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Nenad Veličković – Nachtgäste

Wie kann man nur vom Grauen des Krieges erzählen? Nenad Veličković entscheidet sich in seinem Roman Nachtgäste für die Perspektive einer jungen Frau, die in ihren Notizen und Niederschriften das Bild des belagerten Sarajevo inmitten des Bosnienkriegs entstehen lässt. Nicht nur die junge Frau fragt sich, wer hier eigentlich gegen wen kämpft – und vor allem wozu?


Obschon die Gräuel des Bosnienkrieges in den 90ern mehr oder minder vor unserer Haustür stattfanden, sind die Erinnerungen an das Kriegsgeschehen schon wieder sehr verblasst, wenn sie überhaupt je so präsent waren wie andere Kriegsgeschehen zur der damaligen Zeit, etwa der kurz zuvor begonnene Zweite Golfkrieg, den die USA gegen den Irak führten.

Auch in der Literatur fristet der Bürgerkrieg, der fast 100.000 Menschen das Leben kostete und zur Flucht und Vertreibung von fast 2,2 Millionen Menschen führte, ein Schattendasein. Zwar behandeln deutsche Autoren (Tijan Sila, Tanja Miljanović, Saša Stanišić) den Konflikt ebenso wie kroatische Autoren, darunter Miljenko Jergović oder Faruk Šehić – auf Interesse stoßen die zumeist von idealistischen Kleinverlagen herausgegebenen Werke besonders der fremdsprachigen Autor*innen dabei nur bedingt. Angesichts der überwältigenden Fülle von westlich zentrierter Literatur hat es diese Art von Büchern schwer.

Aus Logiergästen werden Nachtgäste

Nenad Veličković - Nachtgäste (Cover)

Der österreichische Jung und Jung-Verlag unternimmt jetzt einen weiteren Versuch, den im Original bereits 1995 erschienenen Roman Nenad Veličkovićs seinem Publikum zugänglich zu machen. Schon einmal war das Buch in deutscher Übersetzung im Jahr 1997 unter dem Titel Logiergäste erschienen. Nun liegt der Roman knapp zwanzig Jahre später in einer leicht überarbeiteten Übersetzung von Barbara Antkowiak dem Lesepublikum zum zweiten Mal vor.

Darin lässt Veličković seine Erzählerin Maja von einer ganz besonderen Schicksalsgemeinschaft berichten. Die junge Studentin erzählt in ihren Aufzeichnungen vom Krieg, der sie und ihre Familie in das vom Vater betreute Museum im Herzen Sarajevos verschlagen hat, das den Schauplatz des Romans bildet.

Ich heiße Maja. Was ich schreibe, wird ein Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans. Das ist vorerst offen. Ich schreibe das, weil mir nichts anderes geblieben ist. Wir gehen nicht zur Schule, wir sehen nicht fern, wir verlassen den Keller nicht. Den Keller verlassen wir nicht, weil oben Krieg ist. Er wird zwischen Serben, Kroaten und Muslimen geführt.

Dávor sagt, der Krieg wird geführt, weil die Kroaten Kroatien haben, die Serben Serbien, aber die Muslime kein Muslimien. Alle denken, dass sie es haben sollten, doch sie können sich nicht über seine Grenzen einigen. Papa sagt, dass Dávor ein Esel ist und der Krieg deshalb geführt wird, weil Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen und die Muslime umbringen und vertreiben wollen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einiges ist mir nicht klar.

Nenad Veličković – Nachtgäste, S. 8 f.

Nicht nur Maja ist einiges nicht klar, auch für die Leser*innen bleibt die Lage in Sarajevo unübersichtlich. Wer kämpft nun gegen wen, wo verläuft die Front, was soll der Krieg überhaupt erreichen? Neben der Sinnlosigkeit und der Brutalität des Kriegs und des Überlebenskampfes inmitten des diffusen Kriegsgeschehen lässt Maja in ihren Aufzeichnungen auch ein Bild des skurrilen Miteinanders der Nachtgäste entstehen. Nicht von ungefähr reicht der im Buch zitierte Bogen von Literaten deshalb von Jaroslav Hašeks und dessen braven Soldaten Schwejk über Karel Čapek bis hin zu Ivo Andrić. Auch Nenad Veličkovićs Schreiben deckt die Schattierungen dieser Autoren von absurd bis tragisch ab.

So erzählt Nenad Veličković vom Miteinander der bunt zusammengewürfelten Truppe. Da der Portier Brkic und dessen Freund Julio, die sich aus alten Partisanenkämpfen kennen. Dort die Großmutter, der Hund Sniffy, der Vater, Majas Mutter, die mit ihrem Hand zum Vegetarismus die Nerven der Gäste strapaziert, und dazu noch ihr Bruder Dávor mit dessen hochschwangeren Frau Sanja.

Die Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf

Ihr Miteinander beschreibt Maja ebenso wie den Alltag im Museum, bei dem Truppen zu Gast sind, ein wagemutiger Ausbruchversuch mit einem improvisierten Ballon unternommen wird und der Weg mit Kanister zur Wasserverteilung schon einmal zum gefährlichen Gang wird, wenn die Serbo-Sniper lauern und sich die Müllberge in der abgeschnittenen Stadt immer höher türmen.

Daraus entsteht ein Bilderbogen, der von der Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf erzählt – und wie der Krieg mitsamt dem Belagerungszustand alle die Unterscheidung solcher Dinge zum Verschwinden bringt. Egal ob drohende Niederkunft von Majas Schwägerin, ein über Dávors Kopf schwebender Einberufungsbefehl oder die Suche nach dem verschwundenen Sniffy. Für alles ist in Nachtgäste Platz und Nenad Veličković kann es durch die gewählte Form und Perspektive glaubhaft vermitteln.

Nicht nur angesichts der Konflikte etwa in Israel oder in der Ukraine birgt Nachtgäste viel Allgemeingültiges und erzählt nachvollziehbar, wie sich Krieg anfühlt, der durch den Schauplatz des bewohnten Hotels gleichzeitig auch etwas Enthobenes und Absurdes bekommt.

Fazit

Nenad Veličković gelingt mit Nachtgäste ein lesenswertes Buch, das die Schrecknisse des noch gar nicht so lange zurückliegenden Krieges wieder wachruft. Im zweiten Anlauf ist diesem Werk nun hoffentlich der Erfolg und die Aufmerksamkeit beschieden, die es neben den Werken der anderen eingangs erwähnten serbischen, kroatischen und bosniakischen Autor*innen verdient und die Markt und Kritik hierzulande viel zu oft links liegen lassen.


  • Nenad Veličković – Nachtgäste
  • Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak
  • ISBN 978 3 99027 411 8 (Jung und Jung)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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