Hari Kunzru – Blue Ruin

Der Brite Hari Kunzru setzt seine literarische Farbpalette fort. Nach White Tears und seinem zuletzt erschienenen Roman Red Pill folgt nun Blue Ruin, das von künstlerischer Radikalität, einer Ménage-a-trois und von der Zeit der Pandemie erzählt. Dabei gelingt ihm ein Roman mit Ringschluss und der Frage, welche Opfer man für die Kunst zu bringen bereit ist.


Ähnlich wie in Daisy Hildyards Roman Notstand ist man auch in Hari Kunzrus neuem Streich gleich auf den ersten Seiten wieder mittendrin in jener Zeit, als die Covid-Pandemie die Welt lahmzulegen schien, als man Maske trug, Abstand hielt und sich zurückzog, wenn man die Möglichkeit dazu hatte.

Für Jay allerdings gilt das nicht. Er kann sich keine Isolation oder Stillstand leisten, ist er doch auf die Arbeit seiner Hände angewiesen, um sich irgendwie am Leben zu halten. Schwer an Covid erkrankt, musste er bereits aus einer Unterkunft von Wanderarbeitern ausziehen und lebt jetzt in seinem Auto. Sein karges Auskommen erwirtschaftet er aktuell mit dem Liefern von Lebensmitteln, die er den begüterten Einwohnern von Upstate New York als Kurier kontaktlos zustellt.

Eine schicksalhafte Begegnung in Upstate New York

Bei einer dieser Kurierfahrten begegnet er Alice, mit der ihn eine wechselvolle Geschichte verband, ehe sie aus seinem Leben verschwand. Nun, zwanzig Jahre später, ist es sie, die vor einer der noblen Upstate-Villen seine Lebensmittellieferung entgegennimmt. Eine geradezu schicksalhafte Begegnung, wie sich im Folgenden zeigen wird.

Hari Kunzru - Blue Ruin (Cover)

Denn die Schwächung durch die Krankheit und den labilen Zustand Jays sorgen dafür, dass er nach der Übergabe der Lieferung und dem Wiedererkennen seiner einstigen Geliebten vor deren Füßen zusammenbricht. Statt ihn vom Gelände zu werfen, quartiert Alice Jay geheimerweise in einer Remise auf dem Grundstück ein.

Während sich Jay langsam von den Nachwirkungen der Covid-Erkrankung erholt, taucht er ganz tief ein in die Erinnerungen. So beschwört er die ersten Begegnungen mit Alice, ihr Kennenlernen herauf. Auch der Beziehung, die aus ihrer Affäre entstand, erinnert er sich- bis hin zu Alice‘ Verschwinden, als sie stattdessen mit Rob, Jays einst bestem Kumpel und Malerfreund, zusammenkam.

Er ist es auch, der nun in dem prachtvollen Anwesen in Upstate New York wohnt, womit etwas zwischen den drei Beteiligten zu seinem Ende kommt, das einst in den heruntergekommenen Londonern Vierteln zwischen Shoreditch und Hackney Wick begann.

Eintauchen in die Londoner Kunstwelt der 90er Jahre

Blue Ruin ist ein Roman, der zum großen Teil aus Rückblenden besteht, die sich langsam mit der Gegenwart zu Pandemiezeiten verschränkt. So taucht Hari Kunzru zusammen mit seinem Protagonisten Jay ganz tief ein in den wenig glamourösen Teil der Londoner Kunstwelt zu Beginn der 90er Jahre ein.

Drogen, das Ringen um künstlerische Identität, das Finden einer eigenen Bildsprache und eines Platzes im Kunstbetrieb und im eigenen Leben prägen jene Jahre, die Kunzru in den Rückblenden wiederauferstehen lässt. DIY-Ausstellungen in alten Lagerhallen mit schalem Bier und vielen Drogen, das Hoffen auf den künstlerischen Durchbruch und das Austesten von radikalen Kunstkonzepten irgendwo zwischen Performance und gesellschaftlicher Verweigerung prägen Jays Erfahrungen und sorgen auch für eine turbulente Beziehung mit Alice und auch Rob, ehe alles in die Brüche geht.

Die Verzahnung der Vergangenheit mit der Gegenwart arbeitet Kunzru dabei gelungen heraus. Ebenso gut gelingt ihm die Schilderung der Kunstwelt der 90er Jahre und das Porträt einer wechselhaften, selbstzerstörerischen Beziehung, bei der aus der Ferne sogar noch Othello grüßt, wenn die Hautfarben verhandelt werden, der Galerist auf den Namen Jago hört und sich Beziehungen wie Verrat anfühlen.

Fazit

Wie weit ist man bereit, für Kunst zu gehen und welchen Preis zahlt man für künstlerische Eigenständigkeit? Diese Fragen schweben über Blue Ruin, das in seiner Verbindung von Liebe, Begehren, künstlerischer Inspiration und Täuschung gelungen ausgearbeitet ist.

Wie für Hari Kunzru typisch scheint auch dieser Roman in manchen Passagen fast ins Surreale abzugleiten, verschränken sich Kunst und Radikalität. War es in White Tears ein geheimnisvolles Musikstück, das zwei Freunde in den Strudel zog, war es in Red Pill eine geheimnisvolle Serie, die den Protagonisten am Wannsee langsam in den Wahnsinn trieb. Hier ist es nun die Welt der Kunst, in der sich Jay verliert und schlussendlich sogar aufzulösen droht, ehe alles in Upstate New York kulminiert.

Damit ist Blue Ruin eine präzise Nahaufnahme einer verhängnisvollen Beziehung und künstlerischen Dreierbande, eine tiefes Eintauchen in die Kunstwelt und eine Erinnerung an die Lebensrealität während der Zeit der Coronapandemie, die Hari Kunzru hier gelungen miteinander verschränkt.


  • Hari Kunzru – Blue Ruin
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-95438-173-9 (Liebeskind)
  • 344 Seiten. Preis: 24,00 €
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