Helga Schubert – Vom Aufstehen

Erinnerungssplitter

Es wird viel geklagt über Corona und den Wegfall von Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Miteinander – und das völlig zurecht. Die Folgen der Pandemie sind gravierend – und momentan noch gar nicht reell abschätzbar. Allerdings bietet Corona auch Vorteile und Chancen. Eindrücklichstes Beispiel hierfür der Fall von Helga Schubert und ihrer Teilnahme am Bachmannpreis.

Denn eigentlich war das mit dem Preis und der Autorin mehr als unwahrscheinlich. Schon einmal hätte sie zu DDR-Zeiten beim Wettbewerb antreten sollen, durfte dann auf Geheiß der DDR-Führung allerdings nicht teilnehmen. Zwar wurde ihr dann 1987 bis 1990 die Ehre zuteil, als Kritikerin Teil der Jury des Preises zu sein. Aber noch einmal eine zweite Chance bei diesem Wettbewerb auf Teilnehmerseite? Das schien mehr als unwahrscheinlich.

Zu weit weg das Wettlesen am Wörthersee, da sie in Mecklenburg-Vorpommern zusammen mit ihrem pflegebedürftigen Mann lebt. Zu alt mit ihren 80 Jahren für das normalerweise recht junge Teilnehmerfeld (sogar den Rekord für die älteste Teilnehmerin überhaupt stellte sie damit auf). Und doch gewann die Autorin den Preis – dank der Verlegenheitslösung, die der Preis 2020 versuchte. Denn anstelle einer Präsenzveranstaltung wurde der Preis digital durchgeführt. Die Juror*innen saßen zuhause, die Lesungen wurden voraufgezeichnet. So konnte auch Helga Schubert beim Wettlesen mitmachen – und gewann unter großem Medieninteresse den Preis. Nun, ein Jahr nach dem Bachmannpreis liegt ihr Werk Vom Aufstehen vor. Auf eine Gattungsbezeichnung hat der Verlag verzichtet. Stattdessen prangt der Untertitel Ein Leben in Geschichten auf dem Cover.

Kurze Erinnerungen und Eindrücke

Und das trifft es ganz gut. Wobei viele der sogenannten Geschichten für mich gar keine Geschichten sind. Eher würde ich von Erinnerungs- und Gedankensplittern reden. Teilweise sind die Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, nicht einmal eine Seite lang. Die kurze Form dominiert, nur wenige Geschichten sind länger als drei bis fünf Seiten – beispielsweise die ans Ende gesetzte titelgebende Erzählung Vom Aufstehen, die Schubert den Bachmannpreis eintrug.

Helga Schubert - Vom Aufstehe (Cover)

Und jetzt begehe ich zu Beginn gleich den Frevel: trotz aller Meriten, Lobeshymnen und Nominierungen finde ich es auf literarischer Ebene eher schwach. Einen eigenen Sound hat Helga Schubert in meinen Augen nicht, eine besondere literarische Bearbeitung oder Überformung ihres Materials findet sich in diesem Buch nicht. Natürlich kann man einwenden, dass diese Kunstlosigkeit auch Kunst ist. Aber eine unverwechselbare Stimme konnte ich in den Erzählungen nicht entdecken. Klar fokussiert sind die Geschichten auch nicht immer und mäandern thematisch hin und her, etwa die Erzählung Vom Erinnern.

Hier wandert Helga Schubert von einem Besuch in Bad Kleinen zum dortigen GSG9-Einsatz, bei dem RAF-Mitglieder festgenommen werden sollten. Davon kommt sie zu einem Treffen mit ihrem Lektor an ihrem Wohnort in Mecklenburg, von wo aus sie zum Suizid eines benachbarten Bauern schweift, ehe es um Besucher aus dem Westen kurz nach dem Mauerfall geht, ehe sie wieder zu den Beschreibungen ihrer Heimat zurückkehrt. Und auch wenn die Geschichte vom Erinnern handelt und das Sprunghafte, Assoziative in den Mittelpunkt stellt, so hat mich diese Art des Erzählens nicht überzeugt. Auch irritierten mich die Anschlüsse und Bezüge der Geschichten, etwa wenn Schubert in der Schlussgeschichte Vom Aufstehen vieles zuvor Erzählte einfach noch einmal wortwörtlich aufgreift und wiederholt. Hier hätte eine Überarbeitung notgetan. Kurzum: dieses Erzählen überzeugte mich auf der Mikroebene leider nicht.

Ernüchterung auf Mikroebene, Faszination auf Makroebene

Anders hingegen auf der Makroebene – denn hier entfaltet das Buch seinen ganzen Reiz. Die Vielzahl von Erinnerungen, Gedankensplittern und Anekdote ergibt zusammen das Porträt einer faszinierenden Frau, an deren Leben sich die gesamten Bruchlinien der jüngeren deutschen Geschichte ablesen lassen. Flucht, Vertreibung, das schwierige Verhältnis mit der eigenen Mutter. Die Erfahrungen als regimekritische Autorin in der DDR, das literarische Leben dort, die Umstellungen nach der Wende. All das thematisiert Vom Aufstehen über die einzelnen Erzählungen hinweg und verschafft dem Leser und der Leserin einen Eindruck von dem, was man sonst mit dem schmalen Wort Lebensleistung erschlägt.

In Schuberts Leben (oder dem, das sie uns erzählt) wird offenbar, welche tiefgreifenden Wechsel der Systeme hin von der Nachkriegszeit hin in die Gegenwart und von der DDR hin zur Bunderepublik für die Menschen bedeutete. Auch eingedenk der Debatten im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit und die Frage nach der tatsächlichen Einheit von Ost und West kann Schuberts Prosa mitreden und mit Persönlichem die Debatte bereichern. So besitzt Vom Aufstehen gesellschaftliche und zeithistorische Relevanz, die mich mit dem eher schmalen literarischen Gehalt des Buchs versöhnte.

Weitere Meinungen zu diesem Buch gibt es unter anderem bei Aufklappen, masuko13 und Zeichen&Zeiten.


  • Helga Schubert – Vom Aufstehen
  • ISBN 978-3-423-28278-9 (dtv)
  • 221 Seiten. Preis: 22,00 €
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[…] sich durch technische Innovationen für einige Autor*innen neue Möglichkeite, so zum Beispiel für Helga Schubert, die aufgrund der Pflege ihres Mannes in Präsenz normalerweise nicht beim Bachmannwettbewerb in […]

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[…] plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie […]