Affenzirkus
Einmal mehr widmet sich Tom Coraghessan Boyle in einem Roman der Wissenschaft und ihren Abgründen. Nach den LSD-Experimenten von Timothy Leary (Das Licht), den Sexualforschungen Alfred Kinseys (Dr. Sex) und dem Experiment rund um Die Terranauten gibt es nun abermals einen Roman, der sich mit Forschung und ihre Konsequenzen beschäftigt. Im Mittelpunkt steht diesmal Sam. Sam ist ein Schimpanse, der sich in der Obhut von Guy Schermerhorn befindet. Dieser hat ihm beigebracht, mit Gesten zu kommunizieren und so zu „sprechen“. Die Erforschung des kognitiven Bewusstseins steht im Mittelpunkt von Schermerhorns Arbeit. Doch auch mit der Berührung mit der Popularkultur haben weder Sam noch sein Ziehvater Probleme. So tritt der Professor bei einer Variante von „Sag die Wahrheit“ im amerikanischen TV auf und verblüfft mit dem kommunizierenden Sam die Zuschauer*innen der Show.
Eine der Zuschauer*innen ist Aimee, die der Auftritt des gebärdenden Schimpansen und seines Herrchens elektrisiert. Sie beschließt, sich bei Schermerhorn als Assistentin zu bewerben. Und als sie dann Sam begegnet, fasst er Affe tatsächlich sofort Zutrauen. Sie wird zur ersten Ansprechpartnerin für Sams Belange, der schnell eine enge Bindung zur Studentin entwickelt. Einer Bindung, die immer abenteuerlichere Züge annimmt. Sam giert nach Cheseburgern und Pizza, sieht Fernsehen und bemerkt die Unterschiede zwischen billigem Wein und Champagner. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen zusehends, bis Sam wieder von seinem Besitzer zurückgefordert wird. Vor allem Aimee kann und will das allerdings nicht akzeptieren, für die Sam ähnlich seinem Namenspaten in der Bibel schon zum unverhofften Ersatzkind geworden ist.
Eine außergewöhnliche Geschichte
Sprich mit mir ist ein Buch, das eine wirklich außergewöhnliche Geschichte erzählt. Die Forschungen und Experimente rund um Sam verbindet T. C. Boyle mit der Frage, was uns Menschen von Tieren trennt (oder eher verbindet). Um seine Geschichte von Guy Schermerhorn, Aimee und Sam zu erzählen, wählt der Bestsellerautor die Erzählperspektiven jeder seiner drei Figuren. Am literarisch spannendsten dabei sicherlich der Versuch Boyles, in die Haut von Sam zu schlüpfen und aus der Sicht eines Affen zu erzählen. Dessen Wahrnehmungen schildert er als asynchron erzählter Einblick, der sich mit den Blickwinkeln von Aimee und Guy verbindet und manchmal auch überlappt. Auch findet er eine eigene Syntax, um die Wahrnehmung des Tieres zu beschreiben. Ein gelungener Versuch, der auch in Peinlichkeiten oder Romantisierung hätte abgleiten können.
Und auch wenn die menschlichen Figuren im Roman relativ eindimensional und klischiert gezeichnet werden (der böse Affenbesitzer mit Augenklappe und Viehtreiber, die Romanze zwischen der Studentin und dem Professor, etc.) weisen die Themen von Boyles Roman doch über den historischen Rahmen der Erzählung hinaus und sind eine echte Stärke von Sprich mit mir. Was macht ein Bewusstsein aus? Mit welchem Recht dressieren und quälen wir Tiere im Namen der Forschung? Welche Grenzen darf und sollte Forschung nicht überschreiten? Können Tiere die besseren Menschen sein oder welche Tücken hat die Vermenschlichung von Tieren?
Mensch oder Tier?
Diese Fragen stellt T.C Boyle angenehm offen. Er beschreibt nur und hält sich mit Wertungen zurück – eben alles andere als ein erzählerischer Affenzirkus. Klar und fokussiert erzählt er die Geschichte, die in drei Teile gegliedert ist. Ähnlich wie in seiner 2010 erschienenen Novelle Das wilde Kind steht auch hier wieder die Frage „Mensch oder Tier?“ im Mittelpunkt. Beziehungsweise die Frage, ob man diese Grenzen überhaupt so scharf ziehen kann. Die Ambivalenz in der Beschreibung der Handlung spricht dabei wirklich für dieses Buch.
Einwenden könnte man, dass die Geschichte manchmal etwas zu sehr an der Oberfläche bleibt. Aber selbst angesichts dieses Kritikpunkts, sind die sozialen und zivilisatorischen Fragen des Romans überzeugend eingearbeitet und versöhnen auch mit manchem grobem Pinselstrich im Buch. Und auch wenn T. C. Boyle in vielen seiner Werken gefühlt immer um ähnliche Themen kreist: Sprich mit mir überzeugt, hat Tiefe und Tempo, unterhält auf ansprechende Art und Weise und fragt nach unserem Umgang mit der Schöpfung. Mich hat dieses Buch wirklich angesprochen.
- T.C. Boyle – Sprich mit mir
- Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
- ISBN 978-3-446-26915-6 (Hanser)
- 352 Seiten. Preis: 25,00 €