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Ein Abend wie im Seniorenstift

Man stelle sich das einmal vor. Da fällt die Leipziger Buchmesse aus, Buchhandlungen müssen für Wochen zusperren, Verlage kämpfen ums Überleben. Eine Situation, wie sie Literatur-Deutschland wohl noch nicht erlebt hat. Am Freitag Abend steht dann die erste Sendung des Literarischen Quartetts nach diesen Ereignissen an. Und worüber wird diskutiert?

Über Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez und den Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Bücher, die 1668 beziehungsweise 1967 erschienen. Bücher, die längst schon kanonisiert, in Lesebüchern abgedruckt und in jedem Volkshochschulkurs durchdiskutiert wurden. Bücher, deren Qualität außer Frage steht, deren Notwendigkeit zur Diskussion in einem Frühjahr, in dem so gut wie jede Neuerscheinung auf dem Buchmarkt deutlich mehr Aufmerksamkeit bräuchte, alles andere als schlüssig erscheint.

Natürlich waren die Titel einst für den Magischen Realismus bzw. die Epoche des Barock stilprägend. Aber muss man so etwas zum hundertsten Male durchkauen, wenn andere Bücher wie etwa Ann Petrys The Street oder Benjamin Quaderers Für immer die Alpen völlig in puncto Aufmerksamkeit untergehen? Da überzeugt auch das erklärte Konzept, man wolle Bücher für Krisenzeiten präsentieren, wenig. Aber was will man erwarten von einer Thea Dorn, die schon in der letzten Ausgabe wenig kreativ zu Albert CamusDie Pest riet?

Verschnarchte Titelauswahl, verschnarchte Diskussion

Ebenso verschnarcht wie die Auswahl der Bücher entpuppte sich dann leider auch einmal mehr die Diskussion im Foyer des Berliner Ensembles. Während Thea Dorn mit dem Charisma einer besserwisserischen Deutschlehrerin den Gästen das Wort erteilte und stets um die Deutungshoheit rang, stammelte und stotterte man sich so durchs Programm. Die Synopsen der Bücher gerieten einmal mehr erratisch. Dynamiken in der Diskussion ergaben sich überhaupt nicht, auch wirkten die Argumente schwach bis hanebüchen. Brandts Verteidigung, als Schauspieler überlese er eh Phrasen und schlechte Dialoge, weshalb sein Buchvorschlag dann doch wieder gut sei, wenn man da drüber hinwegläse, überzeugte nicht im Ansatz. Auch die Vergleiche mit chemischen Elementen durch Eva Menasse steigerte die Anschaulichkeit der eigenen Argumente kaum.

Literarisches Quartett: Teilnehmer Dorn, Ruge, Menasse und Brand
Verloren im weiten Rund: Thea Dorn, Eugen Ruge, Eva Menasse, Matthias Brandt
(Bildrechte: ZDF/ Svea Pietschmann)

Mitsamt dem fehlenden Publikum besaß dieses literarische Geisterspiel eher den Charme eines Literaturkreises im Seniorenstift. Wobei man dem wohl unrecht tut. Selbst im Seniorenstift erlebte ich persönlich schon deutlich engagierte Runden als das, was da Freitag Nacht über den Bildschirm flimmerte.

Wo bleibt die Werbung fürs Lesen?

Ich verstehe es nicht. Jetzt wäre die Zeit, um für das Lesen und die Literatur zu werben. Für kreative Bücher, für junge Stimmen, die Aufmerksamkeit verdienten. Für Bücher aus kleinen Verlagen, die gerade ums Überleben kämpfen. Stattdessen entscheidet man sich im (immer noch) prestigeträchtigsten Literaturformat im deutschen Fernsehen für eine Auswahl die wirkt, als hätte man in der verstaubten Bibliothek eines Studienrats gestöbert.

Dabei könnte man doch eingedenk der vorherlaufenden reichweitenstarken Heute-Show (in letzter Zeit stets über 5 Millionen Zuschauer*innen) hier auch ideal jüngere Lesergruppen erreichen und ihnen Lust auf Literatur machen. Mit dem Simplicissimus lockt man in dieser Darreichungsform aber tendentiell niemanden hinter dem Ofen hervor. Und das ärgert mich. Es wäre doch nicht so schwer.

Sprechen wir über Literatur. Tauschen wir uns aus, egal ob im Netz, in Buchhandlungen oder in Lesekreisen. Aber um Himmels Willen bitte doch nicht so!

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