Tag Archives: Suizid

Matt Haig – Die Mitternachtsbibliothek

168.000 Züge. So viele Züge sind in einer Schachpartie möglich. Eine schier unüberschaubare Anzahl, bei der schon die jede Bewegung einer Spielfigur eine Vielzahl neuer Züge ermöglicht. Doch wie wäre es, wenn jeder dieser Spielzüge für ein potentielles Leben stünde, das wir leben könnten? Matt Haig dekliniert in seinem neuen Roman Die Mitternachtsbibliothek diese Idee durch.


Dabei beginnt alles mit dem Selbstmord seiner Protagonistin Nora Seed. Diese sieht keinen Sinn mehr im Leben. Alleinstehend, frisch ohne Job, die Katze Voltaire überfahren. Die beste Freundin reagiert in Australien nicht mehr auf Nachrichten – da beschließt Nora von eigener Hand aus der Welt zu scheiden. Doch statt im Jenseits landet sie in einer Art Limbus. Dieser Limbus präsentiert sich als Mitternachtsbibliothek, in dem die Bibliothekarin Miss Elms ihren Dienst tut. Sie erklärt Nora die Funktionsweise dieser Bibliothek. Denn jeder Band in den Regalen dieser Mitternachtsbibliothek enthält ein potentielles Leben, in das Nora eintauchen kann. Und so taucht sie in die Möglichkeiten dieses Multiversums ein. Mal ist sie erfolgreiche TED-Rednerin, mal hostet sie Quiz-Abende im eigenen Pub. Wie auf einem Schachbrett eröffnen sich ihr Chancen und Möglichkeiten ihrer ungelebten Leben. Leben, die sie mal ins ewige Eis, mal auf die Bühnen der Welt und mal in beschauliche Dörfer versetzen. Kann Nora so den Sinn des Lebens erkennen?

Der Sinn des Lebens

Matt Haig hat ein Buch über die schweren Themen des Lebens geschrieben. Selbstmord, Tod, Trauer, die Frage nach all dem, was möglich gewesen wäre. Die Suche nach dem Sinn des Lebens spielt in Die Mitternachtsbibliothek genauso eine Rolle wie die Frage, was ein Leben zu einem gelungenen Leben macht. Bei aller Schwere der Themen ist festzustellen, dass das Buch selbst nichts von dieser Schwere aufweist. Eher könnte man Die Mitternachtsbibliothek dem Genre des Feelgood-Romans zuordnen. Denn Matt Haig erzählt mit viel Empathie die Geschichte um die möglichen Leben von Nora Seed. Festzuhalten ist dabei auch: ein großartiger Stilist ist Matt Haig mitnichten. Hier steht eher das Erzählte denn das Erzählen im Vordergrund. Seine Prosas erinnert eher an leichte Roman von Nick Hornby und Konsorten.

Als Kontrast zur eigentlich doch recht schweren Geschichte funktioniert diese erzählerische Leichtigkeit allerdings sehr gut. Zwischen all den philosophischen und physikalischen Ideen von Multiversen bis hin zur Quantentheorie verliert Matt Haig seine Leser so nicht, sondern nimmt sie mit in seine erdachte Welt. Als Unterhaltungsroman funktioniert Die Mitternachtsbibliothek.

Ihm gelingt ein massenkompatibler Bestseller in einfacher Sprache, der jetzt schon in die Bookstagram-Kanäle und Bestsellerlisten Einzug gehalten hat. Aber wenn das Leben im Limbus so ideenreich und fabulierfreudig geschildert wird, dann habe auch ich nichts dagegen einzuwenden. Zudem gelingt Haig in Gestalt in Form von Miss Elm ein warmherzige Hommage an meinen Brotberuf – und die Buchgestaltung greift dieses Thema ebenso auf. Deshalb also eine Empfehlung von mir! Der Besuch in dieser außergewöhnlichen Bibliothek lohnt!


  • Matt Haig – Die Mitternachtsbibliothek
  • Aus dem Englischen von Sabine Hübner
  • ISBN 978-3-426-28256-4 (Droemer-Knaur)
  • 318 Seiten. Preis: 20,00 €
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Jane Harper – The Dry

Auch heute pausiert der Adventskalender hier wieder zugunsten einer ausführlichen Rezension, und zwar dem gehypten Roman „The Dry“ von Jane Harper:

Kiewarra, ein abgelegenes Dorf im Nordosten Australiens. Die Region wird von Gluthitze heimgesucht und lechzt nach Wasser. Doch die Sonne ist unerbittlich und sorgt für viel Verzweiflung und wortwörtlich erhitzte Gemüter. In dieser Zeit werden auf einer Farm Luke Hadler, seine Frau Karen und sein Junge Billy tot aufgefunden. Alles sieht nach einem erweiterten Suizid aus – nur die wenige Monate alte Tochter der Hadlers hat überlebt.

dryZum Trauergottesdienst erscheint auch Aaron Falk, der Kiewarra nach einigen unrühmlichen Geschehnissen in der Vergangenheit gemieden hat. In Melbourne arbeitet er eigentlich als Finanzermittler, doch die Nachricht vom Tode Lukes lässt ihn nun kurzfristig in das Dorf seiner Kindheit zurückkehren. Denn Luke Hadler und Aaron Falk verband eine tiefe Freundschaft, die infolge der damaligen Ereignissen langsam auseinander bröckelte. Nun sind alle Erinnerungen und alten Bekannten plötzlich auf einen Schlag wieder da.

Die Eltern von Luke setzen ihr ganzes Vertrauen in Aaron, da sie die Hoffnung umtreibt, dass der Tod von Luke kein Suizid war, sondern ein gut vertuschter Mord. Und dieser beginnt dann auch zusammen mit dem Dorfsheriff Raco die Rekonstruktion jenes verhängnisvollen Tages, der für drei der vier Mitglieder der Hadler-Familie tödlich endete. Denn nicht alle Dorfbewohner sagen die ganze Wahrheit über die Ereignisse auf der Farm … Continue reading

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Friedrich Ani – Der namenlose Tag

Der Todesbote

Faulheit kann man Friedrich Ani wirklich nicht vorwerfen: über 100 Bücher weist die Deutsche Nationalbibliothek in ihren Katalogen nach, die Ani geschrieben bzw. an denen er mitgewirkt hat. Nun startet der produktive Münchner Krimiautor im Suhrkamp-Verlag eine neue Reihe, die den Ermittler Jakob Franck einführt.

Jakob Franck ist ein pensionierter Kriminalbeamter, der sich im Münchner Polizeipräsidium als Überbringer von schlechten Nachrichten einen Ruf geschaffen hat. Stets überbrachte er den Hinterbliebenen Todesmeldungen und andere Hiobsbotschaften und half ihnen, den Schmerz zu lindern. Geblieben ist ihm eine kaputte Ehe und die Geister der Toten, die ihn immer mal wieder besuchen kommen.
Ein besonderer Fall ruft ihn nun im Ruhestand. Vor zwanzig Jahren erhängte sich in einem Park ein junges Mädchen. Kurz darauf brachte sich ihre Mutter um – und der Witwer Ludwig Winther kann mit dem Verlust auch nach 20 Jahren nicht abschließen. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass seine Tochter umgebracht wurde. Seine letzte Hoffnung heißt Jakob Franck. Und dieser hat auch eine persönliche Bindung zu dem Fall – er überbrachte der Mutter des Opfers damals die schlechte Nachricht. Wenig später erhängte sich die Mutter ebenfalls. Franck beginnt den kalten Spuren noch einmal nachzugehen.

Bereits das Cover macht Lust auf den geheimnisvollen Krimi. Was hat sich in der Familie von Ludwig Winther zugetragen? Kann es sein dass Winthers Tochter damals wirklich ermordet wurde und der Mörder mit seiner Tat bis heute davongekommen ist? Geschickt legt Ani seine Spuren, die zwanzig Jahre zurückführen.

Dass Ani schreiben kann, davon zeugte nicht zuletzt die Auszeichnung mit dem Deutschen Krimipreis, den der Müncher mit seinem letzten Tabo-Süden-Krimi errang.Gerade die lebensnahen Dialoge sind eine große Stärke von Der namenlose Tag. Wie Franck in alten Wunden bohrt und in Gesprächen versucht Widersprüche aufzudecken, das liest man so in der deutschen Krimiliteratur selten. Die Realitätsnähe macht den Fall für Jakob Franck aus, sucht man doch gewiefte Serienkiller oder übermenschliche Ermittler vergeblich. Vielmehr kämpft der ehemalige Todesbote mit seinen inneren Dämonen und versucht etwas Frieden zu finden.
Mit seinen knapp 300 Seiten hat der Krimi genau die richtige Länge, bevor ins Langweilige kippen könnte. So ist der Reihenauftakt eine spannende Spurensuche in längst Vergangenem geworden, die bis zu ihrer Auflösung den Leser in Neugierde zu versetzen weiß.

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