Zunächst ist da noch die Larve, deren Fähigkeiten äußerst limitiert sind. Doch nach der Verpuppung entschlüpft dem Kokon ein schimmernder Schmetterling, dessen wahres Wesen vorher nicht absehbar war. Eric Carle hat vor fast genau 50 Jahren ein Bilderbuch daraus gemacht – ein halbes Jahrhundert später ist bei Frank Schätzing von dieser Unbedarftheit und Glorifizierung in Sachen Schmetterlingsverpuppung nichts mehr übrig. Die Tyrannei des Schmetterlings entführt zu den dunklen Seiten des Silicon Valley und bietet ein erschreckendes Zukunftsszenario. Denn was ist, wenn wir mit den Technologien, die gerade von Google, Facebook und Co. ersonnen werden, einen Schmetterling heranzüchten, dessen Flügelschläge einen wirklich Hurrikan auslösen? Könnten wir eine solche Katastrophe wirklich verhindern?
Die Raupe bei Frank Schätzing heißt A.R.E.S. und ist eine künstliche Intelligenz, auf die der Undersheriff Luther Opoku im Hinterland von Kalifornien stößt. Gebaut und gefüttert wird sie in einem geheimen Forschungslabor des fiktiven Internetriesen Nordvisk. Der Mord an einer hochrangigen Mitarbeiterin des Unternehmens bringt Luther auf die Spur des Treibens des Konzerns. Dabei wird er auch mit den Chancen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz konfrontiert – und erfährt auch schon bald am eigenen Leib, welche unfassbaren Möglichkeiten A.R.E.S. ihm und schlussendlich der ganzen Menschheit bietet. Doch können wir mit unseren begrenzten Fähigkeiten überhaupt eine Technologie beherrschen, die darauf angelegt ist, unseren Verstand zu übersteigen? Darum kreist schlussendlich der neue Roman des Kölner Bestsellerautors.
Höher, weiter, Schätzing
Es gehört zur schriftstellerischen DNA Schätzings, immer den großen Wurf zu wollen. Begann alles noch übersichtlich in Lautlos mit einem Attentat auf den amerikanischen Präsidenten in Deutschland, so steigerte sich der Kölner zusehends. In Der Schwarm blies er dann schon zum Angriff aus dem Meer heraus auf die gesamte Zivilisation, ehe er in Limit noch einmal eins draufsetzen wollte. Limit kannte jenes ironischerweise nicht, war 1300seitige Space Opera und Globalthriller. Gelungen? In meinen Augen scheiterte hier Schätzing an den eigenen Ansprüchen. Danach folgte noch die Israel-Saga Breaking News, der Ursprünge und Folgen des Nahostkonflikts auf diesmal knapp unter 1000 Seiten kondensierte. Und jetzt eben Die Tyrannei des Schmetterlings. Silicon-Valley-Roman, Thriller und Kassandra-Ruf zugleich.
Mit dem Schmetterling hat Frank Schätzing aus zwei Gründen ein schönes Bild für seinen neuen Roman gefunden. Zum Einen ist sein Wesen ein gutes Symbol für den Plot, der manche überraschende Ent-Puppung bzw. Volte bereithält. Und zum anderen spiegelt sich in der achsensymmetrischen Form eines Schmetterlings auch gut die Kernidee, die hinter dem Roman steht (ohne hier natürlich verraten zu wollen, welche dies ist). In seinen angelegten Bögen zeigt sich aber schon wieder diese Steigerungswut Schätzings, gemäß dem alten Bond-Motto: die Welt ist nicht genug. Und so muss auch Luther Opokus in diesem Thriller an seine Grenzen gehen und darüber hinaus. Schätzing konfrontiert den Undersheriff mit den Möglichkeiten und Abgründen der IT-Welt, lässt ihn auf CEOs und Forscher treffen und vermittelt dem Mann stellvertretend für uns Leser den aktuellen Stand der digitalen Forschung.
Schätzing im Silicon Valley
Und dass sich Schätzing mehr als ausführlich mit der Materie auseinandergesetzt hat, davon zeugt nicht nur sein Nachwort. Er empfiehlt im Abspann viele weiterführende Lektüren , möchte man sich im Anschluss noch tiefer in die Themen einarbeiten. Auch begab sich Schätzing zusammen mit seinem Verleger Helge Malchow auf Recherchereise in Silicon Valley und traf dabei Größen wie etwa Jaron Lanier oder den Investor Peter Thiel. Von den Erkenntnissen und der nachgespürten Geisteshaltung zeugt unter anderem folgende Passage:
„Und welcher Vision sehen wir hier beim Werden zu?“
Van Dyke machte eine Handbewegung, als überlasse er die weitere Beantwortung der riesigen Maschine.
„Sie wollen die Gesellschaft verändern. So viel habe ich kapiert.“
Der blonde Mann lächelte, als habe ihm Luther einen schon bekannten Witz erzählt. „Sie müssen wissen, Undersheriff, das Silicon Valley ist die eine Besinnungsstätte für Besinnungslose. Lauter Junkies im Taumel ihrer Ideen, und die Droge heißt Machbarkeit. Jeder will zeigen, dass es geht. Dass alles geht. Egal was. Dieses Fleckchen Kalifornien auf dem wir uns blähen wie das expandierende Universum, fiele indes der Beliebigkeit anheim, hätten wir uns nicht auf unser Mantra verständigt.“
„Das da lautet?“
„Menschheitsprobleme zu lösen“.
„Nichts weiter?“
„Nur diese Kleinigkeit.“
Schätzing, Frank: Die Tyrannei des Schmetterlings, S. 147
Dabei muss aber trotz aller Innovation und allem Streben nach Neuem festhalten – das Thema von Schätzings neuem Buch ist es nicht. Das Feld, das er in Die Tyrannei des Schmetterlings beackert, ist wahrlich kein Neues. Ausgehend vom allmächtigen Bordcomputer HAL in Stanley Kubricks 2001: Odysee im Weltraum bis hin zu den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister ist es immer wieder die außer Kontrolle geratende Technik, die Kreative beschäftigt hat. Proportional zu den wachsenden Möglichkeiten der Technologie stieg auch die kreative Beschäftigung mit dem Topos, sei es auf literarischer oder filmischer Ebene.
Alleine der literarische Output der letzten Jahre beziehungsweise Monate zeigt, wie vielfältig und aktuell das Thema der Digitalisierung und deren Folgen abgehandelt wird. Genannt seien an dieser Stelle zuallererst das Schwesterbuch zu Schätzings Werk, Der Circle von Dave Eggers. Aber auch Bücher wie Josefine Rieks Serverland oder Hologrammatica von Tom Hillenbrand sind hierbei Beispiele (und zudem fast durchgängig bei KiWi erschienen)
Die Ambitionen Schätzings: Fluch und Segen
Im Vergleich zu allen Referenzbüchern (und den von Schätzing oftmals im Buch zitierten popkulturellen Quellen) lässt sich konstatieren, dass Schätzing am weitesten ausholt und auch am meisten will. Das ist Fluch und Segen zugleich. Kaum ein zeitgenössischer Schriftsteller geht so weit und ersinnt derartig ausgeklügelte und detailreiche Plots. Doch wo sich andere Autoren beschränken können, und nicht alles ausführlich beschreiben und ausmalen müssen, da fällt dies Schätzing ausnehmend schwer. Natürlich hat der Mann recherchiert und birst schier vor Erlebtem und Weitergedachtem. Doch diese Fülle an Themen und Ideen macht Die Tyrannei des Schmetterlings leider nicht besser. Mir persönlich wären gut 100 Seiten weniger an Exkursen und Abschweifungen zugunsten eines fokussierten Plots lieber gewesen. Warum nicht ein Thriller und ein ergänzendes Sachbuch, so wie es Schätzing schon einmal beim Schwarm praktiziert hat? Mir scheint das die bessere Lösung, anstelle den Plot zu überfrachten und damit Gefahr zu laufen, die Leser ob dieser Fülle manchmal zu verlieren.
Ein wenig mehr Ökonomie beim Erzählen würde so manches Mal helfen, dann ist der Plot aber auch wieder überraschend, fantasievoll und bietet große Bilder auf. So oszilliert sein Roman immer wieder zwischen verschriftlichtem Christopher-Nolan-Thriller und (über)forderndem Sachbuch zum Thema KI und Paralleluniversen.
Fazit
Ambitioniert und groß angelegt ist Die Tyrannei des Schmetterlings auf alle Fälle – derartig expandierende Erzählwelten finden sich in der deutschen Literatur eher selten. Manchmal müsste sich Schätzing als Erzähler allerdings auch etwas zurücknehmen, um die Leser im Gewirr von Kybernetik, digitaler DNA, Quantencomputer und Künstlicher Intelligenz nicht zu verlieren.
Trotz dieser erzählerischen Schwächen eine faszinierende und mehr als erschreckende Vision dessen, was aus den Entwicklungslabors im Silicon Valley schon bald unseren Alltag definieren könnte. Zählt der Tod auch schon bald zu Dingen der Vergangenheit und brauchen wir wirklich noch Tiere und Insekten, wenn wir diese in Labors doch deutlich funktionaler und besser erzeugen können? Wer Schätzing liest, kennt auf diese Fragen mögliche Antworten!