„Meine Güte, was für ein Leben.“, fasste Martha zusammen. „Der reinste Irrsinn“
Zehrer, Klaus Cäsar: Das Genie, S. 480
Das ist es tatsächlich, das Leben von William James Sidis. Dieses Leben beschreibt der 49-jährige Romancier Klaus Cäsar Zehrer in seinem Debüt Das Genie, das sich um jenen genialen Sidis dreht, der heute schon vergessen ist, hier aber ein Denkmal erhält.
Bis das titelgebende Genie das Licht der Welt erblickt, vergehen allerdings 150 Seiten. Auf diesen Seiten wird nämlich zunächst Boris Sidis vorgestellt, ein ukranischen Immigrant, der 1886 aus seiner osteuropäischen Heimat in Richtung Amerika flieht. Dort lebt er den amerikanischen Traum, stößt mit seinem völligen Fehlen von zwischenmenschlichem Geschick aber auch schnell alle Menschen seines Umfelds vor den Kopf . Kein Arbeitgeber will diesen starrköpfigen Mann lange beschäftigen, der sich zwar als hochintelligent erweist, es sich aber über kurz oder lang mit sämtlichen Chefs verscherzt.
Jener Boris Sidis findet im Forschungsgebiet der Psychologie schließlich ein Thema und in der Universität von Harvard ein Zuhause, das ihm die besten Möglichkeiten bietet, um den menschlichen Geist zu erforschen. Nach den 150 Seiten ist Boris nun Vater von William James Sidis geworden, einem Jungen, der zum Versuchsobjekt der Studien seines Vaters wird. Denn mit der von ihm ersonnenen Sidis-Methode kann jedes Kind zum Genie werden, so Boris. Und die Erfolge lassen tatsächlich nicht lange auf sich warten. In Rekordzeit erlernt Willam lesen, schreiben, Logik, Fremdsprachen und hält mit elf Jahren Vorlesungen in Harvard.
Vom Auf und Ab im Leben des James William Sidis
Doch mit zunehmenden Alter zeigt die Parabelkurve von Williams Leben wieder nach unten und man wird Zeuge, wie sich die Vorstellungen seiner Eltern und William selbst voneinander fortbewegen. Gerade die erste Hälfte des Romans ist noch recht unbeschwert, humorig und typisch Diogenes-rund, ehe dann im zweiten Teil aus der vergnüglichen Geschichte ein zunehmend desillusioniertes Porträt eines Mannes wird, den man obschon seiner Genialität bemitleidet.
Natürlich bietet Williams Leben in der Kindheit die Vorlage für viele Schrullen, die Beschreibungen seiner skurrilen Verhaltensweisen ist voller Komik. Doch immer wieder webt Zehrer Gedanken ein, die viel Raum für Reflektionen bieten. Wie viel Förderung und wie viel Forderung des eigenen Nachwuchses sind gut? Wie wichtig sollte Bildung sein – und was macht eine gelungene Kindheit aus?
All diese Gedanken und Beschreibungen machen Das Genie zu einem interessanten Leseerlebnis und wecken Interesse für dieses wahrlich kuriose Leben. Wer darüber noch mehr lesen möchte, dem sei dann an dieser Stelle noch Morten Brasks vor Kurzem erschienene Titel Das perfekte Leben des William Sidis empfohlen.
Eine weitere kleine Ergänzung auch noch an dieser Stelle: zusammen mit den Titeln Das Floß der Medusa von Franzobel und Justizpalast von Petra Morsbach ist das Buch nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2017. Herzlichen Glückwunsch hierzu!