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Jehona Kicaj – ë

Wie sich der Schmerz über Kriegsverbrechen bis in Körper hinein fortsetzen kann, das erkundet Jehona Kicaj in ihrem eindrucksvollen Debüt ë. Sie erzählt von den Gräuel des Kosovokriegs und den Auswirkungen, die dieser auf die Erzählerin bis heute nimmt – und von Zähnen, die zerrieben und bestimmt werden.


Vor wenigen Wochen gedachte man im Deutschen Bundestag am 30. Jahrestag dem Massaker von Srebrenica. Es war das schwerste Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg, bei dem achttausend muslimische Jungen und Männer von bosnisch-serbischen Truppen getötet wurden.
Obschon noch nicht lange her, sind die gewaltvollen Auseinandersetzungen, die unter dem Oberbegriff der Jugoslawienkrieg fast vor unserer Haustür stattfanden, heute zumindest aus dem kollektiven Bewusstsein hierzulande schon wieder weitestgehend verschwunden, auf dem hiesigen Buchmarkt wird das Thema eh nur als Randerscheinung behandelt.
Dass sich die Erinnerungen an die Verbrechen dieser Kriege aber in die Erinnerungen der Opfer des Krieges bis heute eingeschrieben haben, das zeigt Jehona Kicaj in ë eindrucksvoll.

Sichtbarstes Zeichen dieser Erinnerungen sind die Zähne und der Kiefer der Erzählerin. Denn sie knirscht derart stark mit den Zähnen, dass sich schon ein Splitter eines Zahns gelöst hat und der aufeinandergepresste Kiefer nur mit Druck und lauten Knackgeräuschen zu lösen ist. Obschon die Zähne zu den widerstandsfähigsten Teilen unseres Körpers zählen, droht der Erzählerin ein dauerhafter Schaden ihres Gebisses, weswegen sie einen Zahnarzt aufsucht, der ebenfalls alarmiert ist ob der rohen Kraft, die sich im Schädel der Erzählerin manifestiert.

Knirschende Zähne als Fortwirkung des Kosovokriegs

Jehona Kicaj - ë (Cover)

Die Gründe für dieses Knirschen und die Verspannungen ergründet Kicaj im Erinnerungstasten ihres Textes, der sich langsam vor uns Leser*innen entfaltet und preisgibt. Als Kind floh sie mit ihren Eltern vor dem Kosovokrieg, ehe die Gewalt dort völlig eskalierte.
Als albanische Minderheit hatte die Familie der Erzählerin eh schon kein leichtes Leben, was sich dann in den ethnischen Konflikten während der Jugoslawienkriege noch einmal potenzierte.

Feindlichkeit und Unterdrückung brach sie nun in roher Gewalt Bahn. Tötungen von Familien, Massengräber und Deportierungen der Albaner aus dem Kosovo in das Staatsgebiet Albaniens waren die grausamen Folgen in diesem Konflikt, dem die Erzählerin zwar räumlich entkommen sein mag, dessen Folgen aber auch in ihrer Familie und ihrem Körper noch fortwirken.

Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich kommen von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.

Jehona Kicaj – ë, S. 11 f.

Sprachlosigkeit und Traumata

Das Ankommen in Deutschland, die Schwierigkeit, das Erlebte Menschen zu vermitteln, die diesen Konflikt nicht erlebt haben und der Umgang damit von der Grundschule bis hinein in die Studienzeit, in dem die Erzählerin dann mit einer Exkursion nach Prishtina in Serbien reist, all das blitzt in den Erinnerungen auf und vermittelt ein Gefühl für das, wofür es selten Worte gibt: Traumata und Verletzungen, Erinnerungen und ein angemessener Umgang mit dem Erlebten.

Stimmig erzählt Kicaj ausgehend vom Leitmotiv der Zähne von eigenen Verletzungen wie auch den Möglichkeiten, die die Arbeit mit Zähnen, sogenannten Odontogrammen, bietet. So war und ist die Identifikation über diese Zahnbilder ebenso verlässlich wie etwa ein DNA-Test und ermöglichte in der forensischen Aufarbeitung der Massaker viele Identifizierungen. Damit brachte die zahngestützte Arbeit der Forensiker den Angehörigen Klarheit über den Verbleib ihrer Vermissten – und der Beweisführung in der juristischen Aufarbeitung der Jugoslawienkriege wichtige Erkenntnisse und Belege.

Es ist ein motivischer Gang von vielen in diesem Buch, mit dem die Autorin vom Schicksal einer Überlebenden auf die Fortwirkungen der Gewalt vor Ort und die Bruchlinien zielt, die den Balkan seit dieser Zeit durchziehen. Zwar mögen sie nicht immer sichtbar sein, für die Betroffenen sind sie aber stets spürbar, auch wenn schon über zwei Dekaden seit den Gealtexzessen dort vergangen sein mögen.

Das ist eindrucksvoll erzählt und besticht durch den klaren Erzählton Kicajs, der souverän mit unterschiedlichen Motiven und Handlungsfäden vom Persönlichen bis zum Gesellschaftlichen spielt. Ihr gelingt ein Debüt, das den Blick auf den hierzulande schmählich unbeachteten Konflikt richtet und der sprachlich höchst ansprechend von Sprachlosigkeit und dem Unaussprechlichen erzählt.

Fazit

Gewalt, die sich in Körper und Erinnerungen eingeschrieben hat und der Umgang, dazu die Frage nach dem, was Wörter ausdrücken können, wenn sie doch eigentlich fehlen, das sind die die Themen, die Jehona Kicaj in ihrem Roman bravourös umkreist und sichtbar macht. Mit ë gelingt ihr ein fabelhaftes Debüt, das die Erinnerung an den Kosovokrieg wachhält und geradezu universell von Versehrung und Sprachlosigkeit nach dem Erleben solcherlei Gewalt erzählt, die bis heute fortwirkt.


  • Jehona Kicaj – ë
  • ISBN 978-3-8353-5949-9 (Wallstein)
  • 176 Seiten. 22,00 €
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