Heute wurde die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 bekanntgegeben. Ziel ist es, den besten deutschsprachigen Roman des Jahres zu ermitteln. Ein Unternehmen, das natürlich nur zum Scheitern verurteilt sein kann.
DEN besten Roman gibt es ebenso wenig wie objektive Urteile einer Jury über Bücher, die letzten Endes immer hinsichtlich von Geschmacks- und Stilistikfragen beurteilt werden und subjektiven Eindrücken unterliegen. Dennoch ist das Unternehmen aller Ehren wert, bringt es doch 20 Büchern die gebündelte Aufmerksamkeit des Feuilletons und der interessierten Öffentlichkeit. Dank des wochenlangenen Prozederes und der Verleihung des Deutschen Buchpreises im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse ist der Siegerin oder dem Sieger viel Interesse gewiss. Auch für das Weihnachtsgeschäft der Buchhändler spielt der Preis eine gewichtige Rolle. Dabei ist es kein Geheimnis, das sich einige Bücher, die bestimmte Fragestellungen oder einen bestimmten Aufbau besitzen, besser verkaufen, als ein formal und inhaltlich ambitionierter Sieger, wie es beispielsweise Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 war.
Nun also die Longlist 2018, die ich auf den ersten Blick mehr als gelungen finde. Erfreulich viele Frauen (12 Frauen vs. 8 Männer), viele Independent-Verlag dabei, stilistische Vielfalt – doch dann kam ich langsam ins Grübeln.
Beim Anlesen der Synopsen ein immer stärker werdender Eindruck: bei den 20 Besten nichts Neues. Der Krieg und die Diktaturen sind omnipräsent. Egal ob der Klassiker Zweiter Weltkrieg (Geiger, Hauser, Fritz) oder Kalter Krieg (Biller, Senkel, Haratischwili) oder der ewige Klassiker DDR (Loschütz) – fast könnte man meinen, es gäbe eine Blaupause, die Büchern einen Platz auf der Longlist verschafft.
Wenig Innovation auch in Sachen neuer AutorInnen. Mit Gianna Molinari steht eine klassische und mit Anja Kampmann immerhin eine Roman-Debütantin auf der Longlist, ansonsten stolpert man bei vielen Titeln auf der Liste über bekannte Gesichter. Mit Stephan Thome, Angelika Klüssendorf und Gert Loschütz sowie Inger Maria Mahlke und Arno Geiger gibt es auch fünf AutorInnen, die schon einmal auf der Shortlist vertreten waren (bzw. einmal im Falle Arno Geigers sogar einen Gewinner). Zwei Bücher wurden gleich vom Preis der Leipziger Buchmesse aus dem Frühjahr mit übernommen (Senkel und Kampmann). Das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau – denn offen gestanden enthält die Liste auch einige bereits erschienene Titel, die ich zuvor überhaupt nicht wahrgenommen hatte und die mir neu waren. Somit bietet die Liste auch noch einmal Chancen, auf Übersehenes zurückzukommen.
Eine Frage, die sich aber aus den Diskussionen auf Facebook in puncto Longlist für mich entwickelt hat, ist diese: je weiter wir uns von den Ereignissen wie etwa dem Zweiten Weltkrieg entfernen, umso präsenter scheinen diese Themen im deutschsprachigen Buchmarkt zu werden. Warum ist das so? Gibt es Faktoren, die diese Entwicklung begünstigen?
Und warum sind die Bücher Mangelware, die sich mit aktuell(er)en Problemen befassen? Abgesehen von Helene Hegemanns Bungalow und meinetwegen vielleicht auch Muschgs Rückkehr nach Fukushima finde ich bei einem ersten Überblick wenig Aktuelles, sondern eher dezidiert Apolitisches fernab vom täglichen Leben. Themen wie Überalterung, prekäre Lebensverhältnisse, Wohnungsnot, Chancengerechtigkeit oder ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen finden wenig Eingang in die Gegenwartsliteratur. Es dominiert der Blick zurück statt der nach vorne – warum aber ist das so?
Habt ihr Erklärungen? Seht ihr die Entwicklung anders? Oder habt eine völlig andere Meinung? Habt ihr Antworten für mich? Mir fehlen sie nämlich …
Ein kleiner Nachtrag: Auf Deutschlandfunk Kultur haben sich Kolja Mensing, Wiebke Porombka und Frank Meyer ebenfalls über die Longlist des Deutschen Buchpreises ausgetauscht. Das Gespräch findet man an dieser Stelle.
[…] Zeichen stehen schon auf literarischen Herbst – und mit ihm kommt auch der Deutsche Buchpreis auf uns zu. In Vorbereitung auf das Event lese ich den nominierten Titel Der Gott der Barbaren von […]
Lieber Marius, ausnahmsweise kann ich dir mal nicht zustimmen. Ich finde die Liste eigentlich sehr gut gelungen. Immer werden dem einen oder anderen, natürlich auch mir, Titel fehlen. Aber insgesamt… Liegt vielleicht daran, dass ich weniger Wert auf das Thema, sondern auf seine Umsetzung lege. Auch „gestrige“ Themen können mir viel für das Heute geben, und ganz aktuelle mich völlig kaltlassen. Auch bin ich generell ein Freund des „lesbaren“ Romans. Und da ist dieses Jahr ganz viel dabei. Viele Grüße!
Hast du denn schon welche der nominierten Titel gelesen und kannst sie empfehlen? Bei mir ist es bislang nur „Unter der Drachenwand“, den ich bei einer Podiumsdiskussion besprochen habe.
Hier liegt auch noch „Nachtleuchten“, auf das ich mich wirklich freue. Vor allem, da das Buch mal ein Thema behandelt, das für mich nicht alltäglich im aktuellen Veröffentlichungsreigen ist.
Und natürlich wäre es nicht der Deutsche Buchpreis, wenn nicht immer wieder der ein oder andere meckert oder motzt … 😉
Viel Spaß beim weiteren Austausch über die Liste!
Unter der Drachenwand fand ich, wie du, sehr stark. Und mir hat noch der Loschütz sehr gut gefallen. Als nächstes werde ich den thome lesen und berichten. Viele Grüße!
Dreimal darfst du raten, was seit gestern hier auf meinem Stapel liegt 😉
Hallo Marius 🙂 ich kann dir leider auch keine Antworten geben. Ich bin jetzt seit fast fünf Jahren im Buchhandel und Jahr für Jahr ist es die selbe Frage. Mittlerweile spare ich es mir sogar, den Gewinner zu lesen, weil es oft der selbe „Mist“ ist wie jedes Jahr. Sprachlich oft keine Glanzleistung, thematisch so aktuell und semi-politisch wie es nur geht und doch werden sehr gute aktuelle, literarisch großartige Bücher gar nicht beachtet. Mich enttäuscht auch dieses Jahr ein bisschen, dass die offensichtlichsten Autoren nicht dabei sind. Eine neue Zeh ist nicht dabei, man fragt sich: war der Kehlmann… Weiterlesen »
Servus Ella,
also ein Buchpreissieger war wirklich nach meinem Geschmack – und zwar im letzten Jahr Robert Menasses „Die Hauptstadt“. Sprachlich sehr ansprechende Schilderungen, ein Blick hinein in den Motorraum Europäische Union, viel Impulse, eine Botschaft, die das Bedenken wert ist. Nur leider sind diese Bücher für meinen Geschmack wirklich in der Minderheit.
Eine „Hauptstadt“ fehlt mir dieses Jahr wirklich.
Danke für deine Meinung und dein Mitgemecker! 😉
Beste Grüße,
Marius
Hey Marius,
vielleicht nehme ich dann Menasse doch mal zur Hand. 🙂
Sehr gerne:) Mitgemecker ist mein zweitliebstes Hobby 🙂
Alles Liebe, Ella 🙂
Also den Menasse mochte ich sehr (siehe auch meine kleine Rezension hier https://buch-haltung.com/robert-menasse-die-hauptstadt/ ) – aber wenn er dir nicht gefällt darfst du auch sehr gerne meckern 😉
Beste Grüße,
Marius
Alles klar ich schau mir erstmal deine Rezension an und dann lese ich mal rein 🙂
Romane, die gegenwärtige behandeln und sprachlich auf einem hohen Niveau gibt es viele, nur kommen die irgendwie nicht durch. Bettina Wilpert wäre zu nennen oder auch Kathrin Weßling, auch Mareike Fallwickl. Sie alle bringen aktuellere Theben auf den Tisch und da verstehe ich den rückwärts gewandten Blick der Longlist nicht.
Ich finde sie zwar sprachlich gut zusammengestellt, aber inhaltlich nicht. Noch dazu die vielen bekannten Gesichter, was mir aber jedes Jahr sauer aufstößt und mir das Gefühl einer Klüngelwirtschaft geben.
Naja. Dystopien gibt es ja wohl mindestens so viele wie Vergangenheitsromane …
Also ich sehe auf der Liste keine Dystopie – aber ich lasse mich gerne eines besseren belehren 😉
Das bezog sich auch nicht explizit auf die Longlist. Zuletzt war ja generell die deutsche Gegenwartsliteratur im Gespräch.
So gesehen ja. Aber Dystopien sehe ich eher im Jugendbuchbereich und nicht ganz so häufig im Erwachsenenbereich. Aber sie waren schon auf der Liste, da geb ich dir recht. Ich entsinne mich der „Verteidigung des Paradieses“ von Thomas von Steinaecker oder Reinhard Jirgls „Nichts von euch auf Erden“.
Den Blick nach vorne gibts auch schon. Aber gerade scheint mir wirklich, als orientiere sich der Großteil der deutschen „Hoch-Literatur“ wieder rückwärts.
Wäre auch mal interessant zu sehen, ob dieses Gefühl statistisch unterfüttert werden kann, oder ob und wie stark Dystopien gerade im Kommen sind.
Doch, da gibt es viele, nicht nur beim Jugendbuch. Gerade eben ja erst „Die Hochhausspringerin“, Heinz Helles „Eigentlich müssten wir tanzen“, Juli Zeh, Karen Duves „Macht“, Valerie Frtischs „Winters Garten“ … etc. Alles ernstzunehmende Dystopien …
Vielen Dank – die hatte ich so alle nicht so wirklich auf dem Schirm. Aber ja, die Dystopien scheinen auch zu boomen!
Ich denke, es ist wichtig über beides zu schreiben. Vergangenheit und mögliche Zukunft. Die Gegenwart lässt sich dann daraus leben. Als brandaktuelle Gegenwartsliteratur sehe ich vermehrt Sachbücher im kommen.
Aloha Marius, aka Meckerbär ;), es ist halt nicht ganz einfach ganz brandaktuelle Themen parat zu haben. Wie Du ja weißt, schreibt sich ein Buch nicht von heute auf morgen und dann muss es produziert werden. Dann ist die Frage, welche Bücher eingereicht werden, welche von der Jury angefordert … manchmal habe ich das Gefühl, dass Themen einfach durch was auch immer verstärkt empor gespült werden. Aber was Deinen Wunsch nach mehr Büchern angeht, die sich einmischen, den kann ich sehr gut verstehen. Welche Bücher Du gerne auf der Longlist gesehen hättest, hast du ja bereits geschrieben … LG, Bri
Na das man es allen nicht recht machen kann, das ist ja klar. Genau das, was ich hier ein bisschen kritisiere, das findet der andere gut. Wir sprechen hier ja auch von der Quadratur des Kreises. Aber ein bisschen mutiger dürfte es für mein Empfinden schon sein.
Ich warte jetzt mal die Leseproben ab und schaue – vielleicht sind ja doch Debattenbücher dabei, die von gestern einen Blick ins Morgen richten? Ich lasse mich gerne überraschen!
Da hast Du Recht – vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass man erst mal die Wurzeln genau kennen muss, um die Gegenwart konkret zeigen zu können 😉 Ich bin auch gespannt. LG
Oder um den alten Humboldt zu zitieren: Nur wer seine Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft …
Hallo Marius, im Großen Ganzen gehe ich konform. Aber eine Gegenfrage sei gestattet: Muss Literatur (immer) aktuelle Gegenwartsprobleme behandeln? Für mich ist ein gemäßigtes Autonomiestatut der Kunst durchaus legitim, wie wir es z.B. aus der Weimarer Klassik (und in teilen aus der Romantik) kennen. Literatur kann und sollte nicht immer aktuelle Wirklichkeit erklären, problematisieren, kommentieren oder gar Problemlösung anbieten. Senkel macht genau das; nur vordergründig geht es um Kalten Krieg und „Aufrüstung durch Rechnerkraft“, das eigentliche Thema aber ist: wie beschreiben wir Wirklichkeit, wo liegen Grenzen von Faktualität und Imagination, was kann Fiktion im „Zeitalter der Rechnerkraft“ und in welchem… Weiterlesen »
Servus Jochen,
als ich „Dunkle Zahlen“ auf der Longlist sah, musste ich wirklich schmunzeln und an dich denken.
Die Frage, welchen Status die Kunst hat und wie weltfremd sie sein darf oder sollte, wird sicher auch jeder hier anders beantworten.
Ich würde mir in Zeiten mehr Debattenliteratur wünschen, Bücher, die sich einmischen, an denen man sich reiben kann und die das eigene Weltbild ankratzen.
Aber so etwas sehe ich hier leider nur in Ansätzen …