Wenn es ein Genre im Kriminalroman gibt, das in letzter Zeit einen wirklichen Boom erfuhr, dann ist es der historische Krimi. Besonders die Epoche der Roaring Twenties bis hin zur Zeit des Dritten Reichs erfreut sich derzeit bei Autor*innen größter Beliebtheit. Auch befeuert durch die erfolgreiche Verfilmung der Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher entstand in letzter Zeit der Trend, jene Zeit im Gewand des Krimis fiktionalisiert wieder auferstehen zu lassen. Autor*innen wie Uwe Klausner, Alex Beer, Bernd Ohm, Frank Goldammer, Harald Gilbers oder Susanne Goga haben jüngst Werke oder Reihen verfasst, die in dieser Zeit spielen. Und wie es zumeist bei solchen Trendthemen in der Literatur ist: die Ergebnisse sind dabei mal gelungener, mal eher fragwürdigerer Natur.
Den boomenden historischen Krimi aber nun nur für eine deutsche Spezialität zu halten, das ist grundfalsch. Besonders englische Autoren haben schon deutlich vor dem aktuellen Trend das literarische Potential dieser Zeit erkannt. Robert Harris ließ in Enigma einen Kampf zwischen Briten und Deutschen um die Chiffriermaschine der Nazis ausfechten oder sponn in Vaterland die Idee, was gewesen wäre, wenn die Deutschen den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Auch sein Landsmann Philip Kerr nutzte die Folie des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Er schickte seinen Detektive Bernie Gunther auf zahlreiche Missionen, während die Nazis Europa und den Rest der Welt in Atem hielten.
Ein Bulle in Paris
Nun ist mit Chris Lloyd der nächste Brite im Programm von Suhrkamp zu entdecken, der sich mit der Zeit des Dritten Reichs auseinandersetzt. In seinem von Thomas Wörtche herausgegebenen Krimi Die Toten vom Gare d’Austerlitz begleiten wir den französischen Polizisten Édourard, genannte Eddie, Giral. Dieser versieht in Paris seinen Dienst. Wir schreiben den Juni 1940, die Nazis sind in Paris einmarschiert. Sie entmachten die französischen Polizisten, die nun den deutschen Besatzern unterstellt sind. Eddie will davon aber nichts wissen. Denn er hat einen beziehungsweise zwei Fälle, die er unbedingt lösen will.
Auf einem Abstellgleis auf dem Gelände des Gare d’Austerlitz wurden in einem Waggon vier Polen entdeckt, die mit Gas umgebracht wurden. Das weckt in Eddie Erinnerungen an den eigenen Dienst in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Zudem alarmiert ihn wenig später eine weitere Schreckensmeldung. Ein anderer Pole hat einen erweiterten Suizid begangen. Die tat hinterlässt bei Eddie viele Fragezeichen. Doch als sich heraussstellt, dass der Selbstmörder und einer der im Zug ermordeten aus der selben Stadt stammen, wird Eddie stutzig.
Und als seien diese Fälle nicht schon genug, bekommt Eddie auch beruflich und privat noch einige Knüppel zwischen die Beine geworfen. So muss er beständig einem deutschen Militär Bericht erstatten, der ihn zu Gehorsam und Disziplin zwingen möchte. Auch die Gestapo will sich Eddies Loyalität sicher sein. Ein Gruppe polnischer Exilanten, eine amerikanische Reporterin und quertreibende Kollegen im Polizeirevier erschweren zudem Eddies Arbeit. Und auch privat treiben den unangepassten Polizisten Sorgen um. Denn sein Sohn ist von Hass auf die deutschen Besatzer getrieben. Er plant Rache und Vergeltung. Eddie findet sich zwischen allen Fronten wieder.
Ein unübersichtliches Labyrinth
Es sind viele Themen, Personen und Stränge, die Chris Lloyd in seinem deutschen Debüt zusammenführt. Ihm gelingt aber das Kunststück, diese ganzen erzählerischen Fäden nicht zu einem Knäuel zu verwirken. Zwar gleichen Paris und die unterschiedlichen Interessen von Deutschen, französischen Ermittlern und sonstigen Parteien einem komplizierten Durcheinander. Aber der erzählerische Faden bleibt stets in Lloyds Hand, der trotz aller unterschiedlicher Interessen im besetzten Paris die Handlung nicht vergisst.
Eddie ist dabei ein schnodderiger, rebellischer Charakter, dessen Unangepasstheit ihn sowohl in Konflikt mit den Kollegen als auch mit den Besatzern bringt. Früher versah er als Rausschmeißer in den Kneipen und Jazzclubs von Montmartre seinen Dienst, heute ist er ein eigenwilliger Polizist. Seine Ermittlungen sind ein Ritt auf der Rasierklinge, den er allerdings ohne viel Rücksicht oder Federlesens wagt. Und natürlich sind ihm wie jedem guten Helden im historischen Krimi die Nazis ein Gräuel und er sabotiert ihre Pläne, wo er kann.
Von solchen erzählerischen bekannten Grundmustern und den manchmal etwas gekünstelten Übergängen zu den erzählerischen Rückblenden abgesehen (die aber eher kritischwürdige Petitessen sind), ist Die Toten vom Gare d’Austerlitz aber ein wirklich gelungenes Buch. Ein spannender und solider Thriller mit einem Helden, von dem man gerne mehr lesen würde. Das Nachwort gibt Hoffnung, dass die Reihe fortgeführt wird. Das wäre auf alle Fälle wünschenswert.
- Chris Lloyd – Die Toten vom Gare d’Austerlitz
- Aus dem Französischen von Andreas Heckmann
- Herausgegeben von Thomas Wörtche
- ISBN: 978-3-518-47136-4 (Suhrkamp)
- 473 Seiten. Preis: 15,95 €
Bildquelle Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-L12788 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5366020