Wo bei anderen Schreibenden das Schwimmbecken ein Ort des domestizierten Nervenkitzels, der Gefahr und der Erotik ist, da liegt bei Annika Büsing der Fall anders. Sie erzählt in ihrem Debüt Nordstadt eine Liebesgeschichte, die sich im Schwimmbad entspinnt, geht aber deutlich weiter, als es bei allen braven Adoleszenz-Erinnerungen anderer Autor*innen der Fall ist. Wenn jene Bücher den Nichtschwimmerbereich markieren, dann ist Annika Büsings Roman der Schwimmerbereich. Verlockend, manchmal etwas trügerisch und mit deutlich mehr Tiefe als so manch anderer Roman. Und das, obwohl das Buch doch eigentlich nur gute 120 Seiten umfasst.
Ein Leben in der Nordstadt
Ich will erzählen, wie ich ihn getroffen habe. Ich habe ihn im Schwimmbad getroffen. Bei meiner Arbeit. Ich bin Bademeisterin in einem Schwimmbad. Das Schwimmbad liegt am Stadtrand, an dem Rand, der nicht so schön ist, das ist in meiner Stadt im Norden. Ich habe mal gelesen, dass in vielen Städten der soziale Brennpunkt im Norden liegt und nicht im Süden. Woran das liegt, stand nicht dabei.
Annika Büsing – Nordstadt, S. 6
Ihn, das ist Boris. Er kommt eines Tages in das Schwimmbad, in dem Nene als Bademeisterin arbeitet. Sie leiht Boris ein Schwimmbrett, das er sich von ihr erbittet. Andere Bademeister sind deutlich strikter, was den Verleih der Bretter angeht, Nene lässt jedoch mit sich reden. Boris leidet an Kinderlähmung und versucht im Wasser seine missgebildeten Beine zu trainieren. Zwischen den beiden Figuren entspannt sich eine Liebesgeschichte, die so unkonventionell ist wie die Filme, die sie sich für ihre Kinodates aussuchen (John Wick, Fast & Furious 7, American Sniper etc.).
Man sollte sich dabei allerdings nicht von dem Label der Liebesgeschichte blenden lassen. Denn Nordstadt ist keine Liebesgeschichte. Und doch ist es eine Liebesgeschichte. Es ist eine Geschichte, die von Vernachlässigung, Missbrauch, Armut, Gewalt und sozialer Ausgrenzung erzählt, aber eben auch von Liebe, die hier Nene und Boris zusammenbringt.
Eine widerständige Romanze
Dieses Zusammenbringen gestaltet sich aber schwierig. Denn weder Nene noch Boris haben eigentlich die Absicht, jemanden in ihr Leben zu lassen. Nene, Anfang zwanzig, hat mit ihrem Vater gebrochen. Lediglich zu ihrer Halbschwester Alma hält sie den Kontakt. Der Job im Schwimmbad gibt ihr Halt und Stabilität. Und Boris ist das Gegenteil von Stabilität. Er lügt, will keine fremde Hilfe annehmen, leidet unter den Auswirkungen der Entscheidung seiner Mutter, einer Impfgegnerin, ihr Kind nicht gegen die Kinderlähmung impfen zu lassen. Und so etwas wie ein Job ist eh nicht in Aussicht.
Sie sind beide nicht auf der Suche, und doch fassen sie Zutrauen zueinander. Der Ausleihe des Schwimmbretts folgen dann Kinodates – und langsam lassen sie beide den anderen etwas an ihrer Seelenlage teilhaben. Eine widerständige Romanze nimmt ihren Beginn, die aus dem Schwimmbad bis in die Straßen der Nordstadt führt.
Eine Liebes- aber auch Leidensgeschichte
Neben der anschaulichen Schilderung des prekären sozialen Milieus berührt vor allem die Leidensgeschichte von Nene. Dem Buch ist eine Triggerwarnung vorangestellt, die vor den enthaltenen Schilderungen von körperlicher und sexualisierter Gewalt warnt- und tatsächlich ergibt die Warnung hier Sinn. Denn Annika Büsing schildert in einem expliziten Sound die Leiden von Nene, die die Ich-Erzählerin erfuhr. Ein prügelnder Vater, Blutergüsse am Körper, Jugendamt und Wohngruppe und dann wieder zurück zum Vater. Eine Vergewaltigung im Alter von 17 Jahren folgt und traumatisiert die junge Frau weiter – kein Wunder, dass sie sich nur langsam auf Boris einlassen kann und ihn an ihrem Leben teilhaben lässt. Die Leidensgeschichte ist hier ebenso präsent wie die Liebesgeschichte.
Ungeschönt und explizit in der Sprache, das zeichnet Nordstadt aus. Weder in sozialen Fragen noch in der Schilderung von Traumatisierung hält sich Annika Büsing zurück. Auch der Tod spielt eine Rolle, der immer wieder auch unerwartet in Nenes Lebens einbricht, etwa wenn eine betagte Schwimmerin plötzlich tot an Nenes Arbeitsplatz zusammenbricht.
Und doch gelingt es der Debütantin, ein zartes Buch zu kreieren, das neben vielem Schlimmen auch von der Liebe erzählt, die sich unerwartet offenbart und die manchmal die Rettung sein kann. Sie scheut sich nicht, Begehren in Worte zu fassen und entwickelt für ihre Heldin einen unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton. Auch ist Nordstadt voll von literarischen Stilmitteln und Kunstgriffen wie scheinbar endlosen, durch „und“ verbundene Satzgebilde, Reihungen oder Rhythmisierungen. Ebenso unkonventionell wie die Romanze ist auch die Struktur des Textes selbst, da Nene immer wieder in ihren Erinnerungen und Gedanken hin- und herspringt und sich erst allmählich ein umfassendes Bild der beiden Figuren zeigt.
Durchaus auch Schullektüre-würdig
Deutschlehrer*innen, die beständig mit ihren höheren Schulklassen noch immer Benjamin Leberts Crazy lesen, halten hier eine frische Stimme und absolute Empfehlung in Händen, die der Lektüre, Interpretation und Analyse verdient und die viele Diskussionen eröffnen kann.
Liebe und Leiden, Nähe und Distanz, Lügen und Wahrheit, sie kennzeichnen das Buch der im Ruhrgebiet tätigen Lehrerin, die hier ein beachtliches und literarisch spannendes Debüt vorlegt. Hier ist dem Steidlverlag eine wirkliche Entdeckung gelungen!
- Annika Büsing – Nordstadt
- ISBN 978-3-96999-064-3 (Steidl)
- 123 Seiten. Preis: 20,00 €
Dem Zeitgeist verhafteter Kitsch, von einer Deutschlehrerin für den moralisierenden Deutschunterricht verbrochen: schematischer geht‘s leider kaum.
[…] unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton“, wie auf buch-haltungen steht. Büsings Protagonistin nimmt tatsächlich kein Blatt vor den […]