Wie spannend Gehirnchirurgie sein kann, das stellt Leon de Winter in seinem neuen Roman Stadt der Hunde unter Beweis. Darin begibt sich ein alternder Starchirurg auf ein Himmelfahrtskommando, mit dem viele Hoffnungen im Nahen Osten verknüpft sind. Literatur auf Höhe der Zeit – und dann doch wieder nicht.
Amsterdam Hope – so heißt jene Operation, von deren Wohl und Wehe fast alles abhängt in Leon de Winters neuem Roman Stadt der Hunde, mit dem er sich nach fast zehn Jahren seit seinem letzten Roman Geronimo nun auf großer Bühne zurückmeldet.
Durchführen soll die Operation Jaap Hollander, ein erfahrener Gehirnchirurg mit Erfahrung und Talent, dem weltweit kaum ein anderer Chirurg gleichkommt. Eigentlich hat er sich schon zur Ruhe gesetzt; besonders der Schicksalsschlag des Verschwindens seiner Tochter hat ihn tief getroffen. Zusammen mit ihrem Freund verschwand sie vor zehn Jahren in der Wüste Negev, wo sich an einem Krater ihre Spuren verlieren.
Doch nun bringt jenes Projekt auch Jaap selbst wieder Hoffnung. Denn er soll auf Geheiß des charismatischen israelischen Ministerpräsidenten für die Tochter des Herrschers von Saudi-Arabien eine Operation durchführen, die mit dem Begriff Himmelfahrtskommando nur unzureichend charakterisiert ist. Die Tochter des Herrschers sollte dessen Nachfolge antreten und ist dazu angetan, mit ihrem Intellekt und Offenheit das Herrschaftshaus in eine vielversprechende Zukunft zu führen, die die Verhältnisse im ganzen Nahen Osten neu ordnen und beruhigen könnte. Doch es gibt ein Problem: bei der Tochter wurde ein unheilbarer Tumor im Gehirn diagnostiziert, der inoperabel ist und den baldigen Tod der jungen Frau verursachen wird.
Ein Gehirnchirurg auf Himmelfahrtskommando
Nur einen Mann gibt es, der das Himmelfahrtskommando einer OP durchführen kann – Jaap Hollander. Und obschon er selbst um die Unmöglichkeit der Aufgabe weiß, lässt er sich auf die OP ein. Sein Antrieb ist dabei Geld, sogar sehr viel Geld. Denn er hat sich mehrere Millionen Dollar für den Job ausbedungen, mit denen er wiederum einen Archäologen und dessen Team finanzieren will, die jenen Krater in der Negev-Wüste erforschen sollen, in dem seine Tochter mutmaßlich verschwand.
So kommt es in Leon de Winters Roman zu einem Doppelporträt zweier verzweifelter Väter, die für ihre Ziele alles Menschenmögliche und Menschenunmögliche versuchen. Die intrikate OP in einem Teil des Gehirns, bei dem jeglicher Eingriff eigentlich zum Scheitern und die Patientin gleichsam zum Tode verurteilt ist – und der saudi-arabische Herrscher, der von Geldbeträgen in Millionenhöhe bis zu Kontakten zum israelischen Ministerpräsidenten alles möglich macht, um mit einem Team unter Jaaps Führung doch den Eingriff zu wagen.
Gerade in dieser ersten Hälfte entfaltet de Winters Roman seine größten Qualitäten, vermag es der niederländische Autor doch, ungemeine plastisch und spannend von der riskanten Operation und dem Geschäft der Hirnchirurgie zu erzählen. Da verzeiht man auch die libidinöse Schlagseite dieses Romans, da dieser in Jaap einen zwar alternden, aber dennoch mit unerfüllten Liebesbedürfnissen geplagten Helden besitzt, die immer wieder sein Denken durchdringen. Besonders, dass eine frühere Affäre eine zentrale Rolle in der Zusammenstellung des OP-Teams spielt, weckt im desillusionierten Operateur wieder viele Gefühle, denen de Winter mehr als genug Raum gibt.
Vom OP-Tisch in die Stadt der Hunde
Schade ist dann aber, dass sich sein Roman von diesem Himmelfahrtskommando der OP mit politischen Implikationen und der Erkundung väterlicher Verzweiflung zu einem surrealen Trip entwickelt, bei dem die titelgebenden Hunde dann ins Spiel kommen. Denn nach einem Zwischenfall mit Hunde-Hinterlassenschaft findet er sich selbst auf einem Operationstisch wieder und wird zum Patienten. Fortan vermag er die Stimme von Hunden zu hören. Diese eröffnen ihm die Möglichkeit, endgültig Klarheit über den Verbleib seiner Tochter zu erlangen. Dabei wird der nach dem Stammvater Israels benannte Jaap zu einer Art Orpheus, der in die Unterwelt absteigen muss und dort Leid erfährt, bei der die Entmannung des Chirurgen nur einen der vielen Prüfungsschritte darstellt, derer sich der verzweifelte Vater unterwerfen muss.
Hier nimmt der Roman eine Abzweifung ins Fantastische, die sich dann zwar auch wieder auflöst, die aber die erzählerische Dichtheit und das politisch-persönliche Potential der eigentlichen Geschichte vermissen lässt. Spätestens mit der erzählerischen Verbindung zu den Geschehnissen am 07. Oktober 2024 kollabiert der erzählerische Bogen dann leider vollends und mag nicht so wirklich zum überzeugenden Ton der ersten Hälfte passen, auch wenn es in der reliösen Selbstfindung des Chirurgen eine weitere Ebene eingezogen wird. Eher wirkt der Roman in seiner Gesamtheit mit der letzten Volte des Plots zu aufgepropft, um sich wirklich überzeugend in den wilden erzählerischen Ritt einzupassen.
Fazit
In Stadt der Hunde zeigt sich einmal mehr, dass gerade die Verarbeitung gegenwärtiger Geschehnisse in der Literatur Zeit braucht, um zu reifen und in der künstlerischen Behandlung dann zu überzeugen. Leon de Winter gelingt das mit seinen literarischen Gangwechseln leider nicht wirklich überzeugend. Das ist schade, denn gerade der erste Teil der Erzählung ist wirklich überragend und hätte mit Fokus alleine auf diese Geschichte und alle ihr innewohnenden Aspekte deutlich mehr überzeugt, als was dann im zweiten Teil auf uns Leser*innen wartet.
Weitere Meinungen zu Leon de Winters Roman gibt es bei Zeichen & Zeiten und Kommunikatives Lesen.
- Leon de Winter – Stadt der Hunde
- Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
- ISBN 978-3-257-07281-5 (Diogenes)
- 272 Seiten. Preis: 26,00 €