Category Archives: Historischer Roman

I. L. Callis – Doch das Messer sieht man nicht

Boxerin, Reportin, jung und schwarz. Anaïs Maar, die Heldin von I. L. Callis historischem Kriminalroman Doch das Messer sieht man nicht vereint viele unterschiedlichen Facetten in sich. Dass es als junge Frau schwer ist, seinen Platz im täglichen Leben zu behaupten, das kennt sie schon zur Genüge. Doch als Schwarze ist das noch einmal eine ganz andere Kategorie. Denn während Josephine Baker für Aufregung in der Stadt sorgt, hat es Anaïs unter den erstarkenden Braunhemden immer schwerer in der Stadt. Und dann ist da auch noch der „Ripper von Berlin“.


Weckt der Titel des neuen Romans der in Österreich lebenden Autorin I. L. Callis Anklänge an Brechts Dreigroschenoper, so erweist sich Doch das Messer sieht man nicht selbst aber weniger von Brechts Moritat von Mackie Messer denn von klassischen Serienkillererzählungen beeinflusst. Denn auch im Berlin der Zwischenkriegszeit geht ein Mörder um, der sich eines Messers bedient, um seine weiblichen Opfer zu brutal zu töten.

Der Ripper von Berlin

Was in London 1888 das Stadtviertel Whitechapel war, ist nun im Jahr 1927 für den Mörder der Krögel in Berlin, ein von Armut und einfachem Handwerk geprägten Teil der ehemaligen Garnisonsstadt. Dort sucht sich der Mörder seine weiblichen Opfer und verstümmelt sie aufs Grausamste.

I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht (Cover)

Ein schrecklicher Umstand, der wiederum aber die Karriere der jungen Anaïs Maar entscheidend befördert. Denn diese möchte als Kulturredakteurin eigentlich ihrem Vorbild Egon Erwin Kisch nachstreben, sieht sich aber schon bald auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, da die Zeitungsbranche auch schon im 1927 ächzt und stöhnt und der Berliner Brennpunkt, bei dem sie eine Anstellung gefunden hat, im harten Konkurrenzkampf der Boulevardblätter ins Hintertreffen zu geraten droht.

Kurzerhand wird Anaïs auf die Story eines Frauenmordes im Krögel gesetzt. Eine Geschichte, die eigentlich keine Besonderheit wäre, würde sich der Morde nicht eben durch die besondere Brutalität auszeichnen. Kurzerhand macht die Reporterin, die sich nicht nur im harten Alltag der Zwischenkriegszeit, sondern auch im Ring aufs Durchboxen versteht, an die ihr zugteilte Arbeit und verfasst einen ersten Artikel. Darin macht sie aus dem Täter mit der griffigen Formulierung den „Ripper von Berlin“, womit ihr ein erster Wirkungstreffer gelingt.

Eine Reporterin boxt sich durch

Nicht nur, dass sie die Redaktion des Boulevardblatts auf sich aufmerksam macht und mit ihren Storys zum „Ripper von Berlin“ zum Stadtgespräch macht – auch die Aufmerksamkeit des Täters weckt die junge schwarze Reporterin.

Um Anaïs‘ Geschichte herum gruppiert die gebürtige Italienerin weitere Figuren, die abwechselnd in den erzählerischen Fokus rücken. Da ist die junge Josefine, die eigentlich gerne so wie der Filmstart Lillian Harvey wäre, aber in der Realität immer weiter die gesellschaftliche Leiter nach unten rutscht. Der Ikonenmaler Maxim Bronski oder der prominente Wahrsager Thor Jonasson, dazu noch Redakteure, Boxtrainer und andere Figuren, deren Wege sich später kreuzen werden.

Das ist alles sehr solide gemacht und berlinert nicht nur im vielfach verwendeten Dialekt recht ordentlich. Vom Wartesaal am Bahnhof Zoo, einer Boxhalle hinter dem Schlesischen Bahnhof bis zum Treiben am Nollendorfplatz reichen die Schauplätze, die I. L. Callis in ihrem Roman aufbietet.

Ähnlich wie Volker Kutscher in seinen Gereon Rath-Krimis oder Susanne Goga mit ihren Krimis um Leo Wechsler ist auch Doch das Messer sieht man nicht eine historischer Krimi, der das vergangene Berlin und seine turbulenten politischen Zeiten noch einmal auferstehen lässt. Die große Armut, das Erstarken der rechten Kräfte, die Straßenschlachten und die sich wandelnde Stimmung fängt I. L. Callis nachvollziehbar ein. Durch die schwarze Hautfarbe von Anaïs findet zudem die Komponente des Rassismus ins Buch, dem sie sich sich ausgesetzt sieht, während in der gleichen Stadt Josephine Baker für ihr Auftreten gefeiert wird.

Fazit

Diese originelle Heldin ist es, die dem Roman etwas Profil gegenüber den vielen anderen historischen Berlinkrimis verleiht. Inhaltlich ist der in Doch das Messer sieht man nicht präsentierte Fall ordentlich, wenn auch die Gestaltung des Ganzen weitestgehend in der Reproduktion konventioneller Erzählmuster verharrt. Hätte I. L. Callis den anderen Figuren auch etwas von der Tiefe zugestanden, die sie Anaïs hier schon in Ansätzen verliehen hat, wäre das Buch auch auf der Personenebene noch stärker geworden.

So macht das Buch durch die Blicke in die unterschiedlichen Milieus, die aufstrebende Reporterin Anaïs Maar und auch die augenfällige Gestaltung seine Punkte, ähnlich wie Anaïs im Boxring gegen ihren Trainer Kalle in dessen Boxschule. Kurzum: ein solider historischer Krimi aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit.


  • I. L. Calis – Doch das Messer sieht man nicht
  • ISBN 978-3-7408-2048-0 (Emons)
  • 352 Seiten. Preis: 17,00 €
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Ron Rash – Der Friedhofswärter

Kollegen wie Richard Russo bezeichnen ihn schon als „einen der besten amerikanischen Autoren“. Nun ist der Amerikaner Ron Rash dank Übersetzerin Sigrun Arenz und dem herausgebenden Ars Vivendi-Verlags aus dem fränkischen Cadolzburg nun auch auf Deutsch zu entdecken. Sein Roman Der Friedhofswärter entführt ins ländliche North Carolina zu Beginn der 1950er Jahre und schildert eine Geschichte, die fast einem Shakespear’schen Drama entnommen sein könnte.


Die Grundidee, die Ron Rashs Roman zugrundliegt, sie könnte tatsächlich aus einem Shakespeare-Drama, einer großen Oper oder wenigstens einem bürgerlichen Trauerspiel stammen:

Nachdem sie bereits zwei Kinder auf dem Friedhof von Laurel Fork beerdigen mussten, ist Jacob das letzte lebende Kind von Cora und Daniel Hampton. Sein Leben ist allerdings auch in Gefahr, denn er wurde als Soldat eingezogen, um im Koreakrieg zu kämpfen.

Als er nun bei seinem Einsatz schwer verwundet wird, nutzen seine Eltern diesen Umstand für eine perfide Intrige. Denn eigentlich wollte Jacobs Vater seinen Sohn bereits verstoßen, da er sich mit einem für die Begriffe seiner Eltern völlig unstandesgemäßen Mädchen eingelassen hat.

Die doppelte Täuschung

Gerade einmal sechzehn war Naomi, als diese mit Jacob zusammenkam und dann den Bund der Ehe schloss. Ein Annullierungsversuch dieser Ehe durch Jacobs Eltern blieb erfolglos. Nicht einmal die schwere Arbeit im familieneigenen Sägewerk, mahnende Gespräche und Verstoßungsdrohungen konnten der Beziehung der beiden etwas anhaben. Im Gegenteil. Nun, während Jacob in Korea kämpft, harrt Naomi nun hochschwanger daheim aus. Für die Hamptons wie auch die ganze Kleinstadt Little Rock dort im ländlichen North Carolina ist dieser Umstand eine einzige Provokation.

Ron Rash - Der Friedhofswärter (cover)

Das „schamlose“ Mädchen und die Ehe ihres Sohnes, die der der puritanischen Einstellung der Eltern aus Anstand und harter Arbeit zuwiderläuft, das alles soll nun ein Ende haben. Und so täuschen sie Naomi den Tod Jacobs vor und sorgen mit viel Geld für einen Wegzug der Familie, die an anderer Stelle ein neues Leben beginnen soll, um so den vermeintlich toten Jacob zu vergessen.

Im Umkehrschluss täuschen die Hamptons Jacob nach dessen Rückkehr aus Korea den Tod von Naomi und ihrem gemeinsamen Kind vor. Sie scheuen für ihre Inszenierung weder Geld noch Mühe. Sogar eine Beerdigung samt Sarg organisieren die Hamptons, um die Illusion des Todes Naomis zu perfektionieren und um so das Band der beiden Liebenden zu zerstören.

Die Zweifel des Friedhofswärters

Während sich nun Jacob und Naomi ihrerseits in Trauer zurückziehen, gibt es ein verbindendes Element zwischen den beiden jungen Menschen, gewissermaßen der dritte Beziehungspunkt in ihrem besonderen Dreieck. Den während Jacob in Korea weilte, bat er den von einer Polio-Infektion entstellten Friedhofswärter Blackburn, sich um Naomi zu kümmern. Das tat er auf einfühlsame Weise, sodass der englische Originaltitel The caretaker hier eigentlich noch viel besser greift als die alleinige Funktionsbezeichnung, die der deutsche Titel bemüht.

Nun, da auf dem von ihm betreuten Friedhof von Laurel Fork der Sarg von Naomi bestattet wurde, mag er sich trotz allem tief in seinem Herzen nicht mit der vermeintlichen Wahrheit des Todes von Naomi abfinden. In seinem Beistand für Jacob wächst doch auch die Irritation und das Gefühl, das etwas nicht wirklich stimmt, je mehr Jacobs Eltern nicht nur auf ihren Sohn, sondern auch auf den Friedhofswärter Einfluss nehmen wollen.

Zart und gerade dadurch so wuchtig kommt Ron Rashs Roman daher. Ebenso wichtig wie die Landschaft der Kleinstadt und der Weite North Carolinas ist auch die Seelenlandschaft seiner Held*innen.

Der Friedhofswärter spürt Verletzungen und Verwundungen in vielfacher Form nach. Von den erlebten Kriegsgräuel am eigenen Körper und den Verheerungen in der Seele, vom psychologischen Druck der eigenen Eltern, die wiederum den Verlust ihrer anderen beiden Kinder auch durch die Manipulation und Lenkung Jacobs erzielen wollen. Von der Ausgrenzung des jungen Paares in der Kleinstadt Blowing Rock oder das Mobbing Blackburns, der als Friedhofswärter und Poliokranker gleich zweifach stigmatisiert ist, erzählt Ron Rash anschaulich und fühlt sich mühelos in die Figuren ein, denen er ihre Vielschichtigkeit und Widersprüche lässt.

So ist Ron Rash selbst auch gewissermaßen ein Caretaker, der sich um seine Figuren kümmert, ihre Bedrüfnisse ernst nimmt und gerade daraus die Qalität seiner Prosa schöpft, die aufbauend auf der starken Grundidee des Plots auch die psychologische Ebene seines Romans sauber grundiert und dadurch auf Effekthascherei oder große Volten in der Erzählung verzichten kann.

Fazit

Übersetzt von Sigrun Arenz ist so ein ruhiger, glaubwürdiger und erinnerungswürdiger Roman entstanden, der das Lob von Richard Russo und Konsorten für Ron Rashs Schreiben eindrücklich beweist und untermauert. Verwundungen, Intrigen und die allesüberdauernde Kraft der Liebe auch gegen Widerstände sind die Themen, die Der Friedhofswärter behandelt. Entstanden ist in Rashs Bearbeitung daraus ein unsentimentaler und unkitischiger Roman, der mit wenigen Strichen das Leben und die Moralvorstellung der 50er Jahre in einer amerikanischen Kleinstadt plastisch wiederauferstehen lässt.


  • Ron Rash – Der Friedhofswärter
  • Aus dem Englischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0607-2 (Ars Vivendi)
  • 240 Seiten- Preis: 24,00 €
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Elsa Morante - La Storia (Cover)

Elsa Morante – La Storia

Mit La Storia wagt der Wagenbach-Verlag die Neuausgabe des antifaschistischen Monumentalromans von Elsa Morante aus dem Jahr 1974. In der Übersetzung von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski gibt es die Geschichte von Ida und ihren beiden gegensätzlichen Kindern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs nun (wieder) neu zu entdecken. Ein Buch, das zur im wahrsten Sinne des Wortes zur rechten Zeit kommt.


Es ist eine augenfällige Diskrepanz zwischen dieser Neuausgabe des Wagenbachverlags und der Originalausgabe von La Storia im italienischen Verlag Einaudi im Jahr 1974. Denn einst bestand die Autorin Elsa Morante auf einer preisgünstigen Taschenbuchausgabe, um eine möglichst hohe Verbreitung ihres Romans zu erzielen. Nun, genau fünfzig Jahre und einige Preissteigerungen später, gibt es den Roman für stolze 38 Euro als Hardcover bei Wagenbach neu zu erwerben. Einer möglichst großen Verbreitung leistet ein derartiger Preis in Zeiten eh schon zurückhaltenden Konsumstimmung wahrscheinlich keinen großen Vorschub.

Nachvollziehbar, klug und notwendig ist diese Neuedition aber unbedingt. Schließlich gibt es hier einen Roman (wieder) zu entdecken, der psychologisch genau, historisch akkurat und eindringlich von den Kriegsgräueln, vom Leben unter dem Faschismus und vom Durchschlagen dreier unterschiedlicher Figuren erzählt. Ein Meilenstein der italienischen Nachkriegsliteratur, dem man sein Altern nahezu nicht anmerkt und der in der psychologischen Durchleuchtung und dem Sinn für widerständiges, manchmal erratisches und sprunghaftes Verhalten seiner Figuren zeitgenössischen italienischen Autor*innen wie Elena Ferrante vorangegangen ist.

Der Zweite Weltkrieg in Rom

Hauptsächlich chronologisch angeordnet läuft dieser Roman, obschon 1900 ansetzend, schnell auf das Jahr 1941 zu, in dem die Haupthandlung von La Storia einsetzt. Sechs Jahre umfasst die Handlung, die auch die einzelnen Kapitel des Romans bilden. Im Telegrammstil vorangestellte Zusammenfassung des politischen Geschehens, das im Menetekel des 2. Weltkriegs enden sollte, zeichnen diese kurzen Geschichtssplitter nach, ehe Morante in den folgenden Kapitel die Auswirkungen des großen Weltgeschehens auf die „kleinen“ Menschen in der Romanhandlung selbst beschreibt.

Elsa Morante - La Storia (Cover)

Dies gelingt ihr, indem sie die Römerin Ida in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Zum Zeitpunkt der Handlung zwar erst 37, dennoch bereits verwitwet, lebt die Grundschullehrerin mit ihrem Sohn Nino im römischen Stadtviertel San Lorenzo.

Als ob die Erziehung ihres Wildfangs von Sohn nicht schon herausfordernd genug wäre, wird Ida im Zuge der Vergewaltigung durch einen deutschen Soldaten im Jahr 1941 schwanger und gebärt den kleinen Giuseppe, genannt Useppe. Während nun der Zweite Weltkrieg auch in Rom unter Benito Mussolini auf seinen grausamen Höhepunkt zusteuert, wird die Lage für die drei Figuren immer komplizierter.

Aufgrund einer möglichen jüdischen Familienkomponente kippt die Nervosität von Ida zunehmend ins Panische. Die Lebensmittel werden immer weniger, die Not immer größer. Der kleine Useppe leidet ebenso wie seine Mutter Mangel – und der halbstarke Nino hat sich den Partisanen angeschlossen, um die Deutschen zu bekämpfen, die Rom kontrollieren. Für ihn kommt diese Zeit einem großen Abenteuerspielplatz gleich, der auch das Austesten der eigenen Grenzen und Männlichkeit erlaubt, während sich seine Mutter immer enger in ihr soziales und psychologisches Schneckenhaus zurückzieht.

Dann wird im Zuge des Kriegsgeschehens auch noch das Zuhause der Familie ausgebombt. Immer enger zieht sich die Schlinge des Leids und Elends um die Kehlen von Morantes Figuren.

Die Auswirkungen des Kriegs, unmittelbar erfahrbar

La Storia erzählt anschaulich von den Auswirkungen des Krieges. Unbarmherzig und mit genauem Blick schreitet Elsa Morante den Weg ab, den der Faschismus unter Adolf Hitler und Benito Mussolini für Italien bereitet hat. Die Not und das Elend der Zivilbevölkerung steht in Morantes Roman ebenso im Blick, wie sie auch tief in die Seelen von Ida und ihrer beiden so gegensätzlichen Kindern blickt.

Den täglichen Kampf um eine Handvoll Brot, die Entbehrungen, die Stimmungen und Verfasstheit des proletarischen Roms zur Zeit des Weltkriegs und in der Nachkriegszeit, das zeigt La Storia in starken Bildern. Auch gelingt der 1912 im römischen Stadtteil Testaccio geborenen Autorin das Kunststück, schwierige, da kantige und nicht unbedingt zur Identifikation einladende Figuren zu zeichnen, die im Mittelpunkt ihres Romans stehen.

Der aufsässige Nino, seine überforderte und in ihrer Überspanntheit manches Mal kaum zu ertragende Ida, dazu noch der kindliche Nino, der zwischen liebenswerten Kleinkind und Simpel pendelt: es ist allesamt schwieriges und nicht unbedingt sympathisches, aber genau dadurch markantes Romanpersonal, mit dem Elsa Morante glaubhaft ihre antifaschistische Botschaft transportieren kann.

Über 750 Seiten lang begleitet sie akribisch ihre Figuren und deren Schicksale. Das vielfache Leid und familiäre Unglück, das Faschismus in seinen Konsequenzen bedeutet, wird hier eindringlich erfahrbar, ohne dass der moralische Zeigefinger in irgendeiner Form überdehnt wird.

Antifaschistische Lektüre in Zeiten von italienischem Postfaschismus

In Zeiten, in denen in Italien Postfaschisten regieren und auch hierzulande rechte Antidemokraten erstarken, die ebendiese Zeit des Faschismus bagatellisieren und verklären wollen, gewinnt die vom Wagenbach-Verlag angestoßene Neuausgabe noch einmal an Bedeutung. Dass hier wieder eine Zugänglichkeit zu Elsa Morantes Text geschaffen wurde, ist mehr als nur zu begrüßen.

Klaudia Ruschkowski und Maja Pflug haben den Text in ein ansprechendes Sprachgewand gekleidet, haben Dialektfetzen und Liedzeilen im Original belassen und tragen deren Inhalt nach – und sorgen mit dieser Arbeit auch maßgeblich dazu, dass La Storia so neu und frisch zugänglich ist, dass es unbedingt wieder (neu) entdeckt werden sollte.

Und wer bei dem Preis des Buchs nachvollziehbarerweise schlucken sollte – an dieser Stelle sei auch wieder einmal der Hinweis auf Bibliotheken und deren Bestand und die Möglichkeit einer E-Leihe bei den angebracht. Auch ein Anschaffungsvorschlag beim Personal kann dafür sorgen, dass solche wichtigen Bücher wieder an möglichst vielen Stellen zu lesen sind, eben ganz so, wie es sich Elsa Morante vor fünfzig Jahren wünschte. Es wäre wichtig und würde sich in diesen Zeiten in vielfacher Hinsicht lohnen!


  • Elsa Morante – La Storia
  • Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
  • ISBN 978-3-8031-3365-6 (Wagenbach)
  • 768 Seiten. Preis: 38,00 €
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Bernardine Evaristo – Zuleika

Das Leben einer jungen schwarzen Teenagerin in London – und das zur Zeit der Römer auf der britischen Insel. Davon erzählt die Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Zuleika aus dem Jahr 2001, der nun erstmals in der Übersetzung von Tanja Handels vorliegt. Dabei überrascht vor allem die Form von Evaristos Erzählen.


Zuleika, so heißt die junge Frau, die uns in Evaristos Roman ihr Leben präsentiert. Einst kamen ihre Eltern aus Khartum nach Londinium und nun hat es das nubische Mädchen- oder besser eigentlich ihr Vater – geschafft. Denn der mächtige Patrizier Lucius Aurelius Felix hat sich Zuleika zur Frau erwählt.

Das Schicksal der jungen Zuleika

Ein Umstand, der Zuleikas Vater jubeln lässt, in dem gerade einmal elfjährigen Mädchen allerdings eher Abscheu und Ekel auslöst, schließlich ist jener Felix „dreimal so alt und breit wie ich“. Mit weiblicher Mitbestimmung und Selbstbestimmung ist es im London des Jahres 211 nach Christus aber zumindest anfänglich nicht weit her. So wird sie, nachdem Felix Zuleika beim Baden ansichtig geworden ist, mehr oder minder als Vertragsgegenstand zwischen Vater und Patrizier behandelt und ausgehandelt.

Als Frau des Honoratioren, Großgrundbesitzers und Handlungsreisenden findet das Mädchen Aufnahme in dessen luxuriöser Londoner Villa am Walbrook River, was sie als Angehörige einer völlig anderen Gesellschaftsschicht anfangs mehr als befremdet. Kaum dem gemeinsamen Spiel mit ihrer Freundin Alba auf den Straßen entwachsen wird sie nun gebadet, findet sich in Sänften wieder, hat Personal, wird geschminkt und speist erlesene Köstlichkeiten.

Sie wird zu einer Art schwarzem It-Girl, woran Zuleika zunächst Gefallen findet. Doch die anfängliche Überwältigung ihres neuen Lebens weicht bald einer Langweile, ist doch auch die römische Oberschicht Londons in ihrem Streben nach Luxus und Überfluss eigentlich recht öde und berechenbar. Doch dann fällt der Blick von niemand geringerem als dem römischen Imperator Septimius Severus bei einem seiner Aufenthalte in Britannien auf die junge schwarze Frau…

Mädchen, Frau etc. im London der Römerzeit

Im Kern ist Zuleika die Geschichte eines jungen schwarzen Mädchens, das in der britischen Gesellschaft zur Zeit der Römer seinen Platz sucht und mehrere Rollen ausprobiert – oder der besser gesagt: dem von der patriarchalen Gesellschaft mehrere Rollen zugeteilt werden: Kind mit Migrationshintergrund, Teenagerin, gehorchende Ehefrau und verführerische Geliebte, mal passiv, mal aktiv gestaltend.

Bernardine Evaristo - Zuleika (Cover)

Mit dieser Vielzahl an Rollen und Lebensentwürfe schließt Bernardine Evaristo an ihren mit dem Bookerprize ausgezeichneten Roman Mädchen, Frau, etc. an, für den Evaristo 2019 die Ehrung erhielt. Obgleich man diese Reihenfolge eigentlich umdrehen muss, denn Zuleika erschien im Original bereits 2001, also achtzehn Jahre vor dem Buch, das Evaristo auch hierzulande ihren Durchbruch bescherte.

Dank dieses Erfolgs von Mädchen, Frau, etc. erschienen nun kontinuierlich weitere deutsche Übersetzungen aus dem Oeuvre Evaristos, darunter auch nun eben auch die Übersetzung dieses Frühwerks durch die Evaristo-erfahrene Übersetzerin Tanja Handels.

Was macht das Buch abseits der Themen aber jetzt so besonders? Es ist die Sprache und Form – denn Bernardine Evaristo greift wie jüngst etwa Maggie Milner in Paare oder vor einigen Jahren Christoph Ransmayr in Der fliegende Berg auf die Form des Versromans zurück, um Zuleika ihre Geschichte erzählen zu lassen.

Die Form eines Versromans

Zumeist in reimfreien Paaren bietet uns Zuleika ihre Geschichte dar, unterbrochen durch Einschübe wie kleine Gedichte in mal gebundener oder mal freier Form. Dem starren lyrischen Formskelett des Verses steht dabei eine Freiheit in Stil und Gestaltung entgegen, die sich in der Sprache Evaristos selbst fortsetzt.

Denn Zuleika kennzeichnet eine gerade aberwitzige und völlig synthetische Verbindung von alter römischer und moderner Welt, was sich in der Sprache und dem Stil des Buchs niederschlägt. So gibt es in Evaristos Version des römischen Londinium Coffee to go, man trägt Baggy Tuniken oder „Puff Daddy Fabius blies die Tuba“ (S. 125). Hier verschmelzen Elemente des Gangstarap, des Versepos, lateinische Vokabeln und Floskeln mit einer zeitgenössischen Sprache, die diese Brüche ausgiebig zelebriert.

Die Kunst von Evaristo ist nun, dass sich trotz aller Brüche und Künstlichkeit des Ganzen der Versroman doch zu einem erstaunlich glaubwürdigen und gut lesbaren Ganzen verbindet, der nachvollziehbar und anschaulich von der Lebenswelt der jungen schwarzen Zuleika in einer feindlichen Umgebung erzählt.

Fazit

Fremdbestimmung, Emanzipation, die Kraft der Verführung und die notwendige Anpassung an immer neue Situation sind Themen, die dieses Buch kennzeichnen und die sich gerade durch die hochgradig artifizielle, von Tanja Handels fabulös ins Deutsche hinübergerettete Sprache von anderen Werken mit ähnlichen Themen abheben. Hier findet die Lebenswelt der Römer zusammen mit einer geradezu postmodernen Sprache, die von ihren Brüchen, Widersprüchen und kleinen Anspielungen von Shakespeare bis zur Bibel lebt.

Ein wildes Buch, dessen Themen und Sprache trotz seines vordergründig historischen Settings auch dreiundzwanzig Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen absolut zeitgemäß und entdeckenswert sind!


  • Bernardine Evaristo – Zuleika
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50238-1 (Tropen)
  • 264 Seiten. Preis: 25,00 €
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Percival Everett – James

In Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn blieb für ihn nicht viel Platz im Rampenlicht – dafür holt ihn der US-amerikanische Schriftsteller Percival Everett nun umso eindrücklicher nach vorne auf die ganz große literarische Bühne: die Rede ist vom Sklaven Jim, der in Everetts Roman James seine Lebensgeschichte erzählen darf und so literarische Würde und Würdigung erhält.


Es ist eine Szene, die Leserinnen und Leser aus Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn gut kennen. Zu beginnen verstecken sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn wie weiland Max und Moritz giggelnd vor dem Sklaven Jim, dem sie einen Streich spielen wollen. Der tumbe Mann bekommt zwar mit, dass sich da irgendetwas draußen in den Büschen vor der Veranda versteckt, aber statt der Sache auf den Grund zu gehen, schläft er ein und erwacht wenig später desorientiert und ist ein billiges Opfer des juvenilen Unsinns von Tom und Huck. So zumindest, wenn man Twains Variante der Ereignisse Glauben schenken darf.

Ganz anders ist es, wenn man nun James von Percival Everett liest. Auch er steigt mit der Szene ein, lässt sie aber durch die Augen von Jim selbst erleben, wie auch das gesamte Buch einen literarischen Gegenschuss zu Twains Klassiker darstellt.

Ein literarischer Gegenschuss zu Mark Twain

Hier ist es nun ein intelligenter und alerter Mann, der durchaus die Urheber des Streichs auszumachen vermag und der sich über seine zugedachte Rolle in dem ganzen Mummenschanz nur allzu bewusst ist – der diese Rolle aber spielt, weil er sie spielen muss.

Percival Everett - James (Cover)

Denn eigenes Denken und eigenmächtiges Tun sind Dinge, die einem Sklaven wie Jim in den Südstaaten der USA alles andere als gut zu Gesicht stehen. Er ist stets Verfügungsmasse seiner weißen Besitzer – wird im Lauf des Buchs aber zu seinem eigenen Herr und verwandelt sich vom unterwürfigen Diener zum Herren seiner selbst, der in einem letzten Akt der Selbstermächtigung schließlich auch seinen verstümmelten Sklavennamen ablegt und zu James wird sich damit als Individuum aus seiner Fremdbestimmung löst.

Auslöser dieses Prozesses ist der Umstand, dass Jim verkauft werden soll. Seine Besitzerin Miss Watson möchte ihren Sklaven veräußern, wovon er Kenntnis erlangt und in den Norden zu fliehen beschließt, um später seine Familie zu sich holen zu können.

„Was heißt das, Miss Watson will dich den Fluss runter verkaufen?“

„Ich bin’n Sklave, Huck. Sie kann mich verkaufm, wenn sie will. Un scheints will sie. Un eh sie das macht, musstich weglaufm.“

„Aber du hast ne Familie.“

„Heißt gar nix, wenn du n Sklave bist“

Percival Everett – James, S. 42

Auf der Flucht durch den Süden der USA

Beistand auf seiner Flucht erhält er von Huckleberry Finn, der sich dem flüchtigen Sklaven anschließt. Mal zusammen, mal getrennt erleben die beiden Abenteuer, wobei das Wort Abenteuer eigentlich zu positiv konnotiert ist für das, was den beiden widerfährt. So wird Jim verkauft, findet sich in der Gegenwart zweier Lügner und Betrüger wieder, muss auf einem Schaufelraddampfer oder einem Sägewerk Dienst tun und wird als Höhepunkt aller Täuschungen und Scharaden als hellhäutiger Schwarzer Teil einer Minstrel-Gruppe, in der sich Weiße per Blackfacing als Schwarze ausgeben, um sich über diese lustig zu machen.

Ähnlich wie auch Colson Whitehead in Underground Railroad ist auch James eine Reise durch den rassistischen Süden und dessen allgegenwärtiger Gewalt. Eine Reise, die immer wieder schaudern macht, wenn man mit James dessen Unterdrückung und Verfügung über seine Existenz miterleben muss, vor allem da dieser James alias Jim ein durchaus hellsichtiger Erzähler ist, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, im Kopf mit Voltaire debattiert und sein eigenes Martyrium schließlich zu Papier bringt, auch wenn der Preis dafür ein unmenschlicher ist.

James ist für mich eine Lektüre, die auch den Vorgängerroman Die Bäume zumindest für mich noch einmal deutlich zugänglicher machte, wo ich zuvor mit Everetts nachtschwarzer und reichlich überdrehter Racheburleske haderte. Aber wie er hier den Rassismus, die allgegenwärtige Gewalt gegen Schwarze, die Unterdrückung und die weithin etablierte Abwertung von Leben beschreibt, daraus folgt die Gewalt und Wut, die sich in Die Bäume Bahn bricht.

Sklaverei, Rassismus und die Macht der Sprache

Zudem – und vor allem ist James aber auch ein Roman, der die Kraft der Sprache und des geschriebenen, zuvorderst aber die Macht des gesprochenen Worts eindrücklich vor Augen führt. Denn während Jim für die Weißen die Rolle des tumben Schwarzen spielt, dessen Diktion wie im obigen Zitat verwaschen und ungebildet klingt, verfügt er doch über eine Gabe, die den Weißen völlig fehlt. Wie den anderen Sklaven ist es auch ihm möglich, zwischen den Sprachen hin- und herzuwechseln, seine Besitzer im Unklaren über seine wahre Geisteskraft zu lassen – und sich blitzschnell von Beredsamkeit und Belesenheit zu stammelnder Hilflosigkeit zu verwandeln. Es ist eine Mehrsprachigkeit, deren bedachter Einsatz Leben retten, in unbedachten Momenten aber auch für große Gefahr sorgen kann.

Das führt der im Buch angewandte Kunstdialekt vor Augen, für den Übersetzer Nikolaus Stingl eine eigene deutsche Sprachversion voller Verschleifungen und phonetischer Nachbildung von Wörtern gefunden hat, um so dem speziellen Südstaatenslang von Twains und damit auch Everetts Welt eine Entsprechung zu verleihen.

Könnte man auf den ersten Blick Everetts Vorhaben, einem der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Literatur und einen der zentralen Schlüsseltexte in der Geschichte dieses Landes eine literarische Antwort oder Gegenperspektive gegenüberzustellen, als vermessen abtun, zeigt James aber doch, welche neuen Räume und Sichtweisen ein solches Vorhaben durch eine gelungene Ausführung eröffnen kann.

James bleibt einerseits im historischen und literarischen Rahmen, weitet damit aber auch die Geschichte um die entscheidenden historischen und sozialen Aspekte, die in Twains Roman durch die gewählte Perspektive der beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht in dem Maße offenbar werden, wie sie es hier tun.

Fazit

Percival Everett gelingt sein großes Vorhaben bravourös. James ist eine Reise in die brutale und zutiefst rassistische Geschichte der Südstaaten. Dennoch scheint auch Hoffnung hier gleich in zweierlei Form auf. Zum einen im Leben James‘, der sich der Fremdbestimmung entgegenstellt – und in der Geschichte des Landes, da der Roman auch die Anfänge des US-amerikanische Bürgerkriegs schildert und der sich anschickt, eines der dunkelsten Kapitel der US-Historie zu überwinden.

Ein literarischer Gegenschuss zu einem Klassiker, der trotz alles historischem Rahmens doch auch in die Gegenwart hineinweist und eine der großen Bruchlinien der US-Gesellschaft auf fiktional höchst spannende Weise vermisst. Große Literatur!


  • Percival Everett – James
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27948-3 (Hanser)
  • 336 Seiten. Preis: 26,00 €
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