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Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit

Treibend im Meer der Erinnerung, vielleicht sogar unter Mordverdacht stehend: in seinem neuen Roman Jenseits aller Zeit taucht der irische Autor Sebastian Barry tief in das Leben eines pensionierten Polizisten ein. Der Besuch zweier Kollegen weckt beim ehemaligen Ermittler Erinnerungen an Geschehnisse aus längst vergangenen Tagen. Was schlummert da alles in den Tiefen des Gedächtnisses von Tom Kettle? Sebastian Barry legt es lesenswert frei.


Dass es stürmt und der Regen fast senkrecht gegen die Scheiben von Tom Kettles Wohnung peitscht, als dieser auf den ersten Seiten von Sebastian Barrys Roman Jenseits aller Zeit Besuch bekommt, ist hochsymbolisch. Denn es sind zwei Kollegen, die vor der Tür des pensionierten Polizisten in Dalkey stehen. Mit sich bringen die beiden Kollegen nicht nur das Unwetter, sondern auch eine Akte, die in Tom Kettle einen Sturm der Erinnerung entfesseln wird.

Ein Sturm der Erinnerung

Was es mit dieser Akte auf sich hat, das erschließt sich erst langsam, denn Sebastian Barry setzt für seinen Roman auf einen Erzählstil, der stark von der Technik des Bewusstseinsstroms beeinflusst ist, wie ihn sein Landsmann James Joyce oder auch seine britische Kollegin Virginia Woolf einsetzten. Immer wieder gleiten die Gedanken von Tom aus der Realität ab, findet sich der mittlerweile Sechsundsechzigjährige in Erinnerungen an sein Leben wieder. Immer tiefer taucht der pensionierte Polizist dabei in das Reich der Vergangenheit ab, wie es auch das vom Steidl-Verlag ersonnene Cover beschreibt.

Es ist ein Reich, in dem der Takt und die Gesetzmäßigkeit anderen Regeln unterliegen.

Wenn genug Zeit vergeht, ist es so, als wären die alten Dinge nie geschehen. Dinge, früher frisch, unmittelbar, erschreckend, entschwinden in eine Zeit jeseits aller Zeit, wie die Wanderer, die am Killiney Strand so weit spazieren, dass sie, wenn man sie lange genug beobachtet, nur noch ein schwarzer Fleck sind, und dann sind die fort. Vielleicht sehnt sich diese Zeit jenseits aller Zeit nach der Zeit, als sie nur Zeit war, so wie die Zeit auf dem Zifferblatt einer Wand- oder Armbanduhr. Aber das bedeutete nicht, dass sie herbeizitiert werden konnte oder sollte. Er war gebeten worden, in seinem Gedächtnis zu wühlen, als ob ein Mensch das wirklich vermochte.

Sebastian Barry – Jenseits der Zeit, S. 180

Langsam legt Sebastian Barry aus den Erinnerungen und Gedankenschleifen den Charakter Tom Kettle frei. Biografische Wegmarken wie sein tödliches Tun einst im Krieg in Malaya, das Schicksal seiner Familie und das aktuelles Leben des Ruheständlers in seiner höhlenartigen Einliegerwohnung im Wohnensensemble einer viktorianischen „Burg“ dort im Süden von Dublin, das schält sich immer klarer im Lauf des Buchs heraus.

Jenseits aller Zeit – und auch jenseits des Rechts?

Sebastian Barry - Jenseits aller Zeit (Cover)

Dabei ist es mit der Klarheit aber so eine Sache. Was ist wahr, was sind Einbildungen und was die Realität? Jenseits aller Zeit lässt Gewissheiten verschwimmen, etwa wenn Tom Kettle den Besuch seiner ehemaligen Kollegen im Polizeirevier in Dublin schildert. Dass sich Ganze sich dann aber als reine Vorstellung jenseits der Realität entpuppt, die der Rentner im Park St. Stephens Green gesponnen hat, ist nur ein Indiz für die Unzuverlässigkeit von Toms Erzählen.

Was aber klar ist, ist dass dieses Buch eine Abrechnung mit dem System des Missbrauchs der katholischen Kirche in Irland im 20. Jahrhundert darstellt. Denn dieses Thema dominiert das ganze Buch und die Erinnerungen Tom Kettles. Nicht nur das Anliegen, das initial die beiden Polizisten inmitten des Sturms die Einliegerwohnung Kettles führt, hat mit diesem Thema zu tun. Auch er selbst und seine Frau haben ihre Erfahrungen mit dem Missbrauch in Kirche und kirchlichen Heimen gemacht, der sich dutzendfach dort abspielte und bei dem Behörden und Kirchenleitung gerne wegsahen und sich weigerten, Fälle des sogenannten Crimen Pessimum nachzuverfolgen. Doch hat Tom eventuell selbst daran einen Anteil, diese Missstände auf Wegen abseits des Rechts zu lösen?

Ein gesellschaftskritisches Werk – und die Fortschreibung von Sebastian Barrys literarischem Kosmos

Jenseits aller Zeit fügt sich ein in die Riege gesellschaftskritischer Werke, mit denen irische Schriftsteller*innen die Auswirkungen des vielfachen Missbrauch der katholischen Kirche und des dahinterliegenden Systems der Deckung dieser Taten aufarbeiten. Autoren wie John Boyne oder Claire Keegan untersuchten dieses Thema bereits auf unterschiedliche Weise – und auch Sebastian Barry reiht sich nun in diese literarische Aufarbeitung des in der Realität immer noch mangelhaft untersuchten Komplexes ein.

Das gelingt ihm überzeugend, verbindet sich das genaue Nachspüren der Auswirkungen dieses Missbrauchs mit einer komplexen und durchaus herausfordernden literarischen Erzählweise. Zugleich schreibt sein Roman auch jenen Kosmos fort, den Sebastian Barry über seine so unterschiedlichen Bücher hinaus entwickelt. Immer wieder berühren sich die Lebenslinien von Figuren über Bücher und Zeiten hinweg. Hier ist es nun eine Ms. McNulty, die mit Tom in dem viktorianischen Wohnungsensemble wohnt, deren Vorfahren Abenteuer in Amerika erlebt haben dürften.

Fazit

Für den Booker Prize 2023 nominiert (übrigens die sage und schreibe bereits fünfte Nominierung für Sebastian Barry) ist Jenseits aller Zeit ein wahrer Strudel an Erinnerungen und Schicksal, der die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs ebenso zeigt, wie er auch hinabführt in die Seele eines Menschen, in dem sich Verlust und Tod schon zu sedimentieren scheinen. Einmal mehr fabelhaft übersetzt von Hans-Christian Oeser ist dieser Text ein beeindruckendes Dokument jener Zerrüttung, der der systematisierte Missbrauch in Irland (und nicht nur dort) in Menschen angerichtet hat.


  • Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-401-6 (Steidl)
  • 288 Seiten. Preis: 28,00 €
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Maja Haderlap – Nachtfrauen

Frauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Emanzipation und Nachfolge, Kärnten und Slowenien. Maja Haderlap gelingt mit ihren neuen Roman Nachtfrauen ein präziser Blick auf die slowenische Minderheit in Kärnten und ein literarisch überzeugendes Porträt verschiedener Generationen von Frauen.


Passend zur Patenschaft der Frankfurter Buchmesse mit dem Gastgeberland Slowenien im vergangenen Jahr erschien im Herbst 2023 auch der neue Roman von Maja Haderlap. Endlich, kann man sagen, denn die Autorin hatte lange nichts mehr von sich hören, geschweige denn lesen lassen. Eine Rede anlässlich des Staatsaktes für den hundertsten Geburtstag der österreichischen Republik im Jahr 2018, vor zehn Jahren ein Gedichtband, das war es dann aber in Sachen vernehmlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit.

Umso schöner, dass das Warten nun ein Ende hat und mit Nachtfrauen endlich wieder ein Roman vorliegt, der Haderlaps Profession als Lyrikerin nicht verhehlen kann – und es zum Glück auch nicht will. Denn der Grenzgängerin zwischen slowenischer und österreichischer Literatur gelingt ein Roman, der präzise Menschen zeichnet, Grenzen erkundet und literarisch durch seine Zurückhaltung und Präzision punktet.

Eine Heimkehr nach Südkärnten

Der Inhalt ist dabei schnell erzählt. So kehrt Mira heim nach Südkärnten, wo sie ihre Mutter besucht. Dort, fernab von Wien, wo sie mit ihrem Mann lebt und als Referentin arbeitet, bedeutet die Heimkehr zugleich auch den Abschluss eines prägenden Kapitels ihres Leben. Denn ihre Mutter soll auf Wunsch ihres Neffen aus dem Hof ausziehen, in dem sie aufwuchs und der auch Miras Zuhause war, in dem sie den prägenden Teil ihres Lebens verbrachten.

Maja Haderlap - Nachtfrauen (Cover)

Aus dem Hof soll eine Schreinerei werden – und Miras Mutter in ein altersgerechtes neues Zuhause umziehen. So ist es zwischen Mira, ihrem Bruder Stanko und dem Cousin besprochen. Nur die Mutter weiß noch nicht viel von den Plänen, weshalb es nun an Mira ist, ihr diese Nachricht schonend beizubringen.

Vieles wirbelt ihre Heimkehr nach Südkärnten dabei auf. Das nicht einfache Verhältnis zu ihrer Mutter (womit sich Haderlap in eine ganze Reihe an Elternbüchern einreiht, am augenfälligsten für mich dabei die Verwandtschaft von Nachtfrauen mit der Mutterhommage Eigentum ihres österreichischen Landsmannes Wolf Haas), die Beziehung zu Miras Mann und einer alten Jugendliebe, die natürlich prompt wieder aufflammt, die Zerrissenheit von Mira – und die von ihrer eigenen Mutter, die im zweiten Teil des Buchs dann in den Vordergrund gerückt wird.

Zwischen Slowenien und Kärnten

Denn neben aller gar nicht buchentscheidenden Handlungen ist es vor allem die Frage der Herkunft und Identität, die für mich in Haderlaps Buch im Vordergrund steht. Wie die Autorin selbst sind auch ihre Figuren dort am Fuße der Karawanken binational, entzweigerissen zwischen ihrem arrivierten Leben in Österreich und der slowenischen Vergangenheit. Eine Zerrissenheit, die sich nicht nur, aber am augenscheinlichsten in der Mehrsprachigkeit ausdrückt, in die auch Mira wieder zurückfällt, als sie nun nach Hause zurückkehrt.

Nachtfrauen erzählt von unterschiedlichen Generationen von Frauen, von erlebten Kriegsgräuel, von Emanzipation und der Frage, wo man im Leben eigentlich wirklich hingehört. Wie sie das tut, das ist das Buchentscheidende, das die ganze Klasse dieses Werks ausmacht. Haderlap erzählt in einer reduzierten, genau gesetzten Sprache, die auf den ersten Blick vielleicht trügerisch einfach sein mag, dahinter aber erst in ihrer Klasse aufscheint. Mit dieser genau gesetzten Prosa offenbart die Lyrikerin viele Geheimnisse und Sehnsüchte im Leben oder berührt diese zumindest – vom Glauben bis hin zur Liebe.

Da ist kein Wort zu viel, da ist genug Raum für das Dazwischen, die nicht ausgesprochenen Wort, ungetanen Taten und ungelebten Träume. Ebenso wie die im selben Verlag erscheinende Marion Poschmann, denen beiden die Herkunft als Lyrikerinnen gemein ist, ist auch bei Maja Haderlap alles genau bedacht und sprachlich wunderbar durchgearbeitet. Zart und doch dicht, so ist diese Literatur, der ich hier begegnen durfte.

Fazit

Es ist keine bahnbrechend neue Geschichte, das Thema von Nachtfrauen alt. Die Erzählweise aber, sie ist es, die so überzeugt und der ich persönlich auch bei der Wahl des Österreichischen Buchpreises den Vorzug vor dem ebenfalls nominierten Clemens J. Setz gegeben hätte, ist hier doch alles so viel präziser und genau gerahmt.

Eine wirkliche Entdeckung. Dass sich Maja Haderlap so viel Zeit gelassen hat für einen neuen Titel, bei der Lektüre von Nachtfrauen wird das evident. Genau gesetzt und sich ihrer erzählerischen Mittel sehr sicher erzählt sie großartig gesetzt von verschiedenen Generationen an Frauen und deren Lebenswegen. So bringt sie die slowenische Minderheit Kärntens hierzulande ins öffentliche Bewusstsein. Großartige Gegenwartsliteratur aus Österreich!


  • Maja Haderlap – Nachtfrauen
  • ISBN 978-3-518-43133-7 (Suhrkamp)
  • 294 Seiten. Preis: 24,00 €

Das Buch kaufen: ich empfehle die unabhängige Internetbuchhandlung YourBookshop, bei der man auch gleich noch den lokalen Buchhandel unterstützen kann.

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James Scudamore – English Monsters

Missbrauchsskandale wie etwa der in der Odenwaldschule oder bei den Regensburger Domspatzen erschüttern immer wieder die Öffentlichkeit. Erst nach Jahrzehnten kommen diese Skandale ans Tageslicht, wenn Betroffene den Mut haben, sich mit dem Erlebten an die Öffentlichkeit zu wenden. Man verspricht Aufarbeitung, Untersuchungskommissionen werden eingeleitet, manchmal werden auch Entschädigungen geleistet – doch die Traumata bleiben. In seinem Roman English Monsters erzählt James Scudamore die Geschichte einer Clique von Freunden, die auf einem Internat Übergriffe erlebten und seither nicht wirklich loskommen von diesen Erfahrungen. Ein Roman, der sich differenziert einem schwierigen Thema nähert.


Sie wird nur die „Schule auf dem Berg“ genannt. Dorthin wird der junge Ich-Erzähler Max Denyer von seinen abwesenden Eltern geschickt. Der Großvater und die Großmutter kümmern sich auf dem eigenen Hof um den Jungen, abseits davon erfährt er wenig Geborgenheit und soziale Bindung. Seine eigentlichen Eltern sind immer unterwegs, momentan haben sie ihre Zelte in Mexiko aufgeschlagen. Für ihren Sohn ist in diesem Leben allerdings wenig Platz.

Und so ist das Internat für sie die passende Lösung. Dort beginnt für den Jungen eine besondere Zeit. Nach und nach lernt er die undurchsichtigen Regeln der Schule dort kennen. Die Pädagogen vor Ort pflegen einen strengen Umgang, körperliche Gewalt ist zu Züchtigungszwecken ein probates Mittel. Wer sich dem harten Regiment nicht fügt, bekommt die Konsequenzen am eigenen Leib zu spüren. Auch Max muss diese Erfahrung machen.

Während er zögerlich Freundschaften schließt, lernt er auch seine Dozenten besser kennen. Exzentriker, Waffennarren und andere Unikate bilden das Lehrerkollegium des Internats. Erst im Erwachsenenalter zeigen sich Max und der ganzen Öffentlichkeit die wahren Abgründe, die hinter den Schulmauern auftaten. Auch auf seine Freunde gewinnt der ehemalige Internatszögling einen neuen Blick.

Kein leichtes Thema, souverän erzählt

James Scudamore - English Monsters (Cover)

Es ist wahrlich kein leichtes Thema, das sich James Scudamore ausgewählt hat. Sexueller Missbrauch in einer schulischen Institution und Missbrauch von Schutzbefohlenen sind keine Themen, die einem in zeitgenössischen Roman häufig begegnen. Zu heikel, zu unverkäuflich, zu unangenehm für den Buchmarkt, so heißt es oft. Umso schöner, dass Scudamore das Risiko eingegangen ist und genau das in English Monsters thematisiert.

Dabei vermeidet der Autor dankenswerterweise allzu plakative Aussagen und Weisheiten. Sein Buch ist angenehm differenziert und weiß das schwierige Verhältnis der Jungen untereinander und zu den Lehrern in Worte zu fassen. Seine Beschreibungen des Lebens in der englischen Lehranstalt, der Drill und die Abgründe des Erziehungssystems zeichnet der Brite klar und schonungslos. Auch kommt Scudamore der gewählte Erzählansatz zupass.

Denn immer wieder vermischt er die Zeitebenen. So erzählt er von Max‘ Kindheit im Internat und seinem Leben danach in fließenden Übergängen, statt einen chronologischen Erzählansatz zu wählen. Mal trifft er seine Schulfreunde von damals im gesetzten Alter, dann ist er wieder zurück in der Schule am Berg und erinnert sich, wie er sich in dem Schulkosmos einlebte. Die Konsequenzen des Erlebten, das Fortwirken der Taten der Lehrer werden so nachvollziehbar geschildert. Auch das schwierige Verhältnis zu den inzwischen greisen Pädagogen nimmt in seinem Roman Raum ein. Vor allem sein Freund Simon, der den körperlichen Missbrauch unmittelbar erlebte, weiß hierbei Erschütterndes zu berichten, ohne dass der Roman ins Platt-Voyeuristische kippt. Der Blick zurück, die Erfahrungen der Kindheit, all das ist gut ausbalanciert und nachvollziehbar erzählt.

Fazit

Die Ambiguität und Vielstimmigkeit der Erinnerungen und Erinnerungen Max‘, die seinen Charakter geformt haben, beschreibt James Scudamore wirklich eindringlich. Sein Roman steckt voller Themen, die in den oftmals etwas einfach geführten Debatten zu kurz kommen. Was begünstigt den Missbrauch, welche Mechanismen begünstigen das Vertuschen, wie kann man über das Erlebte reden? English Monsters bietet gute Ansätze für Debatten und begegnet der Thematik angenehm komplex und vielschichtig. Die Erfahrung des Missbrauchs, das komplizierte Leben mit der Wahrheit, das Verdrängen oder Aufarbeiten der Erfahrungen, all das bettet Scudamore fundiert und klug in seinen Roman ein. Ein außergewöhnliches und engagiertes Buch, dessen Mut ich gerne mit vielen Leserinnen und Lesern belohnt sähe.


  • James Scudamore – English Monsters
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-446-26946-0 (Hanser)
  • 464 Seiten. Preis: 22,00 €
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Helga Schubert – Vom Aufstehen

Erinnerungssplitter

Es wird viel geklagt über Corona und den Wegfall von Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Miteinander – und das völlig zurecht. Die Folgen der Pandemie sind gravierend – und momentan noch gar nicht reell abschätzbar. Allerdings bietet Corona auch Vorteile und Chancen. Eindrücklichstes Beispiel hierfür der Fall von Helga Schubert und ihrer Teilnahme am Bachmannpreis.

Denn eigentlich war das mit dem Preis und der Autorin mehr als unwahrscheinlich. Schon einmal hätte sie zu DDR-Zeiten beim Wettbewerb antreten sollen, durfte dann auf Geheiß der DDR-Führung allerdings nicht teilnehmen. Zwar wurde ihr dann 1987 bis 1990 die Ehre zuteil, als Kritikerin Teil der Jury des Preises zu sein. Aber noch einmal eine zweite Chance bei diesem Wettbewerb auf Teilnehmerseite? Das schien mehr als unwahrscheinlich.

Zu weit weg das Wettlesen am Wörthersee, da sie in Mecklenburg-Vorpommern zusammen mit ihrem pflegebedürftigen Mann lebt. Zu alt mit ihren 80 Jahren für das normalerweise recht junge Teilnehmerfeld (sogar den Rekord für die älteste Teilnehmerin überhaupt stellte sie damit auf). Und doch gewann die Autorin den Preis – dank der Verlegenheitslösung, die der Preis 2020 versuchte. Denn anstelle einer Präsenzveranstaltung wurde der Preis digital durchgeführt. Die Juror*innen saßen zuhause, die Lesungen wurden voraufgezeichnet. So konnte auch Helga Schubert beim Wettlesen mitmachen – und gewann unter großem Medieninteresse den Preis. Nun, ein Jahr nach dem Bachmannpreis liegt ihr Werk Vom Aufstehen vor. Auf eine Gattungsbezeichnung hat der Verlag verzichtet. Stattdessen prangt der Untertitel Ein Leben in Geschichten auf dem Cover.

Kurze Erinnerungen und Eindrücke

Und das trifft es ganz gut. Wobei viele der sogenannten Geschichten für mich gar keine Geschichten sind. Eher würde ich von Erinnerungs- und Gedankensplittern reden. Teilweise sind die Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, nicht einmal eine Seite lang. Die kurze Form dominiert, nur wenige Geschichten sind länger als drei bis fünf Seiten – beispielsweise die ans Ende gesetzte titelgebende Erzählung Vom Aufstehen, die Schubert den Bachmannpreis eintrug.

Helga Schubert - Vom Aufstehe (Cover)

Und jetzt begehe ich zu Beginn gleich den Frevel: trotz aller Meriten, Lobeshymnen und Nominierungen finde ich es auf literarischer Ebene eher schwach. Einen eigenen Sound hat Helga Schubert in meinen Augen nicht, eine besondere literarische Bearbeitung oder Überformung ihres Materials findet sich in diesem Buch nicht. Natürlich kann man einwenden, dass diese Kunstlosigkeit auch Kunst ist. Aber eine unverwechselbare Stimme konnte ich in den Erzählungen nicht entdecken. Klar fokussiert sind die Geschichten auch nicht immer und mäandern thematisch hin und her, etwa die Erzählung Vom Erinnern.

Hier wandert Helga Schubert von einem Besuch in Bad Kleinen zum dortigen GSG9-Einsatz, bei dem RAF-Mitglieder festgenommen werden sollten. Davon kommt sie zu einem Treffen mit ihrem Lektor an ihrem Wohnort in Mecklenburg, von wo aus sie zum Suizid eines benachbarten Bauern schweift, ehe es um Besucher aus dem Westen kurz nach dem Mauerfall geht, ehe sie wieder zu den Beschreibungen ihrer Heimat zurückkehrt. Und auch wenn die Geschichte vom Erinnern handelt und das Sprunghafte, Assoziative in den Mittelpunkt stellt, so hat mich diese Art des Erzählens nicht überzeugt. Auch irritierten mich die Anschlüsse und Bezüge der Geschichten, etwa wenn Schubert in der Schlussgeschichte Vom Aufstehen vieles zuvor Erzählte einfach noch einmal wortwörtlich aufgreift und wiederholt. Hier hätte eine Überarbeitung notgetan. Kurzum: dieses Erzählen überzeugte mich auf der Mikroebene leider nicht.

Ernüchterung auf Mikroebene, Faszination auf Makroebene

Anders hingegen auf der Makroebene – denn hier entfaltet das Buch seinen ganzen Reiz. Die Vielzahl von Erinnerungen, Gedankensplittern und Anekdote ergibt zusammen das Porträt einer faszinierenden Frau, an deren Leben sich die gesamten Bruchlinien der jüngeren deutschen Geschichte ablesen lassen. Flucht, Vertreibung, das schwierige Verhältnis mit der eigenen Mutter. Die Erfahrungen als regimekritische Autorin in der DDR, das literarische Leben dort, die Umstellungen nach der Wende. All das thematisiert Vom Aufstehen über die einzelnen Erzählungen hinweg und verschafft dem Leser und der Leserin einen Eindruck von dem, was man sonst mit dem schmalen Wort Lebensleistung erschlägt.

In Schuberts Leben (oder dem, das sie uns erzählt) wird offenbar, welche tiefgreifenden Wechsel der Systeme hin von der Nachkriegszeit hin in die Gegenwart und von der DDR hin zur Bunderepublik für die Menschen bedeutete. Auch eingedenk der Debatten im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit und die Frage nach der tatsächlichen Einheit von Ost und West kann Schuberts Prosa mitreden und mit Persönlichem die Debatte bereichern. So besitzt Vom Aufstehen gesellschaftliche und zeithistorische Relevanz, die mich mit dem eher schmalen literarischen Gehalt des Buchs versöhnte.

Weitere Meinungen zu diesem Buch gibt es unter anderem bei Aufklappen, masuko13 und Zeichen&Zeiten.


  • Helga Schubert – Vom Aufstehen
  • ISBN 978-3-423-28278-9 (dtv)
  • 221 Seiten. Preis: 22,00 €
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Wenn die Erinnerungspolizei klopft

Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung

Es ist ein Zitat von George Eliot, das in abgewandelter Form häufig auf Grabsteinen oder sonstigen Erinnungsdevotionalien zu finden ist:

Unsere Toten werden erst dann wirklich tot sein, wenn wir sie vergessen haben

George Eliot: Adam Bede, S. 89

Die Vorstellung, dass erst das Vergessen den Toten zum Toten macht, sie ist weitverbreitet und hilft auch beim Trauern. Wie es ist, in einer Welt zu leben, in der aber alles tatsächlich immer mehr dem Vergessen anheimfällt, darüber hat Yoko Ogawa eine gelungene Parabel geschrieben. Ursprünglich bereits 1994 erschienen, liegt das Buch nun unter dem Titel Insel der verlorenen Erinnerung in der Übersetzung von Sabine Mangold im Liebeskind-Verlag vor.

Viel Aufmerksamkeit erhielt das Buch in diesem Jahr durch die Tatsache, dass es in der englischen Übersetzung neben den Büchern von Daniel Kehlmann oder Fernanda Melchor für den International Booker Prize nominiert war. Zwar verlor Ogawa gegen Marieke Lucas Rijneveld, viel Aufmerksamkeit war dem Titel aber gewiss. Aufmerksamkeit, die auch der Liebeskind-Verlag zu nutzen wusste. Nach den Unwägbarkeiten der Coronakrise hatte man sich dort notgedrungen den Entschluss gefällt, kein Herbstprogramm zu publizieren. Diese Entscheidung wurde durch den Hauptgewinn des Deutschen Verlagspreises wenig später dann aufgeweicht. Und so entschied man sich, als einzigen Titel Yoko Ogawas Buch den deutschen Leser*innen vorzustellen. Eine gute Entscheidung, wie die Lektüre dieses Buchs zeigt.

Mit dem Zeug zum Klassiker

Denn, wenngleich man mit solchen Begriffen vorsichtig sein muss – Yoko Ogawas Buch hat alles, was ein Klassiker haben muss. Ein reduziertes Setting, sprachliche Genauigkeit und im Kern eine die Zeiten überdauernde Frage: wie kann man in einem übermächtigen Regime Widerstand leisten? Und was bedeutet dieser Widerstand für das Individuum?

Yoko Ogawa - Insel der verlorenen Erinnerung (Cover)

Darum kreist ihre Geschichte, die in meinen Augen zurecht mit Kafka, Bradbury oder Margaret Atwood verglichen wird. Die Figuren in ihrer ganzen Verlorenheit platziert Yoko Ogawa auf einer Insel, die nicht genauer bestimmt wird. Immer wieder verschwinden Dinge auf der Insel. Vögel, Kalender, Bücher. Viele dieser Dinge verschwinden nebenbei, andere entsorgen die Bewohner*innen der Insel selbst. Mit diesen Dingen verschwinden dann auch die Erinnerungen an die frühere Existenz dieser Dinge.

Damit es dabei mit rechten Dingen zugeht und niemand verschwundene Dinge heimlich hortet, kommt die Erinnerungspolizei zum Einsatz. Diese überwacht totalitär die Einhaltung der Regeln und durchsucht auch schon einmal ohne Ankündigung Häuser auf der Suche nach Überbleibseln, die Inselbewohner*innen zuhause versteckt haben. Razzien, Angst, Unterdrückung – sie kennzeichnen das Leben der Inselbewohner*innen, die sich lethargisch ihrem Schicksal fügen.

Nichts weniger als eine ganze Person daheim versteckt hat die namenlose Heldin dieses Buchs. Sie verdingt sich als Romanautorin. Ihr Lektor R hat die Gabe, sich an alles erinnern zu können, auch an verschwundene Dinge. Das macht ihn natürlich zu einer Zielscheibe für die Erinnerungspolizei. Da die Geburt seines Kindes bevorsteht und die Heldin ihren Lektor liebgewonnen hat, wagt sie ein riskantes Unterfangen. Zusammen mit einem betagten Bekannten versteckt sie R bei sich daheim, während um sie herum immer mehr Dinge verschwinden.

Vom Widerstand gegen ein totalitäres Regime

Vom Widerstand gegen ein totalitäres Regime erzählt Yoko Ogawa. Sie tut dies auf eine kluge Art und Weise. Durch das reduzierte Setting und den Fokus hin auf die wichtigen Personen schafft sie ein dichtes und nahegehendes Leseerlebnis. Sie bleibt eng an ihrer namenlosen Figur, erzählt eindrücklich, wie es sich anfühlt, wenn die Dinge um einen herum verschwinden. Aber auch davon, welchen Muts und welcher Entschlossenheit es bedarf, um Widerstand zu üben. Der Widerstand gegen das scheinbar übermächtige Regime, das seine sinnlosen Regeln mit Repressionen und Einschüchterung durchsetzt.

Nicht zuletzt ist es diese zeitlose Qualität, die das Buch besitzt, die es zum potentiellen Klassiker macht. Egal ob die Regime mit ihrer Machtausübung in Belarus oder in Nordkorea herrschen, ob in der Vergangenheit im Dritten Reich oder eben hier in einer nicht näher benannten Zeit: die Themen und Gefühle werden immer die gleichen sein. Und wie sie Yoko Ogawa beschreibt, das ist wirklich großartig. Es bleibt zu hoffen, dass die Erinnerung an dieses Buch die nächsten Jahre nicht verblasst und bestehen bleibt. Auch eine mögliche Erinnerungspolizei hat gegen dieses Buch hoffentlich keine Chance. Yoko Ogawas Werk hat es verdient!


  • Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung
  • Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
  • ISBN: 978-3-95438-122-7 (Liebeskind)
  • 352 Seiten: Preis: 22,00 €

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