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Thomas Melle – Haus zur Sonne

Wie wäre es, andere Leben anprobieren zu dürfen und einmal einen Blick in mögliche Versionen des eigenen Leben zu werfen? Der Erzähler in Thomas Melles Roman darf genau das im Haus zur Sonne erleben – doch können alternative Leben helfen, Manien und Depression zu überwinden – oder führt das in Konsequenz doch zum Tod? Vor dieser Frage sieht sich der Erzähler und wir als Lesende mit ihm.


In Die Welt im Rücken, seinem ebenfalls für die Endrunde des Deutschen Buchpreises nominierten Roman erzählte Thomas Melle von seiner bipolaren Erkrankungen, die ihn immer wieder peinigt und in peinliche Situationen zwang. Auch in seinem neuen Buch Haus zur Sonne spielt diese Erkrankung eine entscheidende Rolle. Denn der Erzähler möchte nicht mehr. Ein neuer Schub seiner Krankheit hat alle Fortschritte zunichte gemacht, in seiner Wohnung zwischen beschmierten Wänden und ausgepackten Kartons vegetiert er mehr vor sich, als wirklich zu leben.

Ich hatte meinen Tod schon oft durchgespielt, ihn mir vorgestellt, und dazu auch, leider, die kleinen Reaktionen darauf: die Trauer von manchen, das Abwinken von anderen, das kurz von einem nostalgischen Impuls durchzuckte Desinteresse wohl auch ehemaliger Freunde. Dann weiter im Text des Lebens, es ist halt so, verloren, vergessen, nichts zu machen.

Thomas Melle – Haus zur Sonne, S. 19 f.

Ein Aufenthalt im Haus zur Sonne

Thomas Melle - Haus zur Sonne (Cover)

Da kommt die Einladung zu einem Aufenthalt im neuartigen Haus zur Sonne gerade zur rechten Zeit. Denn für den selbstbezeichneten dead man walking bietet sich so die Möglichkeit, mittels Halluzination letzte Wünsche vor seinem Abschied von der Welt zu durchleben um dann nach dem Ausprobieren dieser Wünsche aus dem Leben zu scheiden.

Unter Anleitung eines Ärzteteams findet er sich im Sanatorium ein, das sich seltsam abgeschieden von der Welt präsentiert. Kontakte zur Außenwelt existieren eh kaum und so kann der Erzähler noch einmal frei von allem Ballast neu beginnen. Die Therapie öffnet ihm die Möglichkeit, in alternative Lebensentwürfe seiner selbst zu blicken und seine größten Wünsche zu erleben.
Von einem Dasein als Rockstar auf der Bühne bis zu einer Orgie, vom perfekten Hühnerfrikassee aus Kindheitstagen bis hin zu Erfolgen als Forscher im Kampf gegen den Krebs bietet das Haus zur Sonne alle nur denkbaren Varianten und Entwicklungen, die das Leben bereithalten kann. Doch den größten Wunsch mag man dem Erzähler dort zumindest vorerst noch nicht erfüllen – den seines eigenen Todes.

Ein Möglichkeitenroman

Thomas Melle hat mit Haus der Sonne einen Möglichkeitenroman geschrieben, der die Vielzahl von eventuellen Verläufen einfängt, die ein Leben bedeuten kann. Immer wieder wird der Erzähler in eine neue Simulation geschubst – und kann doch die schwarzen Hunde nicht vergessen, die ihn unbarmherzig quälen.

So liest man den Roman unter dem Paradox, das auf der inhaltlichen Ebene wahnsinnig viel passiert, wenn Melles Protagonist immer wieder neue Varianten von Leben und Eindrücken anprobiert, er aber doch auf der Stelle tritt, was das Vorankommen mit der Krankheit und die äußere Handlung anbelangt. Denn obschon er neue Menschen im Haus zur Sonne trifft -so wirklich kommt er dort nicht los und sitzt damit fest im Sanatorium wie Hans Castorp einst im Berghof oder Jack Torrance in Stephen Kings Shining im Overlook-Hotel.

Das Buch schwankt zwischen der Traum-Therapie und der eigenen Trauma-Therapie, der sich der Erzähler hier literarisch unterzieht. Es geht weniger vorwärts und vielmehr hinein in die Verarbeitung der eigenen Depression und die darin erlebten Exzesse und Peinlichkeiten als zentrales Thema des Buchs.

Zwischen Trauma-Therapie und Traum-Therapie

So beschreibt Melle den Bann der erdrückenden unsichtbaren Krankheit, unter der der Erzähler steht. Zumindest in Ansätzen macht der Roman nachvollziehbar, wie sich die Manie anfühlt und wie der Erzähler immer wieder zwischen Euphorie und Glücksgefühlen und tiefster Niedergeschlagenheit oszilliert. Ähnlich wie zuletzt Svealena Kutschke versucht auch er durch das Erzählen die Wahrnehmung der Welt infolge einer psychischen Krankheit nachzuzeichnen – und überzeugte zumindest mich damit etwas weniger als Kutschke in ihrem maximal dichten und zwingenden Gespensterfische.

Ohne Zweifel ist das Buch in der Fülle an Psychiatrieromanen in diesem Literaturjahr aber nicht nur aufgrund des dystopisch-rätselhaften Schauplatzes herausstechend. Im Spiel mit Fiktion und Fakt, Wahn und Aberwitz ist das Buch bemerkenswert – verlangt den aber Lesenden doch nicht nur angesichts der Suizid-Thematik sondern auch aufgrund des hochnervösen Tretens auf der Stelle einiges an Resilienz und Kraft ab.

Fazit

Ich selbst stehe etwas ratlos vor diesem Buch, dessen ganzes Erzählen für mich etwas von einer dunklen Zeitschleife hat, in der immer wieder der Wunsch des eigenen Suizids variiert wird und in der sich die kurz aufblitzenden Momente des Glücks angesichts der zirkulären Rückfalls in die Todessehnsucht irgendwann abgenutzt haben. In Verbindung mit der Statik des Plots wurde aus dem Buch für mich eine zu zähe Angelegenheit, als dass ich mich als Entscheider (im Gegensatz zum hier fast unisono begeisterten Hochfeuilleton) schwertäte, für Melles Buch den sicheren Gewinn des Deutschen Buchpreises auszurufen.

Anders sieht das beispielsweise auch Blogger Stefan Härtel alias Bookster HRO, der das Buch auf seinem Blog als grandios lobt.
Empfehlen möchte ich auch die Analyse von Alexander Carmele, der sich auf seinem Blog Kommunikatives Lesen ebenfalls Thomas Melles Text widmet.

Ein Hinweis sei auch auf heute Abend gegeben. Denn dann wird bei der alljährlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer entschieden, wer der sechs nominierten Autor*innen den Preis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres mit nach Hause nehmen darf und sich auf der im Anschluss beginnenden Frankfurter Buchmesse der größten Öffentlichkeit sicher sein darf (außer es kommt wie im letzten Jahr zu einem Eklat).
Besprechungen zu den nominierten Werken von Jehona Kicaj, Christine Wunnicke, Dorothee Elmiger und Thomas Melle sind zumindest schon auf dem Blog vertreten.


  • Thomas Melle – Haus zur Sonne
  • ISBN 978-3-462-00465-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €