Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies

Im Oktober des vergangen Jahres ließ sich eine bemerkenswerte Beobachtung machen. Kollektives Schweigen und Kopfschütteln, das bis hin zu völliger Ignoranz reichte, nachdem aus Stockholm die Kunde des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers in unsere Gefilde vordrang. Abdulrazak wer? Kein Buch lieferbar, kein bekannter Titel, der im Feuilleton groß besprochen wurde – es konnte sich also nur um einen Fehler des Komitees handeln. Schnell war eine Erklärung bei der Hand – hier habe sich die Jury wohl nur für Zeitgeistiges und Politisch Korrektes entschieden, eher eine politische denn literarische Wahl, die man getrost ignorieren könne. So die selbstsicheren Kommentare, die aus dem Feuilleton zu vernehmen waren. Katharina Herrmann hat das Ganze in ihrem Artikel Die Borniertheit der Bauchnabelfluse sehr eindrücklich herausgearbeitet.

Ich hingegen war ganz gespannt ob dieser Verkündung. Ein mir völlig unbekannter Autor mit dem Schwerpunkt auf afrikanischer Geschichte? Welch schöne Abwechslung zu meinem so westlich geprägten Leseverhalten, bei dem mir Titel vom afrikanischen Kontinent eher selten unterkommen. Und nachdem dann im Dezember der erste Titel von Abdulrazak Gurnah in deutscher Übersetzung wieder zugänglich war, machte ich mich an die Lektüre.

Eine überkommene Übersetzung

Das verlorene Paradies, im englischen Original mit Paradise etwas bündiger gehalten, ist ein Roman von Gurnah aus dem Jahr 1994. Die deutsche Übersetzung von Inge Leipold stammt aus dem Jahr 1996 und wurde für die Neuauflage sorgsam durchgesehen, wie es in der Editorischen Notiz am Ende des Buchs heißt. Auch erklärt der deutsche Verlag hier die bisweilen rassistischen und herabwürdigenden Begriffe noch einmal als Figurenrede. Eine Erklärung, die man vor 26 Jahren noch vergeblich in dem Buch gesucht hätte. Hier lässt sich deutlich eine Entwicklung in Sachen Sensibilisierung ablesen – leider vermisst man diese Entwicklung in der Übersetzung, die sich für mich oftmals schwerfällig und besonders im Streben nach gehobener Ausdrucksweise im Mündlichen unfreiwillig komisch und antiquiert las.

So unterhalten sich hier gerne einmal zwei junge Männer, eher Teenager, die Sätze mit „Gleichwohl“ einleiten. Dinge tun hier not oder man scheltet sich. Auch völlig überkommene Begriffe wie etwa der Terminus „Unflat“ anstelle von Schmutz oder Unreinheit ließen mich stutzen. Ohne das englische Original zu kennen, beschlich mich während der Lektüre der Eindruck, dass es hier wohl eine Neuübersetzung mit einem in der afrikanischen und deutschen Begriffswelt firmen Übersetzer oder Übersetzerin gewesen wäre, die not getan hätte, um einen optimalen Zugriff auf den Text zu schaffen. Und auch wenn es dann ein paar Monate mehr gedauert hätte, um eine sorgfältige und auf der Höhe der Zeit stehende Übersetzung in Händen zu halten – ich hätte sie mir gewünscht. Aber ökonomische Überlegungen. öffentliches Interesse und die Rechtesituation dürften ihr Übriges dazu getan haben, dass wir nun eben Leipolds Übersetzung aus dem Jahr 1996 zu lesen bekommen. Aber sei’s drum.

Der afrikanische Blick auf unsere koloniale Vergangenheit

Abdulrazak Gurnah - Das verlorene Paradies (Cover)

Es ist ja neben der Form auch der Inhalt, der zählt. Und hier erweist sich Abdulrazak Gurnahs Werk als spannendes Antidot zu unserem historisch-kolonialistischen Blick auf Afrika. Denn Das verlorene Paradies bekommen wir aus der Sicht von Yusuf geschildert, einem jungen Afrikaner muslimischen Glaubens, der in Ostafrika aufwächst. Wir schreiben das Ende des 19. Jahrhunderts und alles geht seinen gemächlichen Gang. Doch als sich Yusufs Vater verschuldet, gibt er seinen Sohn als Pfand in die Hände von Onkel Aziz, einem umtriebigen Händler.

Dieser parkt Yusuf im Laden von Khalil, den er bei seiner Arbeit unterstützen soll. Doch schon bald wird Yusuf abermals aus dem neuen Umfeld gerissen, da er zusammen mit Aziz und dessen Kolonne auf eine Handelsreise gehen soll. Der Junge sieht neue Städte, Menschen und Lebensweisen, die ihm seine eigenen engen Grenzen deutlich vor Augen führen. Eine dieser Expeditionen wird dann zum großen Desaster, das Yusuf dann aber auch zum ersten Mal eine Vorahnung auf die große Liebe gibt.

Und über allem schwebt die Herrschaft der Europäer, die sich in Yusufs Umgebung immer deutlicher abzeichnet. Die Europäer setzen ihren Machtanspruch blutig durch, bevormunden die lokale Bevölkerung und zeigen Härte. So ist es etwa dem Mechaniker Kalasinga widerfahren, der für einen Europäer einen Generator reparieren sollte und dessen Expertise nicht wirklich zählte, wie er in einem abendlichen Gespräch preisgibt. Stattdessen wurde er vom Hof gejagt und Hunde auf ihn gehetzt. Ein Motiv, das sich im Buch noch öfter wiederholen soll und das vor allem in der Schlusspointe eindrücklich wirkt.

Fazit

Das verlorene Paradies zeigt dem Feuilleton und uns Leser*innen, dass hier eben kein Autor ausgezeichnet wurde, der biedere und brave politisch korrekte Literatur fabriziert, wie des Öfteren insinuiert. Hier schreibt ein Autor mit eigener Stimme, der uns Afrika aus den Augen seiner eigentlichen Bewohner zeigt, der den Schmelztiegel von Ethnien vielstimmig inszeniert und der eine Welthaltigkeit in die hiesige Literaturszene bringt, die uns allen nur guttun kann.

Dieser Abdulrazak Gurnah hat etwas zu sagen – mit diesem Buch vor allem uns Deutschen, deren koloniale Vergangenheit hier immer wieder durchscheint. Und wenn dessen Botschaften in den kommenden Veröffentlichungen noch eine zeitgemäße Sprache in Form von guter Übersetzungsarbeit zupass kommt, dann habe auch ich gar nichts mehr zu mäkeln (oder zu schelten, um in der Begrifflichkeit dieses Buchs zu bleiben).


  • Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies
  • Aus dem Englischen von Inge Leipold
  • ISBN 978-3-328-60258-3 (Penguin)
  • 336 Seiten. Preis: 25,00 €
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