Kanada, 1929: Einmal mit dem schnellsten Zug des Landes von Montreal im Osten bis an die Westküste nach Vancouver. 5000 Kilometer per Zug im Schlafwagenabteil. Könnte eigentlich ein glamouröses Unterfangen á la Mord im Orientexpress werden, wenn man nicht gerade dort für den Komfort der anderen Gäste an Bord zuständig wäre, so wie es Der Schlafwagendiener in Suzette Mayrs gleichnamigen Roman ist.
Baxter übernimmt den Wagen Renfrew, Linie 2501, Zug 2, Abfahrt 23:00 Uhr. Irgendein hohes Tier hat diesen Wagen nach einem anderen hohen Tier Renfrew genannt. Der Wagen muss um 22:00 Uhr für die Aufnahme von Passagieren bereit sein. Es handelt sich um einen Acht-zwei-eins-Schlafwagen: acht offene Kojenabschnitte, zwei geschlossene Abteile, ein Salonabteil, ein Herren- und ein Damenwaschraum. Insgesamt dreiundzwanzig Betten. Von Montreal nach Vancouver. Die schnellste Überlandbahn des Kontinents.
Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener, S. 37
Dass das Leben eines Schlafwagendieners nichts mit Luxus und entspanntem Reisen zu tun hat, das zeigt Suzette Mayr schon auf den ersten Seiten dieses Romans. In einer Art vorgeschalteter Einführung zeigt sie den Job des Schlafwagendieners Baxter auf der Strecke von Toronto nach Winnipeg.
Anspruchsvolle Gäste, Schlafkojen, die vorbereitet sein wollen, Geringschätzung für sein Tun, die ihm immer wieder entgegenschlägt. Das kennzeichnet Baxters Tun – und zu allem Überfluss ist da auch noch das Handbuch für Schlafwagendiener, das dutzende Arten von Vergehen kennt, denen sich ein Schlafwagendiener schuldig machen kann. Vergehen, die mit Strafpunkten bedacht werden und die bis hin zur fristlosen Entlassung reichen können. Dabei ist der Schlafmangel noch gar nicht erwähnt, gegen den sich Baxter wehren muss, soll sein Service doch auf ein einfaches Klingelsignal hin eigentlich rund um die Uhr zur Verfügung stehen.
Von Montreal nach Vancouver
Genauer kennenlernt man diesen Baxter dann auf der zweiten Tour, die den Hauptteil des Romans ausmacht. Diese führt einmal quer durch Kanada und beschert dem Schlafwagendiener eine ganze Reihe an illustren und schwierigen Gästen, die er in seinem Abteil betreuen muss. Da sind okkultistisch begeisterte Damen, ein frischverheiratetes Paar, ein Mann, der im Verdacht steht, eine illegale Passagierin in seinem Abteil zu beherbergen, eine Großmutter mit ihrer sehr klammernden Enkelin ein von Baxter nur „Judy“ und „Punch“ getauftes Paar, bei dem er Baxter mit Fragen über die pünktliche Ankunftszeit und sie ihn mit Klagen über eine angebliche zu kalte Temperatur malträtieren.
Beständig schlägt ihm Verachtung entgegen, ist er nur der „Diener“ oder der „Boy“ und muss achtlos beschmutzte Handtücher aufheben, Betten machen und die Passagiere beruhigen – stets mit der Furcht im Hinterkopf, er könnte seine Gäste zu Beschwerden animieren und deshalb besonders servil.
„Verhalte dich wie im Zug wie ein Automat auf dem Rummelplatz“, sagte Edwin Drew einmal und rückte Baxters Kragen zurecht. „Setz dieses besondere Lächeln auf, je breiter, desto besser, drück auf den Knopf, schalt es ein, aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt, aber spiel nicht den Onkel Tom.
Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener, S. 214
Flashbacks und Erinnerungen
Die Erinnerungen an seinen Ausbilder Edwin Drew befallen Baxter bei seiner Reise immer wieder. Denn der Ausbilder hat Baxter nicht nur als Ausbilder geprägt. Auch sein Begehren für Männer hat der junge Schwarze hier zum ersten Mal ausleben können. Besonders nach dem zufälligen Fund eines pornographischen Bildes erwacht sein Begehren, angefacht durch Flashbacks an seine Momente mit Drew. Zudem quälen ihn durch Ermüdung hervorgerufene Halluzinationen und das beständige Mitrechnen des potentiellen Trinkgelds für seine Dienste, das ihm seinem elementaren Wunsch etwas näherbringt.
Denn eigentlich möchte Baxter Zahnarzt werden – doch noch fehlt etwas Geld für sein Studium. Und so kämpft er sich weiter durch den Gang seines Abteils, beschwichtigt seine Gäste und versucht krampfhaft, jegliches Fehlverhalten zu vermeiden, aber auch nicht den Onkel Tom zu geben.
Suzette Mayr gelingt mit Der Schlafwagendiener ein Text, der nicht in Verklärung des Bahnreisens absinkt. Sie zeigt die erniedrigende Arbeit der Schlafwagendiener, die man eigentlich korrekterweise eher Ausbeutung nennen müsste und die den Luxus der anderen Gäste erst ermöglicht. Gelungen verschränkt sie kleine Rückblenden auf Baxters Herkunft und Werdegang sowie seine Homosexualität mit und einem klaren Porträt der Klassengesellschaft (womit dieser Roman doch weniger Mord im Orientexpress denn Snowpiercer ist). So entsteht analog zum schnellen Vorüberziehen der Städte und Szenerien hier auch eine Seelenlandschaft ihres Helden, in der auch immer wieder sprachlich gelungene Bildern aufblitzen, etwa wenn bemerkt, dass die aufgrund des Schlafmangels und der seelischen Zerrüttung ihres Helden dessen Augen so trocken wie eine Bergspitze sind.
Fazit
Der Schlafwagendiener ist ein unterhaltsamer Roman, der zugleich einen gesellschaftliche Oberklasse-Mikrokosmos Ende der 20er Jahre abbildet, der vom Vaudeville-Künstler bis zur stickenden Dame reicht. Zugleich illustriert Suzette Mayr neben diesem reichhaltigen Bild des Luxus im Zug auch die Klassenunterschiede und die Verachtung, die dem durch seine Hautfarbe und Sexualität gleich zweifach stigmatisierten Schlafwagendiener Baxter wiederfährt. An Bord dieses Zugs wird die Erste und Zweite Klasse der Gesellschaft mehr als deutlich – wobei dem aufrichtigen und stets bemühten Baxter eindeutig die Sympathien gelten.
- Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener
- Aus dem Englischen von Anne Emmert
- ISBN 978-3-8031-3357-1
- 240 Seiten. Preis: 25,00 €