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Mein Gang auf den Zauberberg

Er ist ja eines der großen Monumente in der deutschen Literaturgeschichte: Thomas Manns epochemachender Monumentalroman Der Zauberberg. Ursprünglich als heitere Gegenstudie zu Der Tod in Venedig geplant, wuchs sich das Werk schnell zu einem formsprengenden Unternehmen aus. Inspiriert von einem Kuraufenthalt seiner Frau Katja in Davos und einem Besuch vor Ort wuchs das Werk immer weiter, ruhte, wurde überarbeitet, bis der tausendseitige Roman 1924 schließlich erschien. Und seitdem viele Schüler*innen, Germanistikstudent*innen und Leser*innen herausfordert und ab und an vielleicht sogar auch quält.

Respekteinflößend sicher schon allein der Umfang des eng gesetzten Werks, das sich durch seine Vielzahl an Ideen, Stellvertreterfiguren, Dialoge und philosophische Exkurse auszeichnet. Auch ich schreckte zugegeben etwas vor der Lektüre zurück, schließlich gab es immer schlankere Bücher, die eher gelesen und besprochen werden wollten. Aber im letzten Sommerurlaub packte ich mir schließlich auch Manns Monument in einer schmucken Retroausgabe des Fischerverlags in den Reisekoffer. Schließlich war die Premiere des Klassikers am hiesigen Augsburger Staatstheaters für den Herbst angesetzt. Dass sich das alles bis auf Weiteres verzögert, ist natürlich bedauerlich – aber in der Logik des Romans mehr als nur konsequent. Schließlich ist eines der großen Themen des Romans die Zeit. Ihre Eigenschaften, ihre Dehnung und Streckung, das Werden und Vergehen, all diesen temporalen Aspekten spürt Mann im Zauberberg nach.

Dass das Buch damit wie kein zweites in diese unsere Zeit passt, hat man nicht nur am Augsburger Staatstheater so gesehen. Auch am Deutschen Theater Berlin brachte Regisseur Sebastian Hartmann das Werk auf die Bühne, pandemiebedingt nur per Stream übertragen. Schon im Jahr zuvor hatte man in Zürich am Schauspielhaus den Roman auf die Bühne gebracht.

Ein digitaler Leseclub

Nun da die Premiere des Stücks weiter auf sich warten lässt, entschied man sich in Augsburg, die Zwischenzeit zu nutzen. Unter der Leitung von Tina Lorenz wurde ein digitaler Lesekreis ins Leben gerufen, um den megalomanischen Roman in der Gruppe zu bezwingen. Das ergibt Sinn, erfordert das Bezwingen eines solchen Prosa-Gebirges doch eine Seilschaft, mit der man die Mühen der Lektüre teilen kann. Diese fand sich dann auch zahlreich am ersten Abend im Januar ein. Nach technischen Schwierigkeiten zog man dann zur Besprechungssoftware Zoom um, wo sich über 80 Teilnehmer*innen einfanden. Am Ende war die Gruppe auf immer noch beachtliche 50 Leser*innen geschrumpft, die sich gemeinsam durch die Kapitel arbeiteten und diskutierten.

Postkarte aus Davos

Dabei wäre ich fast den Tücken des Zauberbergs erlegen. Beginnt bei Mann alles ja noch recht beschaulich, steigert sich mit dem Wandel Hans Castorps vom Besucher zum Patienten des Davoser Bergsanatoriums die Komplexität des ganzen Romans. Durch einige andere für die Arbeit und sonstige Aufgaben zu lesenden Bücher verlor ich im Januar den Anschluss. So galt es dann im Stechschritt wieder über 400 Seiten aufzuholen. Bei der Qualität der dicht gesetzten Prosa Manns und der ganzen Ideenfülle wahrlich keine leichte Aufgabe. Aber schlussendlich gelang es mir dann doch, den Anschluss herzustellen. Erleichtert wurde das auch durch die Struktur der Abende.

So erzählten zunächst Schauspieler von ihren Bezügen zu den Figuren, der Regisseur und Schauspielmusiker gaben Einblicke. Auch die wissenschaftliche Seite des Zauberbergs wurde beleuchtet. Ein Germanistikprofessor äußerte Einschätzungenzum Figurenensemble und den Zeitkontexten und eine Medizinerin referierte über die Tuberkulose. Im Anschluss setzte man sich in Kleingruppen mit dem Gelesenen und Gehörten auseinander.

Augsburg, Porto, Davos

Und auch wenn kein digitales Format ein Treffen ersetzten kann, so hat das Digitale doch auch unbestreitbare Vorteile. So entwickelte sich der hier in Augsburg geplante Club zum paneuropäischen Projekt. Mitglieder aus der Schweiz, gar eine Leserin aus Porto nahmen an den digitalen Treffen teil. Der bereichernde Austausch sowie der motivierende Charakter des Gruppenerlebnissen prägten meinen ersten digitalen Literaturclub. Zudem passte die Lektüre als Vorbereitung auf die Theateradaption ebenso gut zur geplanten Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. In dieser wird der Mythos Davos ergründet, wobei die künstlerischen Werke Thomas Manns und Ernst Ludwig Kirchners im Mittelpunkt stehen. Eigentlich hätte die Ausstellung am 18.02. starten sollen. Doch die Corona-Regeln und gerissenen Inzidenzwerte machten einen Zugang zur Ausstellung bislang zunichte. Zumindest digital gibt es einstweilen aber auch hier spannende Einblicke zu entdecken.

So hat dieser Lesekreis und die digitale Ausstellung für mich die Wartezeit auf das Comeback kultureller Veranstaltungen gut überbrückt. Entdeckt habe ich einen Roman, mich durch seinen Humor und den ganz eigenen Erzählton überrascht hat. Gewiss, Der Zauberberg ist keine leichte Lektüre, stellenweise zäher als ein ganzer Stapel Leder. Abschweifend, rabulistisch bis ermüdend in den Kolloquien Settembrinis und Naphta. Schon alleine aufgrund des Handlungszeitraums von sieben Jahren mehr als ambitioniert. Manchmal verrätselt, dann wieder anspielungsreich, überbordend, pulsierend, literarisch vielstimmig. Zudem mit einem herzzerreißenden Ende versehen, einem der besten der Literaturgeschichte.

Fazit

Der Zauberberg ist für mich ein Roman, der unvergessliche Figuren präsentiert (am großartigsten für mich die Passage, in der die ungebildete Frau Stöhr ausruft, man möge beim Begräbnis Ziemßens eine heldenhafte Musik spielen, die „Erotika“ Beethovens böte sich doch an). Ein Buch, das eine längst vergangene Welt noch einmal detailliert auferstehen lässt. Das ein Sanatorium irgendwo zwischen mondänem Hotel und Kuranstalt zeigt, Eines, das das Fin de Siécle gekonnt beschreibt. Und ein Buch, das um die Themen Liebe, Krankheit, Zeit, Tod, Krieg, Aufklärung , Medizin und Humanismus kreist, um nur einige zu nennen. Die literarische Meisterschaft ist jeder Seite eingeschrieben und zurecht gilt Der Zauberberg einer der großen Marksteine deutscher Literaturgeschichte. Und gemeinsam war der Gang auf den Berg dann alles andere als schlimm. Durch die Stückelung des Ganzen über elf Termine, den gemeinschaftlichen Ausstausch und den bereichernden Seitenblicke hat dieses Leseerlebnis wirklich noch einmal gewonnen.

Wer nun nun neugierig geworden ist: im Mai wird es eine zweite Ausgabe des Lesekreises geben. Dann widmet man sich einem weiteren Klassiker, den man gelesen haben sollte (ich aber einmal mehr bislang versäumt habe). Es geht dann um Lew Tolstois Anna Karenina. Mitmachen kann man wieder von überall aus. Die Termine gibt es dann auf der Homepage des Staatstheaters. Ich bin schon gespannt!

[Bildquellen: GNM Nürnberg]

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Auf Schmugglerpfaden

Matteo Righetto – Die Seele des Monte Pavione

Italien und der Anbau von Tabak. Zwei Dinge, die man nicht automatisch in Verbindung miteinander setzt. Ich assoziiere Tabak stets mit Südamerika und erfuhr erst durch Matteo Righettos Buch von der Geschichte des Tabakanbaus in Italien. Und tatsächlich ist es so, dass auch heute noch in verschiedenen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, Tabak angebaut wird. Der Anbau wird sogar von der EU subventioniert, allerdings gilt die Aufzucht der Tabakpflanze als kaum rentabel.

Matteo Righetto - Die Seele des Monte Pavione (Cover)

Wie aufwändig das Geschäft mit dem Tabak ist, das erfährt man auch in Die Seele des Monte Pavione. In diesem Roman schildert Righetto das Leben einer Familie von Tabakpflanzern, die im Norden Italiens an der Grenze zu Südtirol leben. Man schreibt das Ende des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Industrialisierung auch in dieser Region langsam Einzug hält, geht in Nevada alles noch einen anderen Takt. Augusto de Boer pflegt zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern die Tabakpflanzungen, die nur einen kümmerlichen Profit abwerfen. Genau von Behörden kontrolliert obliegt dem Mann die Aufzucht und Trocknung der begehrten Blätter.

Doch das Auskommen aus dem Verkauf der Tabakblätter reicht hinten und vorne nicht. Und so bedient sich Augusto kreativer Möglichkeiten, um das Einkommen der Familie zu verbessern. Wie andere Bauern in der bergigen Grenzregion verdient er sich beim Schmuggel von heimlich abgezweigter Tabakgüter etwas dazu. Nur so kann er sicherstellen, dass seine Familie genug zu essen hat, wenn saisonal bedingt keine Aufzucht der Tabakpflanzen möglich ist. Doch dann passiert es: von einem seiner Schmuggelgänge nach Österreich kommt er nicht wieder. Und so obliegt es nun seiner ältesten Tochter Jole, die Schmuggeltätigkeit des Vater aufzunehmen.

Righettos Schilderungen der Natur

Von diesem Schmuggelgang erzählt Righetto in seinem Buch in einer romantischen, manchmal fast märchenhaft anmutenden Sprache. Ein ums andere Mal auch knapp an der Grenze zum Kitsch entlanggeschrammt.

Der Himmel füllte sich mit Sternen, leuchtend hell, schön und frei. So schön und erhaben dieser Augenblick war, fühlte Jole doch mit plötzlicher Bitterkeit ihre Einsamkeit und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Und es kam ihr so vor, als weine das Firmament über ihr ebenfalls.

Righetto, Matteo: Die Seele des Monte Pavione, S. 184

Gewiss, man sollte eine gewisse Toleranz für Pathos, klopfende Spechte, wisperndes Gras und einfach gezeichnete Figuren mitbringen. Aber wer zu einem Buch mit dem Titel Die Seele des Monte Pavione greift, bringt diese Toleranz wahrscheinlich auch mit. Wie schon vor ein paar Jahren, als Paolo Cognetti mit Acht Berge ein Überraschungserfolg und veritabler Longseller gelang, rückt auch hier sein Landsmann Righetto die innere Reifung und die Naturerfahrung in unwirtlicher Umgebung in den Mittelpunkt. Durch die gefährliche Schmuggeltour, auf die sich Jole notgedrungen begibt, reift die junge Frau und lernt auch sich im Kampf der Bergwelt Südtirols kennen. Den Monte Pavione, der die Wegscheide auf dieser Tour darstellt, inszeniert Righetto mit geisterhaft brausenden Winden als eine Art italienischen Untersberg. Und auch sonst ist die unberührte Natur der zweite große Hauptdarsteller neben Jole.

Zwar hört man von drunten im Tal schon die Bauarbeiten der Eisenbahn heraufklingen. Aber von Jole und ihrem Pferd, die sich oben am Berg auf den Schmugglerpfaden bewegen, ist dies alles denkbar weit entfernt. Eine Szene mit Aussagekraft. Hier lässt jemand noch einmal die Naturidylle aufleben und taucht in die archaische Bergwelt Südtirols ein.

Dieses Buch trifft einen Nerv der Zeit – auch bei mir. Die entschleunigte Lektüre, die trotzdem nicht vergisst, die Handlung voranzutreiben und die bildreichen Naturbeschreibungen – sie gelingen Righetto sehr gut. Oder um es mit der Bergmetaphorik auszusprechen: Righetto ist ein erzählerischer Wanderer, der für seine Tour das richtige Tempo anschlägt und nur wenige Mal neben seinen Pfad in die Abgründe des Kitsches tritt.


  • Matteo Righetto – Die Seele des Monte Pavione
  • Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
  • ISBN: 978-3-89667-616-0 (Blessing)
  • 240 Seiten, 20,00 €
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Auf Murmeljagd

Gibt es einen schlechten Zeitpunkt, um ein Buch über die Schrecken des Dritten Reichs zu veröffentlichen? Offensichtlich ja, wie der Fall Ulrich Becher zeigt. Er entschied sich nämlich, sein Opus Magnum, den 700-seitigen Roman Murmeljagd, 1969 zu veröffentlichen. Ein Buch, das sich mit Flucht, Terror und Menschenjagd auseinandersetzt – das aber kaum jemand lesen wollte. Die 68er-Bewegung hatte ihre Wirkmacht noch nicht entfaltet, die Ohrfeige Kurt Georg Kiesingers durch Beate Klarsfeld lag gerade einmal ein Jahr zurück. Sich literarisch mit den Schrecken der Jahre 33-45 auseinanderzusetzen, das stand für die damalige Gesellschaft noch nicht wirklich auf dem Programm, die Phase der Exilliteratur war schon vorbei.

Und so blieb auch Ulrich Becher mit seinem Buch der Erfolg und die Aufmerksamkeit verwehrt. Ein Status, der sich bis heute nicht wirklich geändert hat. Ulrich Becher? Eher kennt man noch Johannes R. Becher, expressionistischer Dichter und Schöpfer der DDR-Nationalhymne. Aber Ulrich Becher? Dieser Name lässt wohl höchstens bei Germanisten und eingefleischten Literaturkenner*innen die Glocken läuten, wie auch Eva Menasse in ihrem Nachwort zur Neuauflage der Murmeljagd bemerkt.

Schon einmal wagte Schöffling im Jahr 2010 eine Neuauflage dieses apokryphen Klassikers. Nun, zehn Jahre später gibt es wieder einen Versuch, Bechers Buch dem geneigten Publikum nahezubringen. Diesmal publiziert der Verlag zudem auch noch die New Yorker Novellen, die zwanzig Jahre vor der Murmeljagd entstanden. Ähnlich wie im Falle Gabriele Tergits oder Jens Rehns versucht Schöffling auch hier eine Wiederentdeckung eines Buch, das in einer gerechten Welt ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden wäre – und das bei allen Schwächen, die dem Buch auch zweifelsohne innewohnen.

Albert Trebla wird gejagt

Held von Bechers monumentalen Roman ist der Jagdflieger Albert ***, der sich in seiner Funktion als Journalist den Palindromnamen Albert Trebla zugelegt hat. Im Ersten Weltkrieg diente er als Aufklärungsflieger. Bei einem seiner Einsätze kam er einem feindlichen Flugzeug zu nahe, sodass er einen Kopfschuss kassierte. Nach einem Lazarettaufenthalt hilft ihm nur noch Ephedrin, um den oftmals pochenden Schmerz der Stirn zu betäuben.

Ulrich Becher - Murmeljagd (Cover)

Jener Trebla hat dem Krieg abgeschworen, er ist zum linken Journalisten geworden. Doch nun, zwanzig Jahre nach seinem Abschuss über den Wolken, dräut der Zweite Weltkrieg am Horizont. Die Nazis haben die Macht übernommen, Säuberungswellen und Gleichschaltung bedrohen Menschen wie Trebla. Und so entkommt er mithilfe eines waghalsigen Skimanövers über Vorarlberg in die Schweiz. Den SS-Patrouillen entgeht er nur um Haaresbreite. Dort in der Schweiz wartet seine Frau Xane auf ihn.

Da er unter dem tückischen Heufieber leidet, ist eine Tarnung kein Problem. Er zieht sich als Hotelgast zur Heufieberkur ins Engadiner Oberland zwischen Pontresina und Sils Maria zurück. Dort, in der abgeschiedenen alpenländischen Bergwelt möchte er zur Ruhe kommen. Doch damit ist es nicht weit her. Denn das Engadin wird von einer Reihe merkwürdiger Selbstmorde erschüttert. Immer ist es Trebla, der sich in unmittelbarer Nähe der Suizidanten befand. Zudem begegnet Trebla merkwürdigen Hotelgästen, die sein Misstrauen wecken. Sind es wirklich harmlose Murmeltierjäger, die im ladinischen Gebirge umhersteigen? Oder ist Trebla selbst das Murmeltier, auf das Jagd gemacht wird?

Engadiner Gestalten

Wie es sich anfühlt, wenn man aufgrund seiner politischen Einstellung zur unerwünschten Person und zur gejagten Figur wird, davon weiß Ulrich Becher eindrücklich zu berichten. Changierend zwischen bedrohlicher Stimmung und Komödiantentum, zwischen Tod und Kalauer durchlebt sein Trebla ein wahres Wechselbad der Gefühle. Zusammen mit seiner Frau begegnet er höchst skurrilen Gestalten, die Bechers Engadin bevölkern. Ein Cocker Spaniel-züchtender und dem Alkohol fröhlich zusprechender Landanwalt, genannt Avoccato Wau Wau. Ein ehemaliger irischer Jockey. Ein Berliner Schlossbesitzer, ein Arzt namens Dr. Pompejus Tardüser. Dieser Roman ist voller Figuren, die auf mysteriöse Art und Weise aus dem Leben scheiden oder bei denen lange nicht klar ist, was sie Trebla so wollen.

Dieser hetzt fiebrig durchs Engadin, immer mit Druck auf der Brust und der dräuenden Gefahr im Nacken. Dabei entstehen Szenen, die man nach dem Lesen nie wieder vergisst. So erzählt Becher vom brutalen Umgang der Schergen im KZ, vom Todesritt eines vormals weltbekannten Clowns in die Elektrozäune des KZ Dachaus oder dem brutalen Tod von Treblas bestem Freund, einem Wiener Arzt, durch jugendliche Nazischergen in einem Viehwaggon. Diese Bilder, die Becher in Murmeljagd zeichnet, sind von einer unfasslichen Wucht. Ihm gelingt in diesem Buch einer Meisterwerk der nuancierten Stimmungen, die von dramatischen Todesfällen bis zu schwarzem Humor reicht. Da stören auch die paar erzählerischen Volten, die das Buch beständig schlägt, nicht wirklich.

Und damit ist der wichtigste Punkt, der dieses Buch eigentlich kanonwürdig macht, noch gar nicht angesprochen. Es ist der Punkt der Sprache. Beziehungsweise der der Sprachgewalt. Denn Murmeljagd ist zuvorderst ein Sprachmeisterwerk im Guten wie im Schlechten. So ist die Erzählweise Bechers mit dem Adjektiv expressionistisch noch kaum erschlagen. Es ist ein Buch, das knallt, das explodiert, das sprüht, das fordert, oftmals auch überfordert und das zeigt, wozu Sprache im Stande ist.

Ein Meisterwerk der Sprache

Die größte Hürde dürften dabei schon die ersten Seiten sein, zumindest mir erging es so. Was da über die Seiten purzelt, könnte so manch eine*n veranlassen, das Buch wieder zuzuklappen und wegzulegen. Und das wäre ein Fehler. Denn Ulrich Becher zeigt hier über 700 Seiten, wie vielfältig Sprache ist, wie sie eine Geschichte bereichern und veredeln kann. Denn die Virtuosität des Meisterschülers von Georg Grozs ist unerhört. Eine Virtuosität, die manchmal auch nerven und überfordern kann, wie auf den ersten Seiten dieses Romans. Manchmal wirkt Becher wie ein naseweises kleines Kind, das alles zeigen will, was es kann. Da stecken Seiten voller Fix Laudon!, ausgeschriebener Ja-Jotts, Ka-Zetts und Ess Ess, die Charaktere geben sich häufig unterschiedlichste Kosenamen, sämtliche Dialekte werden ausgeschrieben, egal ob österreichisch, berlinerisch oder schweizerisch.

Dann gelingen Becher auch wieder Passagen, die man einfach nur bewundern kann, so etwa wie diese.

Der Berge Elefantengrau hatte mittlerweile einen Malventon angenommen, aber vom Berninapass herüber züngelte Homers „Rosenfinger der Frühe“. Spielten auf einem Firnzipfel Piz Palü, indes überm Rosatscheine formlose Ampel schwebte, der zur Sichel geschrumpfte Junimond verwischte hinter einer Federwolke, seit Tagen der erste überm Hochtal. Kein Kuhglockenklimpern, kein Vogelzwitschern, Verhallen zweier Schläge von der Pfarrkirche her, halb vier, eines schläfrig-heisern, fast grunzenden Hahnenschreis, der ohne Antwort blieb. Trotz des lästigen Tocketocke – ohne es wäre die Stille beispielslos geweisen – rührte ich mich nicht von der betonierten Stelle, als er herangetragen wurde, der unwirklich sachte Pfiff.

Becher, Ulrich: Murmeljagd, S. 581

In einer Zeit, in der viele Bücher in einer uniformen und austauschbaren Sprache geschrieben scheinen, ist Murmeljagd ein Buch, das zeigt, wie das auch aussehen könnte, mit spannender Sprache. Die Vielfalt, die in diesem Buch steckt, ergäbe genug Material für ein ganzes dutzend spannender Forschungsprojekte (an dieser Stelle sei auch auf das mehr als hilfreiche Online-Projekt zur Murmeljagd von Dieter Häner hingewiesen).

Neugier und Wille zu Bechers Stil ist vonnöten

Natürlich ist Ulrich Bechers Buch eines, das viele Leser*innen überfordern dürfte. So etwas wie Entspannung und Zerstreuung findet sich hier nicht, zu fordernd ist der Stil, zu düster das Thema. Auch erklärt sich so der Status des Buchs, den die Murmeljagd bis heute besitzt.

Wer sich aber auf dieses Wagnis der Jagd einlässt, bekommt es mit einem der außergewöhnlichsten Bücher der jüngeren deutschen Literatur zu tun. Und nicht zuletzt ist auch die Figur des Ulrich Bechers auch eine hochgradig faszinierende. Schließlich zählt er zur Garde der Exilautoren, er war der jüngste Schriftsteller, dessen Werke von den Nazis 1933 verbrannt wurden. Sein Leben und sein heute fast vergessenes Werk verdienten auf alle Fälle einer Wiederentdeckung.

Schön dass Schöffling nun noch einmal von Eva Menasse sekundiert einen Versuch für dieses Werk startet. Denn die Murmeljagd hat es verdient. Hier gilt auf alle Fälle: wer wagt, der gewinnt. Sieht auch die geschätzte Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze so.

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Paolo Cognetti – Acht Berge

Die Berge als Sehnsuchtsort – davon erzählt Paolo Cognettis Roman Acht Berge. Manch einer mag dieses Phänomen kennen – man steht am Fuße eines Berges, schaut hinauf und irgendetwas in einem zieht einen dort hinauf. Das Leben am Berg erscheint einfacher, entschleunigt und löst große Sehnsucht aus. Der Bergsteiger Heinrich Harrer fasste das einmal in die Worte: „Wenn ich die Zivilisation hinter mir lasse, fühle ich mich sicherer“.

Acht Berge – Paolo Cognetti

Paolo Cognetti füllt diese Worte mit Leben, indem er von zwei ganz unterschiedlichen Menschen erzählt, deren beider Lebensentwürfe von Bergen dominiert werden. Es ist die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers Pietro und seines besten Freundes Bruno. Die beiden freunden sich als kleine Kinder im Bergdorf Grana an, in das Pietro mit seinen Eltern jeden Sommer zurückkehrt. Pietros Vater weckt in ihm die Leidenschaft, die Berge zu bezwingen und sämtliche Gipfel der Dolomiten und darüber hinaus zu erklimmen. Bruno ist ein einfacher Bauernsohn im Dorf, der stets die Vision eines Lebens als Bergbauer in sich trägt.

Cognetti beobachtet nun im Lauf des lediglich rund 240 dicken Büchleins die Leben dieser beiden Männer, die sich immer mal wieder voneinander entfernen, um dann wieder am Berg zueinanderzufinden. Mehr soll vom Inhalt an dieser Stelle gar nicht verraten werden, um die Freude der Lektüre nicht zu schmälern.

Eine zutiefst berührende Lektüre

Acht Berge ist eine der bislang größten Entdeckungen dieses Bücherherbstes für mich. Obwohl das Buch nun wahrlich nicht umfangreich ist, stecken so viele Themen in diesem Buch, sodass es zu den inspirierendsten und nachdenklichsten Bücher zählt, denen ich in meinem Bücherschrank Obdach gewähren darf. Allein schon die zarte Schilderung des Verhältnisses von Pietro zu seinem Vater ist wunderbar gelungen. Auch sitzen alle anderen Wörter und Sätze an den Stellen, an denen sie es tun sollen und funktionieren aufs Beste (die Übersetzung verdankt man Christiane Burkhardt). Man könnte das Ganze auch als pathetisch, Kitsch oder sentimental schelten, für mich haben in Acht Berge allerdings Inhalt und Sprache wunderbar und sehr stimmig zueinander gefunden.

Paolo Cognettis Buch ist von einem berührenden Ton durchzogen, der mich oftmals innehalten und Passagen auch noch einmal lesen ließ. Wie unauffällig es dem Italiener gelingt, alle wichtigen Fragen des Lebens auf diesen wenigen Seiten zu verhandeln eben ohne in jenen Coelho-haften Kitsch oder Pathos abzugleiten, das nötigt mir Respekt ab. Dem Buch sind unzählige Leser zu wünschen, da Cognettis Themen universell sind und alle LeserInnen betreffen, egal ob Väter, Söhne, Bergliebhaber, Sinnsucher, Alpinisten oder alle, die besondere Bücher zu schätzen wissen. Ein wirkliches Kleinod mit einer nachdrücklichen Leseempfehlung!

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Jörg Maurer: Unterholz

Auf der Alm, da gehts kriminell zu

Wer hat’s geschrieben: Jörg Maurer, Musikkabarettist und versierter Krimischriftsteller. Gewann bereits Preise für seine Kurzgeschichten und hat schon vier Jennerwein-Krimis geschrieben.

Worum geht’s: Diesmal sind wird im ungenannten Kurort auf der Wolzmüller-Alm zu Gast. Dort trifft sich eine klandestine Gruppe gedungener Gestalten, um über Themen wie Optographie und ähnliche nebulöse Themen gebildet zu werden. Während der Tagung verscheidet nun plötzlich eine der Teilnehmerinnen und die Gäste machen sich aus dem Staub. Kommissar Jennerwein muss erkennen, dass es auf der Alm zwar keine Sünde gibt, dafür aber offensichtlich Mörder. Sein Team versucht die Spuren der Toten zu rekonstruieren und Licht ins Dunkel um die Vorgänge auf der Wolzmüller-Alm zu bringen.

Warum sollte man es lesen: Jörg Maurer schafft den Spagat zwischen Lokalkrimi und Literatur mit Anspruch. Dennis Scheck äußert sich auf dem Umschlag positiv über den Autoren und adelt somit die Schreibe Maurers. Gekonnt unterhält der Autor mit Pointen (die in den meisten Fällen auch zünden) und hoher Sprachkunst. Zwar bleiben die Charaktere wie gewohnt etwas blass, doch dafür schlägt die Handlung Volten und speist sich aus zahlreichen Einzelsträngen, die insgesamt ein recht stimmiges Gesamtbild ergeben.

Was nicht geht: Das Buch lesen, ohne Spaß zu haben. Wie das Cover bereits suggeriert, nimmt das Buch nichts so richtig ernst, wahrt aber immer noch so viel Respekt, dass das Buch insgesamt ein veritabler Krimi bleibt.

Wem gefällt das: Den Lesern, die bereits Föhnlage, Hochsaison, Niedertracht und Oberwasser verschlungen haben. Und allen, die einen nicht bierernsten Sozialkrimi lesen wollen, sondern einfach mal für ein paar Stunden gut unterhalten werden wollen.

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