Redner, Strippenzieher, Machthungrige – mit seinem neuen Werk Pompeji legt Eugen Ruge einen historischen Roman vor, der sehr deutlich auf die Gegenwart zielt und auf unseren Umgang mit nahenden Katastrophen und auf rhetorisches Blendwerk blickt.
Wobei, ist das wirklich ein historische Roman? Eigentlich nicht, denn das, was Eugen Ruge in Pompeji verhandelt, das ist in der Wahl des Gegenstandes und der Erzählmittel so gegenwärtig und aktuell, dass man auch vonseiten des dtv-Verlags auf eine Labelung als historischer Roman verzichtet hat und stattdessen einfach die Zuschreibung des Romans auf das eruptive Cover gesetzt hat.
Im Gegensatz zum englischen Bestsellerautor Robert Harris, der im Jahr 2004 den Vulkanausbruch von Pompeji in seinem gleichnamigen Roman verarbeitete, ist Ruge Werk deutlich mehr als eine Nacherzählung jener damaligen Ereignisse, die Harris einst in seinem Roman darbot. In dessen acht Tage umfassender Schilderung stützte sich der britische Autor auf einen Krimiplot rund um eine Verschwörung am Fuße des Vesuv, um mit den Mitteln des Spannungsromans das bekannte historische Ereignis zu garnieren.
Ruge verzichtet auf solche erzählerischen Hilfsmittel. Er interessiert sich mehr für Machtpolitik, für Lobbyarbeit und die Strategien zur Verdrängung unangenehmer Erkenntnisse, womit Pompeji viele Anknüpfungspunkte zur Gegenwart aufweist. Allen voran liest sich sein Buch wie ein Kommentar auf die sich abzeichnende Klimakatastrophe, auch wenn es im Buch die Erkenntnis eines aktiven Vulkans ist, die statt der heutigen Erkenntnisse über den notwendigen Wandel unseres Lebens verdrängt wird.
Interesse am politischen Pompeji und den Mechanismen der öffentlichen Meinung
Konzentrierte sich der Handlungsrahmen bei Robert Harris damals auf das Ausbruchsjahr 79 nach Christus, fasst Eugen Zeit und Material deutlich weiter. Sein Interesse gilt dem Leben dort in Pompeji vor der Katastrophe. Schon einmal war die Stadt einige Jahre zuvor von einem schweren Beben erschüttert worden. Doch die Bequemlichkeit der Menschen hat rasch für eine Verdrängung der damaligen Katastrophe gesorgt. Schon längst hat man wieder zu einem Alltag gefunden, den Ruge in seiner Fantasie schildert. Pompeji alias Colonia Cornelia Veneria als Ort der Politik, als Forum der öffentlichen Meinungen, das ist es, was ihn im vorliegenden Werk beschäftigt.
Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner. Dies ist die Geschichte des Vulkanvereins von seinen chaotischen Anfängen bis zu dem Tag, da er sich zu Tode feierte. Aber vor allem ist dies die Geschichte seines Gründers oder jedenfalls des Mannes, der sich dafür hielt. Es ist die Geschichte des vielbewunderten, vielgeliebten, aber auch vielgehassten, des unglaublich schlauen, aber vielleicht auch ganz mittelmäßigen Bürgers Jowna alias Josephus alias Josse.
Eugen Ruge – Pompeji, S. 11
Jener Josse steht im Mittelpunkt des Romans. Eigentlich stammt er aus niederem Geschlecht, ist Sohn eines aus Pannonien geflohenen Metzgers, der sich nun in Kampanien niedergelassen hat. Dort lebt er zusammen mit seiner Frau Jadwiga und dem kleinen Sohn in ärmlichen Umständen.
Vom Sohn eines Metzgers zum Bewerber um das Kapitol
Seinen Sohn hat der Metzger als Zeichen der Assimilierung und der Bewunderung des römischen Lebensstils dort in Pompeji auf den Namen Josephus ins Register eintragen lassen. Später wird daraus Josse. Ein Muster für den Umgang mit der eigenen Identität und Legende, der später noch viele weitere Beispiele folgen sollen.
Jener „Josse“ Josephus begreift Pompeji als Spielfeld, das zum gesellschaftlichen Aufstieg und den kreativen Umgang mit der eigenen Identität einlädt. So schart er eine Gruppe junger Taugenichtse um sich, verbringt die Tage zwischen Körperertüchtigung und Debatten.
Erst der Auftritt eines griechischen Sachverständigen wird zum Wendepunkt in Josses bislang recht ereignislosem Leben. Dieser hält einen Vortrag im sogenannten Vogelschutzverein, den Josse und seine Getreuen eigentlich nur der Aussicht auf die Anwesenheit von Frauen wegen besuchten. Doch die im Vortrag geäußerten Erkenntnisse des Griechen, man lebe in Pompeji auf einem Vulkan, fasst Josse trotz fehlender rhetorischer Ausbildung kurz und prägnant zusammen, sodass der junge Mann dort das erste Mal von sich reden macht.
In der Folge wird er weitere Reden halten, wird unter die Fittiche eines Rhetoriktrainers genommen, macht die Bekanntschaft mit Aufsteigern in Pompeji, wird eine Kolonie am Meer gründen, für die Abkehr von der Stadt und ein sicheres Leben in seiner Kolonie werben, um nach der Bekanntschaft mit einer höherstehenden Pompejianerin schließlich die genau umgekehrte Botschaft zu verkünden und mithilfe seines von Unterstützern finanzierten neuen Vulkanvereins für ein Leben mit dem Vulkan werben.
Der Aufstieg von Josse in Pompeji
Eugen Ruge zeigt in seinem Werk einen Aufsteiger, der teils aus günstigen Umständen, teils aus eigenem Vermögen und teils aus eigenem Unvermögen immer höher in die pompejianeische Gesellschaft aufsteigt. Mit rhetorischem Geschick und viel Blendwerk macht er von sich reden, stachelt Menschen an und wird wiederum von der Machtelite als Werkzeug benutzt.
Damit knüpft Eugen Ruge ein Stück weit an Werke wie Bertolt Brechts Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui an. Zugleich beschreibt er auch Mechaniken von Demagogen und Verführern, die in Sachen eigener Standpunkte eine erstaunliche Wendigkeit und Ungreifbarkeit an den Tag legen. Und nicht zuletzt beschreibt Pompeji auch die politischen Versuche, aus einer sich abzeichnenden Katastrophe politisches Kapital zu schlagen.
So porträtiert Eugen Ruge Josse als Aufstieger, der es schließlich bis zum ernsthaften Bewerber für das Kapitol schafft, nachdem seine Getreuen in einer Schmutzkampagne andere Kandidaten aus dem Rennen geschlagen haben. In Pompeji ist es eben nicht nur der Vulkan, der Dreck in die Luft schleudert. Dirty Campaigning, Super-PACS – Begriffe, die man (noch) aus dem US-amerikanischen Wahlkampf rund ums Kapitol kennt, Ruge zeigt sie in seinem Roman schon als Mittel des antiken Kaitolwahlkampfs. Er zeigt Josse als Profiteur der Krise, die er selbst fleißig befeuert, um an die Macht zu gelangen.
Moderne literarische Gestaltungsmittel
Auch die literarischen Gestaltungsmittel des Buchpreisträgers sind doch eher Mittel von heute. Da gibt es Invektive zu lesen, die wenig römisch, dafür sehr zeitgemäß sind. Im Wahlkampfstress um das Kapitol muss Josses Geldgeberin und Chefstrategin einmal feststellen, dass ihr Besitz um ganze vier Prozent gesunken ist, obschon die Prozentrechnung erst im 15. Jahrhundert und die Betriebswirtschaftslehre noch einmal deutlich später erfunden wurde. Josse predigt, man müsse lernen „mit dem Vulkan zu leben“.
Das erinnert in seiner Inszenierung von historischem Stoff mithilfe von moderner Mittel und klarer Brüche in Sachen historischer Geschlossenheit stark an Regiearbeiten etwa von Baz Luhrman.
Das kommentierende und erzählende Wir führt die Lesenden immer wieder an der Hand, blendet sich aus Gesprächen aus, rafft Erkenntnisse und Handlungen zusammen, nimmt Vorausschauen vor und leitet quecksilbrig durch die Ereignisse.
Fazit
So ist Pompeji eine große literarische Freude. Mehr Don’t look up denn historische Nacherzählung, auch wenn Ruge im Nachwort versichert, die historischen Umstände und intellektuellen Bewegungen sehr akkurat studiert zu haben.
Hier wagt ein Autor, einen historischen Stoff auf seine Gegenwärtigkeit abzuklopfen, mit den literarischen Möglichkeiten zu spielen und aus der Vergangenheit auf das Jetzt zu blicken. Mit großem Gespür für politische Manipulationstechniken, rhetorische Nebelkerzen und die Skrupellosigkeit von Machteliten, der der Ruges Aufstieger Josse hier begierig nacheifert ist das ein hervorragender und themensatter Roman geworden, den man nur loben kann!
- Eugen Ruge – Pompeji
- ISBN 978-3-423-44177-3 (dtv)
- 429 Seiten. Preis: 21,99 €