Tag Archives: Band

David Mitchell – Utopia Avenue

Ein altes Bonmot des Musikjournalismus lautet, dass das Schreiben über Musik dem Tanzen von Architektur ähnele. Auch in David Mitchells Roman Utopia Avenue greift der britische Schriftsteller diese Sentenz auf und zeigt zugleich, dass diese grundfalsch ist. Denn Mitchell macht in seinem Roman Musik erlesbar. So liefert er in seinem jüngsten Roman die mitreißende Biografie einer fiktiven britischen Band, erweckt die 60er Jahre eindrucksvoll wieder zum Leben und schreibt nebenbei gleich noch am eigenen literarischen Kosmos weiter.


Fiktive Biografien erfreuen sich unter britischen Schriftstellern großer Beliebtheit. William Boyd etwas erfand mit Nat Tate einen fiktiven Künstler, dessen Leben er in einer Biografie präsentierte und gleich hinterher mithilfe von Größen wie David Bowie oder Gore Vidal die passende Party zu Ehren seines fiktiven Protagonisten gab, auf der viele der Anwesenden schworen, Nat Tate selber zu kennen.

Auch David Mitchell bewährt sich nun in diesem Genre, obgleich er keine Täuschungsmanöver wie sein Kollege William Boyd durchführt. Aber mit seiner Biografie einer fiktiven Band schafft er es ungemein plastisch, vom Rock ’n Roll der 60er Jahre zu erzählen und eine Band zu kreieren, deren Existenz man durchaus Glauben schenken könnte.

Die Karriere von Utopia Avenue

David Mitchell - Utopia Avenue (Cover)

Aus Sicht der vier Bandmitglieder erzählt er von der Entstehung der unvergleichlichen Band Utopia Avenue, die sich durch das Zutun des Musikmanagers Levon Frankland in London gründet. Er bringt den in Geldnöten schwebenden Bassisten Dean Holloway, den Schlagzeuger Griff Griffin, die Folksängerin Elf Holloway und den ebenso eigenwilligen wie außergewöhnlichen Gitarristen Jasper de Zoet zusammen.

Den Bandfindungsprozess, das Ringen um künstlerische Identität und den steinigen Weg zum Erfolg schildert Mitchell ausgiebig und wechselt dabei auch immer wieder zwischen den Perspektiven der einzelnen Bandmitgliedern. Intensiv beschwört sein Roman die Atmosphäre des Swinging London in den 60er Jahren herauf. Die Welt der verrauchten Kneipen und Musikstudios in Soho ist diejenige, in der sich der Roman in der ersten Hälfte bewegt, ehe sich die Welt mit weiteren Platten und Touren für die Künstler*innen über den Atlantik hinweg weitet.

Eintauchen in die Musikwelt der 60er Jahre

Utopia Avenue begutachtet die Kennzeichen einer vergangenen Musikwelt lange vor Streamingdiensten und Handymitschnitten von Konzerten. Die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Band zu sein und neidvoll auf erfolgreiche andere britische Gruppen wie die Beatles oder die Rolling Stones zu blicken, das vermittelt Mitchell eindrücklich. Das mangelnde Verständnis im heimischen Umfeld, die Skepsis gegenüber diesen langhaarigen Musikern, die Kunst des Songwriting, Korruption im Musikbusiness und halbseidene Manager – all das greift sein Roman auf.

Zwischen Orten der Musikgeschichte wie dem Chelsea Hotel und dem Troubadour in Los Angeles und Cameos von Stars wie Frank Zappa bis hin zu David Bowie lässt einen der Roman tief in die Musikgeschichte eintauchen. Mitchell kreiert mit seiner fiktiven Bandbiografie einen in höchstem Maße unterhaltsamen Roman, der darüber hinaus noch ein wichtiger Baustein im Gesamtwerk von David Mitchell ist.

Verbindungen zu anderen Werken David Mitchells

Denn natürlich lässt sich Utopia Avenue völlig unabhängig von anderen Werken David Mitchells lesen. Noch mehr Spaß macht die Lektüre allerdings, wenn man schon in den Genuss früherer Werke von David Mitchell kam. Allen voran Der Wolkenatlas und Die tausend Herbste des Jacob de Zoet sind als Titel zu nennen, auf die der jüngste Roman des Briten vielfach rekurriert.

„Elf! Elf! ELF! Elf! Elf! ELF!“ Die Frau führte den Mund an Elfs Ohr. „Ich bin Luisa Rey vom Spyglass Magazine, aber das ist eine andere Geschichte – viel Glück und das Atmen nicht vergessen.“

Elf atmet. „Okay.“

David Mitchell – Utopia Avenue, S. 472#

Nicht nur Größen der Musikgeschichte bestreiten in Utopia Avenue Gastauftritt – auch einige Figuren aus David Mitchells anderen Werken haben hier ihre Auftritte und leben somit über frühere Bücher hinaus. Luisa Rey, die in der zitierten Szene Elf Mut zuspricht, kennt man schon aus Der Wolkenatlas, wo sie die zentrale Figur einer der sechs im Buch miteinander verknüpften Geschichten war. Dieses Prinzip spinnt Mitchell weiter, allen voran, wenn sich die Handlung aus dem historisch-fantastischen Roman Die tausend Herbste des Jacob de Zoet in diesem Buch weiterspinnt.

Denn die Vergangenheit, sie ist natürlich nie vergangen. Und wenn es im Wolkenatlas heißt, dass wir mit anderen in der Vergangenheit und der Gegenwart verbunden sind, dann gilt das natürlich nicht nur für den bekanntesten Roman von Mitchell, sondern auch für sein Gesamtwerk und damit auch für Utopia Avenue. Im Falle von Jasper ist es die Vergangenheit seiner Vorfahren in Japan zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich mit ihm verbindet und diesen Roman ganz Mitchell-typisch auch ein Stück ins Fantastische gleiten lässt.

Fazit

So zupft Utopia Avenue Handlungsbögen aus anderen Werken mal etwas direkter, mal in kaschierter Form an und fügt das Buch neben seiner solitären Lesebarkeit auch in das übrige vielgestaltige Werk David Mitchells ein, ohne dass die Lesbarkeit des Buchs in irgendeiner Form darunter leiden würde.

Utopia Avenue ist eine höchst unterhaltsame Zeitkapsel, die die 60er Jahre in Soho und an anderen zentralen Stellen der Musikkultur dicht erlebbar aufschließt und die von Mitchells Stammübersetzer Volker Oldenburg wieder einmal fabelhaft ins Deutsche übertragen wurde. Auch ohne Kenntnis anderer Werke David Mitchells ist das ein großer Lesespaß, der sich durch die Kenntnisse anderer Werke aber noch einmal verstärkt und auch das Bedürfnis weckt, (wieder) tiefer in seinen Erzählkosmos einzutauchen.

Und nicht zuletzt beweist er, dass es eben doch geht, über Musik zu schreiben und sie alleine mit Worten fast hörbar zu machen.


  • David Mitchell – Utopia Avenue
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-498-00227-5 (Rowohlt)
  • 752 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Eckhart Nickel – Punk

Vom WG-Casting zur Punkband zum großen Auftritt in nur einem Tag. Eckhart Nickel entwirft in seinem neuen Roman Punk eine wilde Fantasie um zwei Bohemiens und Karen, die auf der Suche nach einem WG-Zimmer in ein wildes Abenteuer rund um Musik, das Verschwinden derselben und ein weißes Kaninchen stolpert. Klingt wirr? Ist es auch.


100.000 Euronen als Gewinn eines Musikwettbewerbs. Das ist die verheißungsvolle Aussicht, mit der die Zwillingsbrüder Ezra und Lambert Karen überraschen, obwohl diese eigentlich schon überwältigt ist von dem, was ihr schon kurz nach dem Betreten der Wohnung der beiden jungen Männer widerfährt. Eigentlich wollte sie sich nur für ein WG-Zimmer bewerben und findet sich dadurch in einem Abenteuer um die Schaffung einer Punkband wieder, und das obwohl in der Welt des Romans eigentlich Musik und Lärm verschwunden sind. PUNK ist ein Erzählwerk, das in Sachen Absurdität und Kunstemphase zum bemerkenswertesten gehört, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in diesem Herbst bislang hervorgebracht hat.

Schon der Anblick der an der Garderobe aufgehängten Jacken signalisiert Karen, das hier etwas ganz Besonderes auf sie wartet, als sie zu Beginn des Romans die Wohnung von Lambert und Ezra betritt. Denn im Muster der aufgehängten Textilien erkennt sie die Melodie des Beatles-Klassikers Strawberry Fields, was sich Auftakt dieser wilden Geschichte entpuppt, die sich, nachdem sich Nickels Vorgängerroman Spitzweg mit der Welt der Malerei befasste, nun mit dem weiten Feld von Musik und Film beschäftigt. Nickel-typisch arbeitet er mit seinen literarischen Gestaltungsmitteln hart an der Grenze zur Synästhesie und flicht jede Menge zitierte Musik in seinen Erzählkosmos ein, obwohl diese eigentlich nicht mehr existiert.

WEISSER LÄRM und ein weißes Kaninchen

Die Umgebung, in der PUNK spielt, muss man sich erst einmal in Ansätzen erschließen, so unvermutet wird man von Nickel in diese Geschichte geworfen. Denn in einer nicht näher benannten Zukunft kam es einige Jahre zuvor zum Auftreten des sogenannten WEISSEN LÄRMs, der sich wie akustischer Schnee über die Welt gelegt hat. Warum genau und wie das vonstattenging, es bleibt im Roman so blass wie die Akustik, die fortan die Welt prägt. Ein Ministerium für Unterhaltung sorgt seit diesem Ereignis für die Einhaltung der Stille. Musik, Klänge und Töne sind verpönt.

Eckhart Nickel - PUNK (Cover)

Gegen dieses Diktat der Stille lehnen sich die Zwillingsbrüder Lambert und Ezra auf, die Karen im Zuge ihres WG-Castings kennenlernt. Denn kaum sind die ersten Sätze bezüglich des WG-Zimmers gewechselt, schon klingelt es an der Tür und das Ordnungsamt steht in der Wohnung. Karen wird von den Brüdern kurzerhand in einem schalldichten Raum versteckt, der sich als gut gedämmtes Musikstudio entpuppt. Anwesend im Raum ist auch Pierre-August, ein schneeweißes Kaninchen, das besonders Aaron Coplands Musikstück Appalachian Spring schätzt.

Nach dem Abzug der Ordnungshüter machen sich die Brüder mit Karen und Pierre-August im Schallstudio bekannt, um sie dann in ihr eigentliches Vorhaben einzuweihen. Denn Lambert und Ezra wollen kurzerhand eine Punkband gründen – und Karen soll ihre Sängerin werden. Auf einem Festival haben sie Kenntnis von einem Bewerb erlangt, der im Ministerium für Unterhaltung stattfinden soll und bei dem sie am nächsten Tag antreten möchten.

Wirr und sprunghaft

Klingt diese grobe Nachzeichnung der narrativen Linien bis hierhin unglaublich wirr und durcheinander? Sie ist es, ebenso wie die Handlung dieses Romans. Denn Eckhart Nickels Buch entpuppt sich bei der Lektüre als noch deutlich wirrer als diese kurze Zusammenfassung der grundlegenden Handlungsbausteine. Eine konsistente und plausible Nacherzählung des Geschehens in diesem Roman ist kaum möglich. Denn Nickels Text zitiert nicht nur Lewis Carroll und das weiße Kaninchen, dieser Roman liest sich selbst wie ein wilder Trip in ein Wunderland, allein das Nickels Alice auf den Namen Karen hört.

Irgendwo zwischen einer akustischen Variante von Ray Bradburys Fahrenheit 451 und einem spontanen Punkgig rangiert PUNK. Man wird in die Welt der Bohemien-Brüder geschleudert, die auf Pol Roger-Champagner und Graved-Lachs mit Honig-Senf-Tunke schwören und deren Dialoge an Künstlichkeit kaum zu überbieten sind:

Ezra deutete auf die Porzellanschale: „Karen, ungelogen, wenn mir nicht schon dieses als schnöder deutscher Meerrettich getarntes, schon wieder diese Camouflage, also jenes heimtückische Wasabi-Derivat hier, die Tränen in die Augen getrieben hätte, dann würde ich jetzt vor Glück weinen. Was für grandiose Ideen du hast!“

Eckhart Nickel – PUNK, S. 125

Auf der nächsten Seite bekennt sein Bruder, dass er „wahnsinnigen Durst auf einen Schluck perlenden Lebenssaft“ hätte. Es sind Dialoge fernab jeglicher Lebensrealität und Plausibilität, die sich aber in das künstliche Gepräge des ganzen Romans gut einpassen.

Musik-, Film-, Mode- und Selbstreferenzen

Eckhart Nickel spielt mit Selbstreferenzialität, etwa wenn die Grundstruktur der beiden jungen Männer und Karen dazwischen die erzählerische Grundkonstruktion des Vorgängerromans aufgreift, in dem sich Kirsten, die Freundin Karens, in einer ähnlichen Lage wiederfand, womit Nickel den Anschluss an seinen einst für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman herstellt.

Zum Vor-Vorgänger Hysteria gibt es ebenfalls Links, etwa durch die Klavierlehrerin Karens, die ihre Schüler mit Erik Satie quält und auf den höchst künstlerischen Namen Mme. Framboisée hört. Mit ebenjenen Himbeeren begann die Geschichte von Nickels Debütroman, die in eine Welt voller Künstlichkeit entführte, wie sie Eckart Nickel auch hier wieder, nun in Form einer Dystopie, entwirft.

Leider verliert der Roman mich schnell als Leser, da der Roman in seiner zwischen opaker WEISSER LÄRM-Welt und überspannter Künstlichkeit und Hektik der Brüder in ihrer Wohnung, zwischen Champagner, weißem Hasen und Punkmusik-Produktion und GROSSGESCHRIEBENER BEGRIFFE zu keinem tragfähigen Erzählton findet.

Zitatkanonanden

Für meinen Geschmack leider deutlich zu wirr an der Grenze zur Unverständlichkeit zitiert sich dieser Roman zwischen Nickels eigenem Werk, Mode, Filmen und allen voran der Musik zu Tode. Mit seitenweisen popkulturellen Überlegungen etwa zu David Lynchs Twinpeaks und Songzitaten und Musiktiteln von The Smiths bis hin zu Franz Ferdinand oder Vampire Weekend (deren Sänger Ezra König wiederum auf Ezra als Erzählfigur rekurrieren könnte, und so weiter, und so fort) überlädt Nickel diesen Roman und vergisst über seinen Zitatkanonaden seine eigentliche Geschichte.

Natürlich könnte man einwenden, dass Punk genauso sein müsse. Mal bei anderen Künstler*innen klauend, dann rumpelig, dann mit wieder laut und überfordernd – und am Ende auch rätselhaft. Persönlich erscheinen mir die erzählerischen Mittel Eckart Nickels allerdings für die Welt der bildenden Kunst im Gebiet der Malerei mitsamt seinem Spitzweg deutlich überzeugender als der Einsatz, den er hier für sein Schreiben finden. PUNKt.


  • Eckhart Nickel – PUNK
  • ISBN 978-3-492-07282-3 (Piper)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen