Kristin Höller – Leute von Früher

„Alles Kulisse! Alles Fassade! Alles falsch und verlogen und ohne dich so leer.“ Das stellt Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung in seinem Chanson „Bella Maria“ ernüchtert fest. Darin beschäftigt sich der Sänger mit dem mit dem Abgleich von Italiensehnsucht und der Realität vor Ort, die noch einmal trister wird, wenn der richtige Partner an der Seite fehlt.

Von der Entzauberung solcher Paradiese, dem Geschehen hinter den Kulissen und dem Auffinden von Menschen, die vermeintlichen flachen Fassaden Tiefe geben, davon erzählt Kristin Höller in ihrem zweitem Roman Leute von früher.


Strand, so funktional ist die fiktive Nordseeinsel betitelt, auf der das Geschehen von Leute von früher fast ausschließlich spielt. Marlene ist hierhergekommen, im Gepäck nur wenig außer eines Geburtstagskuchen und der Hoffnung, nicht nur räumlich etwas Abstand zu ihrem bisherigen Leben und den erprobten Abläufen darin zu gewinnen.

Sie stand auf und trat dicht an die Fensterscheibe, Zweifachverglasung, frisch gekittet. Davor ein knospender Strauch, der die Fischräucherei gegenüber verdeckte. Der Schornstein raucht schon, vor der Tür stand ein Kreideschild mit den Spezialitäten des Tages. Rechts davon die Webstube und die Tischlerei, weit im Dorfinneren das Teehaus, das Marlene an ihrem ersten Arbeitstag gereinigt hatte. Hinter den Häusern erhob sich der Deich, ein müder, grüner Hügel.

Kristin Höller – Leute von früher, S. 40 f.

Maritimes Lagerleben

Als Saisonarbeitskraft ist sie Teil eines großen Schauspiels, das für die Besucherinnen und Besucher der Nordseeinsel aufgeführt wird. Innerhalb eines Radius tragen alle Arbeitskräfte Kostüme und wirken an einer Art historischen Re-Enactment mit, das auf Geheiß des lokalen Patrons Jahr für Jahr gegeben wird. Die Regeln des Spiels erinnern dabei fast an die Amish-Gemeinde. Keine Handys oder moderne Technik vor den Augen der Gäste, kein Ablegen des Kostüms innerhalb des Bannkreises, Begegnungen mit anderen Arbeitenden nur außerhalb des normalen Betriebs. Alles soll eine perfekte Fassade sein, Brüche sind hier nicht erwünscht.

Kristin Höller - Leute von früher (Cover)

Und so wird auch Marlene Teil des maritimen Lagerlebens, der dieser Job angesichts einer großen Orientierungslosigkeit in ihrem momentanen Leben gerade recht kommt. Gemeinsam richten die Inselbewohner*innen alles her, schrubben und stellen die Stühle auf, damit das Bild für die Gäste möglichst perfekt ist.

Gewandet in eine Kostüm aus dem Fundus der Ausstatterin fügt sie sich in das Bild ein. Mit der Funktionsbezeichnung Kramladen Verkauf/Bäuerin versehen, soll Marlene in einem Laden Fruchtgummis, Cookies und Sirup verkaufen. Dass das alles ebenso wenig authentisch wie die Bezeichnung selbstgemacht ist, ist dabei eigentlich nur zweitrangig. Es geht ja um die stimmige Simulation – oder in den Worten Florian Pauls und seiner Kapelle: Alles Kulisse! Alles Fassade!

Tiefe bekommt diese platte Kulisse erst durch das Auftauchen von Janne. Sie, die in der gegenüberliegenden Räucherei arbeitet, kennt Strand schon von Kindesbeinen an und ist jenes Teil des Bildes, das aus dem Ganzen herausragt. Immer mehr nähern sich Marlene und Janne an – und beginnen eine Romanze, die allerdings auch den wahren Charakter von Strand offenlegen wird.

Gestrandet auf Strand

Kristin Höller gelingt mit Leute von früher ein Roman, der wie ein Gegenentwurf zu Möwen- und Reetdachkitsch der Nordsee wirkt. Sie blickt hinter die Seele der Dinge, indem sie von der Sinnlosigkeit des Theaterzaubers für Touristen erzählt. Die ganze Leere, der hinter der Folklore des historischen Erlebnisdorfs aufscheint, wird bei ihr ebenso erfahrbar wie die neue Welt, die mit dem Auftauchen Jannes Einzug hält.

Mit großem Gespür für Sinnlichkeit und alle Formen von Texturen erzählt die 1996 geborene Autorin vom Annäherungsprozess von Janne und Marlene, von der Aufregung des Umeinanderwerbens und auch von den Brüchen, die schon zu Beginn einer solchen Romanze immer wieder auftreten.

Ganz oft wird hier Begehren und Aufmerksamkeit ins Essen übersetzt, ist Kulinarik die Sprache der Romantik und können die ganzen Nahrungsmittel dort im Norden, angefangen vom Seespargel bis hin zur geräucherten Makrele, noch so viel mehr als reine Speisen darstellen.

Höller verbindet diese Kulinarik Strands mit der queeren Romanze mit der maritimen Folklore bis hin zur Sage um Rungholt und dessen Auswirkungen, die auch heute noch Touristen und Einheimische umtreiben. So gelingt ihr ein Roman irgendwo zwischen norddeutschem Schauermärchen, Theaterzauber, Sinnlosigkeit und den Möglichkeiten, die aus der Begegnung der zwei Frauen dort erwachsen. Aus der Ferne grüßt Theodor Storm ebenso wie C Pam Zhang, ist die Klimakrise ebenso eingeschrieben wie die Lebens- und Erfahrungswelt der Millenials

Fazit

Mit ihrem zweiten Roman Leute von früher gelingt Kristin Höller eigenwilliges, hervorragend zu lesendes und vielstimmiges Buch voller Kulissen und Risse in den Fassaden, die auch schon das grandios gestaltete Cover vorwegnimmt.


  • Kristin Höller – Leute von früher
  • ISBN 978-3-518-47400-6 (Suhrkamp)
  • 316 Seiten. Preis: 22,00 €
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