Es ist ein Sturmtief namens Xaver, das in Élisabeth Filhols Roman Doggerland alles durcheinanderbringt. Ein Sturmtief, wie es selten zuvor eines gab.
Sie haben gesehen, wie es geboren wurde, wie es im Meer vor Island aus dem Nichts auftauchte. Sie verfolgten gebannt, wie es sich entfaltete, eingenistet im Inneren eines Tiefdruckgebiets, gezeugt von einem Schwall subtropischer feuchter Luft, der sich an die Grenzen des atlantischen Ozeans verirrt hatte. Und nun explodiert es förmlich, eine Bombe. Wie in einem Film, den man im Schnellvorlauf abspielt, da war nichts und nun ist es da. Man spricht es auf Französisch eher wie Xavère aus und weniger wie Xavier, noch ist Xaver keine Katastrophe, noch ist es ein schönes Anschauungsobjekt. Als solches verdient es, auf Initiative der europäischen Meteorologen, mit einem eigenen Taufnamen ausgezeichnet zu werden. Es bringt alles dafür Nötige mit, tauchte unerwartet auf, war unvorhersehbar, und ist ausreichend spektakulär.
Filhol, Elisabeth: Doggerland, S. 7
Schade nur, dass die Attribute Xavers nicht auf Filhols Roman anwendbar sind. Denn gegen den Sturm im Buch nimmt sich Doggerland selbst aus wie ein laues Lüftchen.
Einen Vorwurf kann man Élisabeth Filhols Roman nicht machen. Denn wer will, der lernt in Doggerland jede Menge. Über das Doggerland selbst, jenes verschwundene Land zwischen England und Dänemark, das es einst beide Länder verband und mithilfe dessen man trockenen Fußes von Skandinavien nach Großbritannien gelangen konnte.
Man erfährt vieles: über die Entstehung jenes Doggerlands, über archäologische Funde, Radiokarbondatierungsmethoden, Völkerbewegungen und die Entwicklung der Flora. Man liest von kantabrischen Winden, Wind-Berechnungsmodellen, Gletscherwanderungen und den Faktoren, die zum Verschwinden des Doggerlandes führten. Filhol erzählt von Forschern wie Clement Reid oder Dick Mol, von Palynologie oder Unterwasser-Archäologie. Und sie berichtet über Tsunamite, die Erdölindustrie, die damit verbundene wirtschaftliche Prosperität, isostatischen Rebound, Rifte, und dergleichen mehr.
Fakten statt Erzählung
In vielen Passagen hat man das Gefühl, statt eines erzählenden Romans ein Sachbuch randvoll mit Fakten und Ideen zu lesen. Leider sprechen auch die Figuren in diesem Roman beständig, als würden sie Dialoge für eine Dokumentation aufsagen.
„Bald fühlst du dich bei diesen Menschen wie zu Hause. Sie sind also unsereresgleichen. Aber selbst wenn wir das gleiche Gehirn haben und den gleichen Planeten bewohnen, stößt du bei deiner Arbeit doch an Grenzen. Du besuchst die Erde, die sie trägt, lässt sie auf dich wirken, aber sie gibt dir nur begrenzt Auskunft, du wirst nie erfahren, in welcher Welt sie eigentlich leben.
„Genau, ihre Kultur bildet eine Barriere. Ich werde nie über die nötigen Codes verfügen. Sie gleichen uns ja, und sind zugleich so verschieden von uns, dass es nur natürlich ist, dass wir Mühe haben, sie zu verstehen. Wir können das auf die Zeit schieben, die uns voneinander trennt. Auch wenn achttausend Jahre gemessen an der Menschheitsgeschichte nicht gerade viel sind. Die Menschen aus dem Mesolithikum haben keine Pyramiden gebaut, sie haben keine Megalithen errichtet, aber ihre Kultur ist deshalb weder ungeschliffen noch rudimentär. Vielleicht war ihre Gesellschaft im Ganzen betrachtet sogar lebenswerter als unsere, das ist gut möglich.
Filhol, Elisabeth: Doggerland, S. 48
Im Kern steckt in Doggerland eine interessante Geschichte
Das ist schade, denn eigentlich ist die Geschichte, die Doggerland erzählen will, eine interessante. Zum Einen ist da die Geschichte der Natur. Xaver, der sich wie ein Tsunami aufbaut, und über England in kaum gekannter Intensität zu wüten beginnt. Und dann ist da auch das Doggerland selbst, das durch den Klimawandel verschwand und nun nur noch Forscher wie Margaret oder Marc interessiert.
Deren Geschichte ist der andere Part, der den Reiz des Buchs ausmachen könnte. Die Betonung liegt auch hierbei leider auf dem Konjunktiv. Denn dieses Potenzial schöpft Doggerland ebenfalls nicht wirklich aus.
Einst verband Margaret und Marc eine studentische Liaison. Dann verlor man sich aus den Augen. Sie forscht seither wissenschaftlich über die Doggerbank und das Doggerland. Mann, Kind, universitäre Forschung und ein Haus in St. Andrews, das ist nun Margarets Leben. Marc hingegen interessiert sich ebenfalls für das Forschungsgebiet, allerdings aus wirtschaftlichen Gründen. Denn er hat die Seiten gewechselt und ist nun in der Erdölindustrie tätig. Beide machen sich trotz Xaver auf den Weg nach Esbjerg in Dänemark, wo sie sich auf einem Symposium nun endlich wieder sehen sollen.
Nicht ausgeschöpftes Potenzial
Ein Sturm, der die Figuren faktual und emotional beeinflusst. Eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit, Wissenschaft vs. Industrie, Familienleben vs. einsamer Wolf. Es steckte viel Potenzial in diesen Anlagen, aus dem Élisabeth Filhol für mein Empfinden viel zu wenig macht. Sie beschreibt über dutzende Seiten Xaver, um ihn dann für das Symposium in Dänemark auszublenden. Sie findet kein rechtes Maß für die Faktenhuberei, die ihre eigentliche Geschichte an die Wand drückt.
Und sie lässt ihre Figuren ernsthaft Dinge wie die folgenden sprechen:
„Am Ende deines Studiums“, sagt Margaret, „hast du dich ins Abenteuer gestürzt. Nachdem du die Nordsee bereits gedanklich umkreist, sie im Hörsaal in ihren theoretischen Grenzen studiert hattest, hast du beschlossen, dich ihr zu stellen. so wie ich das auf meine Art auch getan habe, da mir ihre bloßen Umrisse nicht genügten, auch wenn ich nicht so ungestüm vorangegangen bin wie du, als ewig Rastloser. Das ist kein leere Raum. Das ist ein Raum, der von allen Seiten durchkreuzt wird. Indem man sich ihm stellt, füllt man ihn aus. Man schafft es, ihn zu besetzen. Man fordert die Kartografen heraus, die daraus einen weißen Fleck auf der Landkarte gemacht haben, dabei ist dieser Ort seit Menschengedenken bewirtschaftet worden, durchquert worden, kartiert worden, in der Fiktion, in den Gründungsmythen, in den mündlich weitergebenen Erzählungen.
Sie benennen ihn, orten ihn, geben ihm eine Himmelsrichtung, verwurzeln ihn symbolisch, festigen von einer Generation zur nächsten eine sehr genaue Kenntnis dieses Gebietes. Wenn man das Gebiet des Doggerlands kartografiert, wo heute das Meer ist, dann klärt man damit etwas, das nur unzureichend geklärt wurde, nicht richtig definiert wurde, so als würde man die Pixeldichte pro Zoll erhöhen, so lange bis man eine Brücke von einer Seite zur anderen spannen kann, von der Küste Jütlands zur Küste Yorkshires. (…)
Filhol, Élisabeth: Doggerland, S. 249
Wer um Himmels Willen spricht so? Selbst wenn es sich um rhetorisch beschlagene und wissenschaftlich versierte Figuren handelt, sind diese Erklärdialoge doch fernab jeder Realität und auch jedes literarischen Sprechens. Hier findet keine wirkliche Kommunikation statt, hier werden Figuren nur gezeigt, statt sie miteinander ins Gespräch treten zu lassen. Und so gewinnen Figuren keine Konturen und bleiben dadurch leider mehr als blass.
Fazit
Man kann die Metaphern, die im Text überdeutlich ausbuchstabiert werden, gelungen finden. Die Dichotomien von Forschung und Industrie, von Archäologie des Gestern und der Zukunft des Erdöls gut herausgearbeitet finden. Oder die Erzählung um Marc und Elisabeth und ihre nicht aufgearbeitete Geschichte gelungen finden. Ich tue es leider nicht.
Für mich gibt Doggerland viele Versprechen, die leider allesamt nicht eingelöst werden. Statt durch Figuren und Handlung eng an den Text gebunden zu werden, brachte mich Élisabeth Filhol mit ihrer stilistisch eigenwilligen Prosa zum gedanklichen Abschweifen. Und das leider ein ums andere Mal. Hier wird viel Potenzial verschenkt. Somit von mir keine Empfehlung. Leider.
- Élisabeth Fihol – Doggerland
- Aus dem Französischen von Cornelia Wend
- ISBN 978-3-96054-232-2 (Edition Nautilus)
- 272 Seiten. Preis: 22,00 €