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José Rizal – Noli me tangere

Das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse dürfte in Buchhandel und Bibliotheken für einiges Stirnrunzeln und Grübeln gesorgt haben. Ein Thementisch mit prominenten Stimmen und Romanen der Philippinen? Gar nicht so einfach, denn nicht nur geografisch sind uns Philippinen recht fern. Auch literarisch findet das Land im Buchhandel hierzulande so gut wie gar nicht statt.
Der Insel-Verlag präsentiert nun mit Noli me tangere einen Klassiker aus der philippinischen Literaturgeschichte aus dem Jahr 1887, bei dem nicht nur die Handlung höchst dramatisch ist. Auch die Geschichte ihres Verfassers José Rizal könnte einem Roman entsprungen sein…


Im März 1887 erschien Noli me tangere des philippinischen Schriftstellers José Rizal, das in seinem Heimatland nach nur wenigen Monaten auf den Index gesetzt wurde. Gedruckt worden war es aber nicht dort, sondern in Berlin, wo es mit einer Auflage von gerade einmal 2000 Exemplaren erschien. Dennoch war die Sprengkraft des Buches für die Machthaber des südostasiatischen Inselstaats so immens, dass sie die Verbreitung des Buchs stoppen wollten – ohne großen Erfolg, wie wir heute wissen.

Warum aber die Bestrebungen der Machthaber, dieses Buch auf den Index zu setzen und schon alleine den Besitz des Buchs zu bestrafen? Dies liegt in der Schonungslosigkeit begründet, mit der José Rizal im Gewand des Romans die Zustände auf den Philippinen zeigte und kritisierte.

Alles beginnt im Roman mit der Wiederkehr eines verlorenen Sohns. Juan Crisóstomos Ibarra y Magsalin ist aus Europa zurückgekehrt in sein philippinisches Heimatdorf. Wie sein Schöpfer hat auch er Aufenthalte in Deutschland und Polen hinter sich und hofft nun auf Informationen über das Schicksal seines Vaters, den er dort zurückließ.

Rückkehr auf die Philippinen

Zu seiner großen Bestürzung muss er feststellen, dass sein Vater gestorben ist – und das im Gefängnis, was für einen Mann seines gesellschaftlichen Ranges und Standes eigentlich undenkbar war. Warum dem so ist, das muss Ibarra gleich zu Beginn seiner Rückkehr feststellen. So spielten Kolonialherren, die aus Spanien stammenden Mönche und Machthaber, eine entscheidende Rolle beim traurigen Schicksal seines Vaters, wie ihm ein Freund erklärt.

„Wie Sie selbst wissen“, begann er, „war Ihr Vater der reichste Mann in der Provinz, und obwohl viele Menschen ihn liebten und achteten, wurde er von anderen gehasst und beneidet. Wir Spanier, die wir auf die Philippinen kommen, sind leider nicht das, was wir sein sollten; das gilt genauso für einen Ihrer Großväter wie für die Feinde Ihres Vaters. Der ständige politische Wechsel, der Sittenverfall in den höchsten Kreisen, die Günstlingswirtschaft, die geringen Reisekosten und die kurze Dauer der Reise seit dem Bau des Suezkanals sind an allem schuld. Was aus Spanien hierherkommt, ist hoffnungslos verkommen, und wenn einer darunter ist, der etwas taugt, hat ihn das Land bald verdorben. Nun denn, Ihr Vater hatte unter den Priestern und anderen Spaniern sehr viele Feinde.

José Rizal – Noli me tangere, S. 32 f.

Schon hier zeigt sich die Kritik an den Kolonialherren, die die Handlung von Noli me tangere im Folgenden vertiefen wird. Die herablassende Haltung des spanischen Klerus, bei dem Franziskaner, Jesuiten und Dominikaner entscheidenden Einfluss auf die philippinische Bevölkerung auszuüben versuchen, Bürgermeister und Machthaber, deren Frauen sich nicht zu schade sind, um sich auf offener Straße in unflätigster Gossensprache zu beschimpfen und bekämpfen – und eine Hoffnungslosigkeit, die den Kampf der Philippiner für mehr Selbstbestimmung kennzeichnet. José Rizal beschreibt all das in seinem Roman, der von zwei Vorhaben erzählt, die Crisóstomo Ibarra nach der Schreckensnachricht vom Tod seines Vaters vor Ort verwirklichen will.

So möchte er mit dem Bau einer Schule vor Ort die Lebensverhältnisse verbessern und durch Bildung auch anderen die Chance auf ein Vorankommen im Leben bieten, wie er sie selbst erfahren hat. Und dann ist da auch noch María Clara, um deren Hand er anhalten will. Doch in Sachen Schonungslosigkeit bleibt sich José Rizal auch hier treu und man verrät nicht allzu viel, wenn man feststellt, dass es um die Chancen dieser beiden Vorhaben eher schlecht bestellt ist, ehe Noli me tangere in einem eindrücklichen Finale endet…

Schonungslose Kritik an Macht und Klerus

José Rizal - Noli me tangere (Cover)

Noli me tangere kritisiert sehr offen und engagiert die Missstände auf den Philippinen Ende des 19. Jahrhundert. Die Machthaber und der nach Einfluss strebende Klerus, die Überheblichkeit der Spanier gegenüber der einheimischen Bevölkerung und die Brutalität, mit der jede Form von Souveränitätsbestrebung bekämpft wird: liest man José Rizals Roman, wird auch hundertvierzig Jahre seit seinem Erscheinen klar, warum das Buch den Mächtigen ein Dorn im Auge war.

Auch lässt sich im Lauf der Lektüre eine gewisse Kongruenz zwischen Verfasser und seinen Figuren ist nicht nur im Handeln, sondern auch im Sprechen und Denken feststellen. Denn in engagierten Debatten über den Freiheitskampf und die wütende Anklage gegen die heuchlerischen Mönche hört man auch immer wieder José Rizal selbst, der mit Crisóstomos Ibarra nicht nur biografische Wegmarken wie die des Aufenthalts in Europa teilt.

Durch den Aufenthalt in Europa erklärt sich im Übrigen auch der Umstand, dass Noli me tangere einst in Berlin gedruckt wurde. Nach Studienaufenthalten in Spanien war es Deutschland, das Rizal im Anschluss bereiste und wo einige Zeit verbrachte. Nach einem Aufenthalt in Heidelberg (wo heute noch eine Straße nach ihm benannt ist) führte ihn seine Reise nach Berlin wo er dann das 1884 in Spanien begonnene Werk mithilfe der finanziellen Unterstützung durch einen Freund drucken lassen konnte.

Zwar wurde das Buch ja postwendend verboten, davon ließ sich José Rizal allerdings nicht aufhalten, sondern verfasste mit El Filibusterismo sogar noch ein weiteres Buch, das auf den Geschehnissen von Noli me tangere aufbaute und den Versuch eines gewaltsamen Umsturzes beschrieb. Wenig überraschend landete das Buch ebenfalls auf dem Index – und sein Verfasser nach seiner Rückkehr auf die Philippinen im Gefängnis, nachdem er zuvor von den Machthabern „nur“ in Verbannung geschickt worden war.

Eine Botschaft über den Tod hinaus

Am 30. Dezember 1896 wurde José Rizal in Manila dann hingerichtet, was aber die Verbreitung seines Werks und seiner Botschaften nicht stoppen konnte, im Gegenteil. So wurden seine Werke in den 1950er-Jahren zur Pflichtlektüre auf den Philippinen, die sich zwei Jahre nach Rizals Hinrichtung für unabhängig erklärten und von den spanischen Kolonialherren lossagten.

Heute ist der 30. Dezember der Rizal-Tag, an dem die Philippinen ihrem Nationalhelden gedenken, dessen Denken und Handeln immer wieder deutlich aus Noli me tangere herauslesen lässt.

Und auch wenn man dem Buch eine sprachlich etwas frischere Übersetzung als die Annemarie del Cueto-Mörth gewünscht hätte, so ist die Übersetzung und die Zugänglichmachung dieses Textes doch eine große Freude, erlaubt uns dieses Buch doch den Blick in eine koloniale Welt, der Machtmechaniken von Rizal hellsichtig und scharf kritisiert wurde. Zudem lässt das Buch die Geschichte der Philippinen etwas besser verstehen und ist für Bibliotheken wie auch den Buchhandel definitiv ein Gewinn, denn Noli me tangere macht die literarische Welt zumindest etwas weiter.


  • José Rizal – Noli me tangere
  • Aus dem philippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth
  • Mit Nachworten von Lieselotte Kolanoske und Filomeno V. Aguilar Jr.
  • ISBN 978-3-458-64546-7 (Insel)
  • 542 Seiten. Preis: 28,00 €