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Samantha Harvey – Umlaufbahnen

Mit ihrem Roman Umlaufbahnen betritt Samantha Harvey neuen Boden – beziehungsweise verlässt diesen. Denn in ihrem mit dem diesjährigen Booker-Prize ausgezeichneten Roman geht es ins hinaus All, genauer gesagt an Bord einer Raumstation, die den Weltraum über unseren Köpfen durchmisst. Damit gelingt ihr nicht nur ein eindrucksvoller Blick auf das Leben im All und auf der Erde. Sie erschafft nebenbei auch noch ein ganz eigenes Genre: das Space Writing.


Um zu erkennen, dass Menschen im All leben können, musste ich ein halbes Jahr hier oben verbringen. Um zu erkennen, wie schön die Erde ist, brauchte ich eine Minute. Um zu erkennen, wie zerbrechlich unser kleiner blauer Planet ist, brauchte ich nur einen Augenblick.

Dieses Erkenntnis teilte der deutsche Astronaut Alexander Gerst nach seinem Aufenthalt auf der internationalen Raumstation im Jahr 2014. Liest man Samantha Harveys neuen Roman Umlaufbahnen, dann lässt sich nach der Lektüre dieser Eindruck bestätigen, ohne dass man selbst dafür an Bord der Raumstation kommen muss. Denn der Britin gelingt es, ungemein plastisch vom Leben im All, aber vor allem der Fragilität zu erzählen, die das Leben dort oben und hier unten auf der Erde bedeutet.

Die Erfindung des Space Writing

Harvey wählt eine namenlose Raumstation, die den erzählerischen Schauplatz ihres Romans bildet. So beschreibt sie in 16 Kapiteln einen Tag auf der Raumstation. 16 Kapitel, weil diese der Anzahl an Umlaufbahnen entsprechen, die die Station im Laufe eines Tages um die Erde macht.

Der Alltag der sechs Astronaut*innen dort oben steht dabei genauso im Mittelpunkt wie die Eindrücke, die sie während ihres Tages beim Blick auf die Erde unter sich sammeln.

Für den Bruchteil einer Sekunde fragt Shaun sich: Was zur Hölle mache ich hier, in einer Blechbüchse im luftleeren Raum? Ein konservierter Mann in einer Konservendose. Zehn Zentimeter Titan trennen ihn vom Tod. Nicht einfach vom Tod, sondern von der Auslöschung, der völligen Nichtexistenz.

Samantha Harvey – Umlaufbahnen, S. 83

Taifune, die über die Erde hinwegziehen. Großstädte, die in Minutenschnelle unter der Raumstation hinwegziehen. Die koronale Lichtverschmutzung über diesen Großstädten, die jedem Gedanken von tiefdunklen Nächten spottet. Als wäre man selbst an Bord und blickte auf all diese Phänomene auf unserem fragilen Planeten, so nimmt sich die Lektüre von Umlaufbahnen aus.

Damit gelingt es der 1975 geborenen Autorin, einen neuen Blick auf die Natur und unseren Umgang mit dieser zu werfen. Wie einst ihre Schriftstellerkollegin Selma Lagerlöf noch vor der Zeit der Flugzeuge in ihrem Roman Nils Holgersson einen Blick auf Schweden aus der Vogelperspektive erlaubte, so vollzieht Samantha Harvey nun diesen Schritt für das Weltall. Sie tut dies in der beschreibenden Kraft und Präzision des Nature Writing und stellt sich damit auch in die Reihe ihrer Kolleg*innen, etwa Robert MacFarlane oder Daisy Hildyard, diesmal nur eben aus orbitaler Perspektive. So erschreibt sie sich eine eigene Lücke und erschafft ein neues Genre, nämlich das Space Writing.

Die stete Anziehungskraft der Erde

Samantha Harvey - Umlaufbahnen (Cover)

Doch neben der beschreibenden Perspektive auf den Planeten ist auch das menschliche Zusammenleben dort oben das große Thema. Beides bedingt sich bei Harvey gegenseitig. Denn obwohl sich die Raumfahrer*innen denkbar weit weg von der Erde befinden, lässt sie die Erde doch niemals los. So macht der von der Crew beobachtete Start einer Mondmission den Astronauten den Platz als die am weitesten von der Erde entfernten Menschen streitig, wie ihnen die Bodenstation mitteilt. Auch territoriale Konflikte und Rivalitäten setzen sich im All fort. So schlafen etwa die russischen Kosmonauten getrennt von den anderen und verfügen sogar über eine eigene Toilette.

Selbst wenn wir das All als schwerelosen Raum für Utopien und Fortschrittsglauben denken – der Anziehung der Erde mitsamt ihrer Schönheit und ihren Konflikten entkommt man auch hunderte Kilometer über der Erde nicht, so Harveys Botschaft.

Als Erzählerin schwebt Harvey durch den geschilderten Tag, ganz so, wie es die multinationale Truppe dort oben in der Schwerelosigkeit tut. Mal erfährt eine Astronautin hoch oben vom Tod ihrer Mutter, dann wieder gleitet die erzählerische Kamera weiter zum nächsten Astronauten, der sich nach der Erde, ihrer Physik und der darauf wandelnden Mitmenschen sehnt oder hin zu einem Kollegen, der staunend die Wunder vor seinen Augen besieht.

Beeindruckende Recherche- und Schilderungsarbeit

Menschliche Gefühle, Technik und Beschreibungen der rotierenden Erde im Nichts des Weltalls ergeben in ihrer Mischung den Reiz von Umlaufbahnen. Die Widersprüchlichkeit des Anthropozäns scheint dabei hinter allen Sätzen und Schilderungen aus. Die gleichzeitige technische Meisterleistung der Menschheit, die solches Leben im All ermöglicht, steht der grenzenlosen Zerstörungswut des Menschen gegenüber, der mit seinem Raubbau und der Zerstörung der Ressourcen der Natur Spuren hinterlässt, die nicht nur die Lebensgrundlage anderer Menschen bedrohen, sondern sogar vom All aus sichtbar sind.

Beeindruckend gelingt es Samantha Harvey, all das zu vermitteln und in uns eine Ahnung davon zu wecken, wie es sein muss, befreit von der Schwerelosigkeit auf all das herunterzublicken, was uns täglich umfängt und von dem wir zwar wissen, das aber aus einer anderen Perspektiven noch einmal neue Dringlichkeit gewinnt.

Ähnlich wie Gaea Schoeters, die ungemein plastisch von der Großwildjagd in Afrika erzählt, ohne selbst dort gewesen zu sein, gelingt auch Samantha Harvey ganz ohne die Erfahrung eines Aufenthalts im All ihrem Roman den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Zur großen Kunst dieses Buchs zählt es, die Recherchen bei ESA, und NASA in ein höchst immersives Leseerlebnis zu verwandeln. Liest man ihr Buch, hat man selbst das Gefühl, mit der übrigen Besatzung durch die Raumstation zu schweben, zu schlafen oder auf den blauen Planeten mitsamt seiner Städte, Wüsten und Meere zu schauen – und das ganz ohne die Kosten und die Risiko eines eigenen Ausflug ins All.

Fazit

Umlaufbahnen zu lesen ist ein Ereignis. Allein durch die wertungsfreien Schilderungen der Blicke, die sich den Astronaut*innen eröffnen und den Blick in ihr Inneres vermittelt Samantha Harvey ein Gefühl für das Leben im All und das, was sich der Blick auf die sechzehn Umdrehungen unseres Planeten unter ihnen eröffnet. Ein Buch mit Tiefe und Vielschichtigkeit, das von Julia Wolf in ein präzises und schwebendes Deutsch verwandelt wurde und das in seiner Eindrücklichkeit ganz eigene Bahnen im literarischen Kosmos zieht. Die Auszeichnung mit dem diesjährigen Booker-Prize ist mehr als nachvollziehbar!


  • Samantha Harvey – Umlaufbahnen
  • Aus dem Englischen von Julia Wolf
  • ISBN 978-3-423-28423-3 (dtv)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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