Erst postum erschienen erzählt Mary Shelleys Roman Mathilda von Depressionen und von einer Erzählerin, die am eigenen Leid langsam zugrundegeht. Keine sonderlich erbauliche Lektüre, dafür ein hochinteressanter Roman einer Autorin, die in ihrem Werk einmal mehr in tiefe Abgründe blickt und die starke Bilder für die Verzweiflung ihrer Heldin findet.
Blickt man ins Impressum des nun erstmalig auf Deutsch vorliegenden, von Stefan Weidle übersetzten und vom Pendragon-Verlag herausgegebenen Roman Mathilda, dann lässt eine Jahreszahl stutzen. 1959 prangt da als Jahreszahl des Erstveröffentlichungsdatums im Verlag The University of North Carolina Press. Obschon sich Mary Shelley in ihrem bekanntesten Werk mit der künstlichen Reproduzierbarkeit von Leben und der Unsterblichkeit auseinandergesetzt hat, wäre es schon ein ziemliches Kunststück, das wohl nicht einmal Viktor Frankenstein mit der 1851 verstorbenen Autorin hätte vollführen können, um eine plausible Erklärung jenseits des Umstands einer postumen Nachlassung liefern zu können.
Tatsächlich handelt es sich bei Mathilda um den zweiten Roman der 1797 geborenen Mary Shelley – der zu Lebzeiten der Autorin allerdings nie erschien, wie Übersetzer Stefan Weidle in seinem Nachwort ausführt. 1819 verfasst gelangte das Buch nie zur Publikation und wurde durch die Arbeit der Herausgeberin Elizabeth Nitchie erst hundertvierzig Jahre später in den USA erstmalig publiziert.
Mary Shelleys zweiter Roman – der nie publiziert wurde
Auf die Gründe geht Weidle in seinem Nachwort ebenso wie auf den editorischen Kraftakt ein, den die Herausgabe von Mathilda 1959 erstmals bedeutete. Die Reinschrift verloren und Spuren des Werks nur in Tagebüchern und Notizen auffindbar, kam die Rekonstruktion des Textes einer komplizierten Restauration gleich, die Weidle nun auch im Deutschen zugänglich macht.
Liest man Mathilda, dann steigt man tief hinab in seelische Abgründe, dringt vor zu Leid und unerfüllter Sehnsucht. Shelleys Werk ist eines, das vor Pathos und einer dichten Ausmalung der Seelenzustände nicht zurückschreckt, im Gegenteil.
O Stunden des tiefsten Glücks! So kurz ihr wart, seid ihr doch so lang wie ein ganzes Leben, wenn ich auf euch zurückblicke durch den Nebel der Trauer, der sich sofort danach erhob, wie um euch meinem Blick zu entziehen. Ach, ihr wart die letzten Strahlen des Glücklichseins in meinem Leben, ein paar, ein paar wenige Woche, und alles war zerstört. Wie Psyche lebte ich eine Zeit lang in einem Zauberpalast, von Wohlgerüchen und Musik umfangen, in verschwenderischer Opulenz; plötzlich fand ich mich auf einem kahlen Felsen wieder, ein unendlicher Ozean der Verzweiflung brandete um mich, über mir Schwärze, und auch mit geschlossenen Augen hauste ich inmitten eines weltumfassenden Todes.
Mary Shelley – Mathilda, S. 33
Schon der Anfang des Romans gibt eine Ahnung, dass Freude und Glück in diesem Werk nur spärlich gesät sind. Einsam wie weiland Caspar David Friedrichs Mönch am Meer präsentiert sich die Erzählerin Mathilda hier, die sich an die Niederschrift ihres Lebens macht, die nachzeichnet, was sie in das einsame Landhaus inmitten der ebenso einsamen Heidelandschaft im Norden Englands gebracht hat.
Mathilda im Tal der Tränen
Der „Pesthauch des Unglücks“ ist über sie hinweggezogen und hat sie ausgedörrt, weshalb es nun auf das Ende für Mathilda zugehen soll. Doch zuvor blickt sie zurück, um von diesem Unglück zu erzählen, das seit Kindesbeinen an ihr Begleiter war.
Aufgewachsen als junges Mädchen bei ihrer lieblosen Tante in Schottland ließ sie ihr Vater als Kind nach dem Tod seiner Frau bei seiner Schwester zurück. Die dort erfahrene Kälte wandelt sich erst in Wärme, als ihr Vater zurückkehrt und sie bei diesem Liebe und Verständnis findet. Doch das Glück währt nicht lang.
Hochgradig depressiv wird ihr Vater immer wieder von Dämonen heimgesucht, versinkt in Lethargie und kaum erklärbaren Seelenzuständen. Als er dann stirbt, ist es mit dem kurzzeitigen Glück dann sowieso vorbei. Angekündigt wird dieser Tod wieder einmal von einem Blitz, der auch hier wie schon im ein Jahr zuvor erschienenen Frankenstein einen Baum spaltet und damit den Verlust und die Zerrissenheit seiner Figur eindrücklich illustriert.
Gelungen malt Shelley diese kaum erklärbaren Zustände von Mathildas Vater aus (womöglich auch grundiert durch die Verlusterfahrungen des Todes zweier eigener Kinder, ehe ihr drittes Kind dann drei Tage nach Beendigung des Manuskripts zur Welt kommen sollte). Sie zeigt Mathilda im Unglück, die ganze Täler der Tränen durchschreiten muss und zusehends ihren Lebenssinn ähnlich wie ihr Vater verliert.
Manchmal redete ich mir ein, es sei ein Zauberbann verhängt worden und ich müsste ihn abwehren. Mein Vater sei von einer schrecklichen Vision geblendet, die ich austreiben müsse. Da versichte ich wie David, den bösen Geist mit Musik auszutreiben; und während des Singens hob ich meinen Blick zu ihm auf und sah seine tränennasse Augen auf mich gerichtet, seine Muskeln schienen sich völlig entspannt zu haben. Mit einem Freudenschrei sprang ich auf ihn zu und wollte mich in seine Arme werfen, doch er schob mich grob von sich und verließ den Raum. Nach diesem so geringfügigen Zwischenfall wurde seine Stimmung noch düsterer und sein Verhalten mir gegenüber noch abweisender.
Mary Shelley – Mathilda, S. 37
Anschauliche Schilderungen von Depressionen
Anschaulich erzählt sie von diesen depressiven Phasen und Schüben. Mit schon fast ödipalen Untertönen durchzogen ist Mathilda das Dokument einer beziehungsweise gleich mehrere gequälter Seelen, in denen wenig Hoffnung aufscheint. Hoffnung und Zuversicht gibt es nur wenig – dafür viel Lebensmüdigkeit und düstere Töne, versetzt mit kraftvollen Naturschilderungen, die die innere Handlung dieses Romans fortführen, spiegeln und bebildern.
Immer wieder meint man Caspar David Friedrich oder John William Waterhouse als Kulissenmaler für die Schilderungen am Werk zu sehen, etwa in einer der stärksten Szenen dieses Romans, wenn Mathilda schon fast ätherisch, ganz in weiß gekleidet über den schottischen See ihrem Vater in einem Ruderboot entgegenfährt, um damit auch ihre Welt vom Dauergrau plötzlich in Farbe gesetzt zu sehen.
Ich lag im Gras, umgeben von einer Dunkelheit, die nicht der geringste Lichtschein durchdrang. Es herrschte völlige Stille, denn die tiefe Nacht hatte die Insekten einschlafen lassen, die einzigen Geschöpfe, die in dieser Einöde ohne Baum und Strauch überlebten. Die Luft war von einem eigenartigen Schweigen erfüllt, das meine Sinne beruhigte, doch meine Seele anregte: mein Geist flatterte von Bild zu Bild und schien eine ganze Ewigkeit zu umfassen. In meinem Herzen war alles dunkel und ruhig, bis meine Gedanken sich verhedderten und schließlich in den Schlaf mündeten.
MAry Shelley – Mathilda, S. 137
In diesen Schilderungen ordnet sich der Roman klar in die Epoche der Romantik ein und zeigt, dass Mary Shelley neben den großen Handlungsbögen auch den Blick in das Innere beeindruckend beherrscht.
Versetzt mit vielen Zitaten aus anderen Werken der Literatur lassen sich für Kenner im Text neben biographischen Koinzidenzen im Leben Marys und Mathildas zudem Bezüge zu Mary Shelleys Ehemann Percy Byce Shelley und ihren eigenen Vater herauslesen. Neben Zitaten von Dantes Göttlicher Komödie bis hin zu Shakespeare soll auch Percy Shelleys Schreiben im Text seiner Gattin paraphrasiert sein, wovon im Deutschen nicht zuletzt Dank des kaum mehr bekannten Werk Shelleys aber kaum etwas zeugt, wie auch Stefan Weidle in seinem Nachwort schreibt.
Fazit
Mit Mathilda ist nun über 200 Jahre nach dem Entstehen endlich auch auf Deutsch Mary Shelleys zweiter Roman zu lesen. In dunkle Farben getaucht spürt die Autorin der Verzweiflung und den Gründen für ebendiese Verzweiflung im Inneren ihrer Figur nach. Ihr gelingt ein Roman, der anschaulich von Depressionen und verlorenem Lebenssinn erzählt. Zwar stiftet Mathilda selbst wenig Grund zur Freude, die Veröffentlichung dieses Romans tut es aber umso mehr!
- Mary Shelley – Mathilda
- Aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von Stefan Weidle
- ISBN 978-3-86532-870-0 (Pendragon)
- 196 Seiten. Preis: 22,00 €