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Die Literaturkritik und der Nachwuchs

Wo ist er, der Nachwuchs in Sachen Literaturkritik? In etablierten Formaten und Medien findet er zumindest kaum statt, was zu einem echten Problem werden kann. Denn die Ignoranz von literaturkritischem Nachwuchs gräbt dem zusehends versickernden Gespräch in der literarischen Öffentlichkeit zusätzlich das Wasser ab. Dabei ginge es auch anders…


Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse fand auf der Bühne von ARD, ZDF und 3sat eine Diskussion zum 50. Geburtstag der SWR-Bestenliste statt. In dieser Liste stimmen Monat für Monat 30 Literaturkritiker und Literaturkritikerinnen über Neuerscheinungen ab und erstellen so zehn Plätze umfassende Empfehlungsliste als literarische Alternative zur rein auf Verkaufserfolg blickenden Spiegel-Beststellerliste.
Das Fortdauern dieser literarkritischen Institution dauert nun schon ein halbes Jahrhundert an. In Frankfurt wurde das im Gespräch mit den drei KritikerInnen und Jurymitgliedern Iris Radisch, Helmut Böttiger und Cornelia Geißler dementsprechend gefeiert. Als Rückblick alleine auf Vergangenes sollte das Gespräch aber nicht funktionieren, vielmehr stand die Veranstaltung unter der Fragestellung Wie sieht die Zukunft der Literaturkritik aus?

Ja, wie sieht sie aus? Darüber herrschte auf der Bühne Uneinigkeit. Haben junge Menschen angesichts prekärer Bezahlungen und unsicherer Zukunftsaussichten überhaupt noch Lust auf eine Karriere in den Medien? Sind TikTok und Co nicht vielmehr die Plätze, an denen das Gespräch über Bücher lebt und die Buchkultur Blüten treibt? Braucht es die Literaturkritik überhaupt noch, wenn doch die Lust auf Kritik und ästhetische Auseinandersetzung mit Büchern und Thesen sinkt, sich das literarische Gespräch in der Öffentlichkeit in Hausbesuchen und Spaziergängen mit AutorInnen erschöpft, um allzu kritische Worte zu vermeiden?

Fragen in Frankfurt

Die Runde griff viele Fragen auf und war doch auch in ihrer Zusammensetzung bemerkenswert. Denn obschon man sich viele Gedanken über die Zukunft der Literaturkritik machte, so war sie zumindest personell auf der Bühne nicht vertreten. Unter den arrivierten KritikerInnen (Jahrgänge 1956 bis 1965) stach Moderator Carsten Otte (Jahrgang 1972) als Jungspund in der Runde heraus. Dementsprechend schwer tat sich auch mancher mit den Begrifflichkeiten der neuen Medien und ihrer vielfältigen Ausprägungen. Jemanden, der aus dem eigenen Tun heraus eine Perspektive auf den Themenkomplex beisteuern hätte können, er fehlte.

Diskussion zur Rolle der Literaturkritik und des Nachwuchses, Jury der SWR-Bestenliste
Bildquelle: Screenshot SWR/SWR Bestenliste

Nun soll an dieser Stelle keineswegs ein plumpes Altersbashing betrieben werden. Die Gedanken der Runde waren ja durchaus bedenkenswert und auch in Bezug auf neue Medien in Teilen bemerkenswert kundig. Doch die Tatsache, coram publico über den Generationenwechsel in der Literaturkritik zu sinnieren, ohne die nächste Generation überhaupt ins Gespräch einzubinden, es ist zumindest ein bemerkenswerter Umstand.

Mit diesem Widerspruch einer Klage über den Niedergang der Literaturkritik und eine gleichzeitige Nicht-Einbindung nachwachsender Kräfte ist die Veranstaltung aber nicht alleine. Auch bei der SWR-Bestenliste selbst lässt sich dieser Abriss zwischen den Generationen gut beobachten. LiteraturkritikerInnen unter 50 Jahren sind im Gremium Mangelware.

Natürlich ließe sich argumentieren, dass eine solche Jury nur arrivierte Kritikerinnen und Kritiker in ihren Reihen einlädt, die über ein über die Jahre herausgebildetes literaturkritisches Wissen und Sensorium verfügen. Wenn man die jungen (jung hier im Sinne von U40, wenn nicht gar U50) Stimmen, allerdings gar nicht einbindet und ihnen die Möglichkeit nimmt, sich in solchen Runden zu ebenso arrivierten KritikerInnen heranzureifen und ihnen die Chance zum literaturkritischen Wachsen und Ausbilden ihrer Urteilskraft verwehrt, gräbt man sich und seiner Zunft letzten Endes selbst das Wasser ab.

Eine Balance zwischen Nachwuchsförderung und dem Erfahrungsschatz arrivierter Kräfte wäre wichtig

Hier wie überall sonst wäre die Balance zwischen Nachwuchsförderung und dem geteilten Erfahrungsschatz etablierter Mitglieder im Sinne einer Zukunftsfähigkeit wichtig, um nicht den Anschluss zu verpassen und fürderhin die eigene Relevanz zu wahren. Auch entginge man so der Gefahr einer Überalterung einer Jury, die bei einem solchen Strömungsabriss der Generationen irgendwann droht.

Auch andere Gremien tun sich schwer damit, Nachwuchskräfte einzubinden. Das reicht von Jurys wie der des Büchner-Preises oder der Jury des Deutschen Buchpreises bis hin zu literaturkritischen Formaten wie dem Literarischen Quartett. Sie alle fremdeln damit, junge Stimmen zu fördern und in ihr Tun einzubinden.

Letztgenanntes Format öffnet sich zwar immer wieder in Form von U21- und Zuschauerspezials, die im Rahmen der Leipziger und Frankfurter Buchmesse auf der Bühne mit Gastgeberin Thea Dorn stattfinden, in die Mediathek schaffen es die Ausgaben nur selten. Und noch seltener schafft es ein junger Gast von diesen Ausnahmeveranstaltungen in die reguläre Sendung. Einzig in der Ausgabe vom September 2023 lud man eine Teenagerin aus der U21-Ausgabe ins die „echte“ Fernsehaufzeichnung ein. Bis heute ein Ausnahmefall.

Mit den Jurys von Literaturpreisen ist es nicht anders. So sind aktuell BookTok und dessen junge KonsumentInnen zwar der einzige Anker, die den schrumpfenden Buchmarkt noch halbwegs stabilisieren. In Jurys und den wenigen noch existenten Literaturformaten in Funk und Fernsehen werden sie aber nicht einbezogen. Blogger und Instagrammer sollen Buchpreise eher werbend flankieren und ihnen über ihre Kanäle Aufmerksamkeit verschaffen, denn sie wirklich in die Entscheidungsfindung einzubinden (und wenn das beim Deutschen Buchpreis tatsächlich passiert, dann stellen die Porträts fast immer erst die Profession als BuchhändlerInnen nach vorne, um dann noch kurz ihre Social Media-Präsenz zu erwähnen).

Anschlussfähigkeit an nachkommende Generationen wahren

Viele ambitionierte Nachwuchskritiker*innen hat dieser zweifelhafte Umgang und die Abwertung durch das etablierte Feuilleton und andere Schaltstellen des Literaturbetriebs schon vergrault. Dabei sollte man angesichts der schrumpfenden Plätze für Literaturkritik solche Bemühungen doch ernster nehmen, junge Stimmen einbinden, ihnen die Chance zu Entwicklung zu geben und damit auch die Literaturkritik breiter in der Masse zu verankern.

Natürlich muss man auch Differenzierungskraft an den Tag legen. Nicht jedes BookTok-Buch ist ein literarisches Gespräch wert, nicht jeder BookToker, der ein Buch vor die Kameralinse hält, gleich ein neuer Marcel Reich-Ranicki. Aber es gibt sie eben doch, literarisch versierte, rhetorisch kundige und in ihrem Urteil konsistente Stimmen, die sich nun vermehrt auch BookTok, aber immer noch auch auf Instagram mit seinem Bookstagram, in Podcasts oder gar dem schon wieder recht verwaisten Feld der Literaturblogs tummeln.

Junge LiteraturkritikerInnen, die sich in ihrer Arbeit mit vernachlässigten Phänomenen wie etwa der Literatur aus Osteuropa beschäftigen oder die neue Formen für ein literarisches Gespräch ausprobieren und in der Vermittlung andere Wege gehen; man sollte sie nicht belächeln oder lediglich als unerwünschte Konkurrenz für das eigene Tun zu begreifen. Im Gegenteil: es kann nur guttun, diese Stimmen einzubinden und ihre Perspektiven auf Literaturkritik wahrzunehmen, ganz im Sinne der Anschlussfähigkeit von Literaturkritik an nachwachsende Generationen.

Fazit

Es wäre an der Zeit für Jurys und Formate, sich jungen Talenten zu öffnen und diese aktiv zu suchen und zu fördern. Statt bei den üblichen Verdächtigen zu verharren und jungen Literaturkritikerinnen damit die Chance zur Entwicklung und Etablierung zu verwehren, wäre es höchst dringlich, diese in Formate und Gremien einzubinden, um so nicht am eigenen Ast zu sägen. Schon alleine deshalb, damit wohlgeschätzte Institutionen wie die SWR-Bestenliste auch in 50 Jahren noch Relevanz und Einfluss genießen. Der Generationenumbruch, er müsste jetzt eingeleitet werden, um ihn dann gestaltend zu begleiten und sich so für die Zukunft zu rüsten.

Mit einer kontinuierlichen Förderung junger, kritischer Stimmen könnte es gelingen. Weiter in eine Zukunft zu gehen, in der Literaturkritik Einfluss und Ansehen genießt, das erscheint mir ein Ziel, das uns alle als Literaturinteressierte doch einen sollte. So müsste einem dann auch angesichts der in Frankfurt diskutierten Frage nach der Zukunft der Literaturkritik etwas weniger bang sein und es ließe sich zuversichtlicher nach vorne schauen.


Bildrechte Titelbild: Frankfurter Buchmesse/Anett Weirauch