschen behandelt und sie um ihr weniges Geld erleichtert, wobei es doch nach eigenem Bekunden dieser Beichte in Romanform nach alleine darum geht, am Baum des Guten zu rütteln.

Eine Welt des Ekels und der Perversion

Ob als Skilehrer oder als Wein-Sommelier in Gstaad, wohin der letzte Abschnitt dann doch noch führt – immer wieder erfindet sich François neu und manövriert sich mit seinen primitiven Trieben und seltsamen Verhaltensweisen in Situationen, aus denen dann wieder eine Flucht an einen neuen Schauplatz erwächst.

Dabei ist Grünbergs Roman, der ursprünglich unter Pseudonym im Jahr 2002 erschien und nun in der Übersetzung von Rainer Kersten als 464. Band in der Anderen Bibliothek vorliegt, kein heiterer Schelmenroman, der einen ödipalen Hochstapler auf seiner Tour durch Europa zeigt. Nein, sein Roman ist düster, ekelerregend, bietet grausame Morde und Tode in Serie – und doch auch unbestreitbar faszinierend. Man fragt sich, warum man Grünberg doch immer weiter in diese düstere Welt folgt, in der es trotz aller montanen und mondänen Schauplätze so abstoßend zugeht – aber man tut es.

Wenn das neue, aus der Schriftstellerin Julia Franck und Rainer Wieland bestehende Herausgeberduo der Anderen Bibliothek schreibt, dass es hier in Grünbergs Roman nichts Reines mehr gibt, sondern nur unappetitliche Dinge und Menschen, die einander auf alle erdenkliche Weise erniedrigen, dann trifft das hier wirklich zu. Moralische Maßstäbe gibt es hier nicht, allenfalls einen von nahezu animalischen Trieben besessenen Erzähler, dessen eigenes kultiviertes Auftreten von seinem Verhalten konterkariert wird und das einem ganzen Tross Verhaltenstherapeuten auf lange Zeit Arbeit geben könnte.

Fazit

Ähnlich wie zuletzt Ottessa Moshfegh in ihrer tiefschwarzen Fantasie Lapvona blickt auch Arnon Grünberg hier ganz tief in die Abgründe der menschlichen Temperamente und Neigungen. Die Schattenseiten menschlicher Existenzen beleuchten und eine Erkundung des eigenen Ekels zwischen beschriebener Selbstverstümmelung, Ekzemen und sexueller Perversion, das leistet Gstaad von Arnon Grünberg – oder wie es das Herausgeberduo formuliert: Schonungslos, mit sardonischem Humor lotet Arnon Grünberg in diesem Buch die Grenzen des Zumutbaren aus. Auch das kann und muss bisweilen die Aufgabe von Literatur sein.

So schnell brauche ich nach Moshfegh und Grünberg eine solche Auslotung persönlich allerdings nicht mehr. Seien Sie gewarnt!


  • Arnon Grünberg – Gstaad
  • Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
  • ISBN 978-3-8477-0465-2 (Die Andere Bibliothek, Bd. 464)
  • 336 Seiten. Preis: 48,00 €
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Wolf Haas – Eigentum

Was bleibt vom Leben nach dem Tod? Und wie ist das mit dem alten Versprechen, jeder könne sich ein Eigentum verschaffen, wenn er sich nur anstrengt und spart? Wolf Haas macht in autofiktionale Manier Inventur und betrachtet das Leben seiner Mutter – und das was am Ende bleibt.


Sie ist an ihrem eigenen Ende angekommen, die Mutter des Erzählers, der auf den Namen Haas hört. Er hat sich ins Altersheim zu ihr begeben, um ihr auf den letzten Metern Gesellschaft zu leisten. Sie, die sie sich in ihren eigenen Erinnerungen verirrt, ihrem Leben und ihrer Lebensleistung will Haas nachspüren, oder wie er es in seinem typischen Stil schildert, den man so auch von seinen Brenner-Romanen oder Werken wie Das Wetter vor 15 Jahren kennt:

Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text. Und weg damit. Ein Text, der davon lebt, dass er mit dem Tod um die Wette rennt (nur noch zwei Tage). Keine Zeit für Formulierungen. Oder Selbstzensur. Gratuliere, super Idee.

Wolf Haas – Eigentum, S. 9

Und so springt Haas immer wieder hin und her, zwischen den Lebenserinnerungen seiner Mutter, die einst aufgrund ihres Intellekts die Schule und anschließend einen Servierkurs besuchen durfte, ehe der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs alle geplanten Lebensläufe zerstörte. Er selbst reist den Orten ihres Lebens nach, besucht ein Hotel in der Schweiz, in dessen Zwillingsgebäude seine Mutter nach einem Dienst beim Flugwachkommando diente und versinkt während des Besuchs im Altersheim und an prägenden Lebensstationen immer wieder in eigenen Erinnerungen und gedanklichen Abschweifungen, sollte er eigentlich doch auch sein Programm einer Poetikvorlesung langsam zu Ende bringen, von dem aber nichts außer der Titel steht.

Ein typischer Wolf Haas-Roman

Eigentum ist ein typischer Wolf Haas-Roman, auch wenn hier keine eigentlicher Plot im Sinne eines seiner Krimis um Simon Brenner im Mittelpunkt steht. Aber der Plot, um ihn ging es Wolf Haas ja erkennbar wenig in seinen bisherigen Büchern. Vielmehr zelebrieren seine Titel ja schon immer das Abschweifen der Gedanken und das Ausweichen vor allzu dicken roten Erzählfäden.

Wolf Haas - Eigentum (Cover)

Wie schon beim Interview, das den Rahmen seines Romans Das Wetter vor 15 Jahren bildete und in dessen Verlauf sich erst langsam die Handlung herausschälte oder bei seiner phlegmatischen Kultfigur Simon Brenner geht es auch hier ähnlich umständlich zu. Haas‘ Sätze stehen für sich bisweilen markant schief und krumm da und enteilen der erzählten Gegenwart immer wieder in die Erinnerung (was er ja in der Einleitung seines Romans selbst schon so als literarisches Konzept formuliert und absolut einhält).

Es ist auch der Humor, der typisch für das Schreiben des österreichischen Autors ist. So weckt etwa das greise Wegschlummern vor den vollen Suppentellern im Altersheim beim Erzähler Assoziationen zu einer alten Werbekampagne aus England, in der gewarnt wurde: „Vorsicht, die meisten Menschen ertrinken in seichten Gewässern!“

Oftmals erscheint der schwarze Humor als Bewältigungsmittel der eigenen Hilflosigkeit, um das absehbare Sterben der eigenen Mutter irgendwie zu verarbeiten. Bisweilen erfährt Haas als Erzähler sogar die Gültigkeit von Friedrich Nietzsches Worten der Tragödie, die sich als Farce wiederhole, etwa wenn er im noblen Schweizer Hotel auf Spuren seiner eigenen Mutter mit den vom Mund abgesparten Schweizer Franken zahlen möchte, nur um festzustellen, dass diese nach einer Währungsreform gar nicht mehr gültig sind.

Ein Mutterbuch aus Sohnperspektive

In solchen Momenten verbinden sich Humor, Lebenserinnerung und Einfühlen in die eigene Mutter ganz großartig. Überhaupt: Eigentum ist ein Mutterbuch aus Sohnperspektive, das die Fülle der Vaterschaftsbücher in letzter Zeit gut kontrastiert. Haas spürt hier dem Leben einer Frau nach, die beständig im Clinch mit anderen Menschen ihres Dorfes dort irgendwo in der Mitte Österreichs lag. Und deren Lebensmotto eines war, nämlich Sparen, Sparen, Sparen – stets mit dem großen Ziel des Erwerbs von Immobilieneigentum vor Augen.

So sammelte sie schon während ihrer Zeit als Servierkraft in der Schweiz beständig Franken, um sie nach Hause zu schicken, wo von dem Geld ein Haus errichtet werden sollte. Immer wieder war die Wohnsituation Thema, war die Wohnung mit achtundzwanzig Quadratmetern zu klein für die vierköpfige Familie, schrieb Haas‘ Mutter an Behörden, rackerte und sparte sich ab, um wie Sisyphos immer wieder die Unmöglichkeit ihres Traums vor Augen gestellt zu bekommen, schon etwa durch die Erfahrungen der Hyperinflation in ihrem eigenen Geburtsjahr 1923, die für eine Entwertung sämtlicher Vermögen sorgte.

Der Quadratmeterpreis ist immer einen Schritt voraus

Wenn es eine Erkenntnis gibt, die dem Leben dieser Frau innewohnte, dann der, das man sich mühen und eilen kann, wie man möchte, der Quadratmeterpreis, er ist einem stets einen Schritt voraus. Das zeigt Wolf Haas in den Erinnerungen, in der dieses Phantasma eines eigenen Heims immer wieder Thema war und an dessen Ende tatsächlich die eigene Immobilie steht. Nur befindet sie sich jetzt auf dem Friedhof in Form von circa 1,7 Quadratmetern, dafür mit unverstellter Bergsicht, wie der Erzähler in einem dieser Momente hilflos-schwarzen Humors feststellt

Was bleibt am Ende? Dokumente und Formulare, Geldnoten und das letzte Eigentum sind es, die dem Erzähler von seiner eigenen Mutter bleiben und die sich in diesem Wettlauf zwischen Text und Tod herauskristallisieren. Die Schreiben und das Geld entwerten sich und das Eigentum, es ist auch ein flüchtig Ding, frühestens, wenn die Bank zur Räumung der Immobilie auffordert, spätestens, wenn es ans Sterben geht. Eigentum ist möglich, aber nicht für „einfache“ Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Nicht damals, nicht heute. Das ist die bittere Erkenntnis, die Eigentum innewohnt.


  • Wolf Haas – Eigentum
  • ISBN 978-3-446-27833-2 (Hanser)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €
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