Von der Orientierungslosigkeit der Jugendjahre und der Suche nach Anschluss erzählt Luca Kieser in seinem zweiten Roman Pink Elephant, der mitnimmt in eine schwäbische Kleinstadt und die Zeit um die WM 2006 noch einmal auferstehen lässt.
Talahon, dieses Wort hat es im vergangenen Jahr zum zweiten Platz bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres gebracht. Aus einem Song des kurdisch-syrischen Rappers Hassan stammend, mauserte sich der Begriff zum Sammelnamen für junge Männer mit zumeist arabischen Migrationshintergrund, so weiß es Wikipedia zu berichten. Ein Grund für den Erfolg des Begriffs dürfte seine Prägnanz sein, mit der er eine sonst eher schwer zu definierende Menschengruppe zusammenfasst. E-Scooter, Gürteltasche, viel Gel in den Haaren, Schattenboxen und eine Slang-Sprache, das sind Marker, mit denen der Begriff konnotiert ist und der seither viele Debatten ausgelöst hat.
Hätte es diesen Begriff schon vor achtzehn Jahren gegeben, viele der Protagonisten aus Luca Kiesers Roman Pink Elephant stünden wahrscheinlich unter Talahon-Verdacht, rekrutiert sich doch ein zentraler Teil des Romanpersonals aus migrantischen Kreisen, die man heute mit dem Talahon-Terminus belegt.
Anschluss an Talahon-Kreise
Auch der Ich-Erzähler Vincent sucht und findet Anschluss in diesen Kreisen, obwohl sein erster Kontakt durch Gewalt definiert ist. So äußert er sich im Laufe eines Hacky-Sack-Matches vor dem Chemieraum in der Schule abwertend über die spärliche Barttracht eines Mitschülers Tarek . Das bringt ihm nicht nur eine Kopfnuss und eine Abreibung ein, auch bedeutet es ein Täter-Opfer-Gespräch bei einem Sozialarbeitern mit seinen Peinigern Ali und Tarek.
Daraus erwachsen aber keine verhärtete Fronten, obwohl Gespräche mit der Schulleitung und einer Anzeige bei der Polizei darauf weisen könnten. Stattdessen sucht Vince Anschluss bei Tarek und Ali, die Vince in ihrer Welt aufnehmen. Es ist eine Welt, die konträr zur von spießbürgerlichen Ordnung definierten Welt der schwäbischen Kleinstadt steht, in der Vince bislang aufgewachsen ist und die von einem Bürgermeisterkandidaten namens Boris bis hin zu einem an der Wand hängenden Gemälde mit dem Hölderlin-Turm erstaunlich jener Stadt ähnelt, in der Luca Kieser selbst aufgewachsen ist, nämlich Tübingen.
Stehlen, Prügeln, Döner-Bonuskartenbetrug
Statt Tatort-Abende mit seinen Eltern führen ihn Ali und Tarek in das Rauchen ein, lernt er die Probleme von Ali kennen, der von einem anderen Jungen namens O erpresst und erniedrigt wird. Stehlen, Döner-Bonuskartenbetrug, Prügeleien in Unterführungen und erwachende Gefühle für Tareks Schwester Tahira sind nun neue Elemente in Vincents Leben.
Dann trat Ali neben mich und sagte: „Wir regeln das unten in der Unterführung“
Und während sie dann, wieder ein paar Meter von uns, den Weg nach links hintergingen, leerten wir unsere Taschen: Handy, MP3-Player, Zigaretten, Geldbeutel, Schlüssel, alles in meinen Rucksack.
An der Ecke der Unterführung legte ich ihn ab und blieb stehen. Tarek baute sich in der Mitte der Unterführung auf, streckte den Rücken durch und verschränkte seine Hände vor dem Schritt. Und Ali hockte sich neben meinen Rucksack, zog dabei seine Trainingsjacke aus und murmelte: „Wenn sie mich ficken, Vince-„
„Gehen wir mit drauf“, ergänzte ich und zwinkerte: „Bruder, wir sind Arab Power“.
Luca Kieser – Pink Elephant
Dass es mit der Arab Power im Falle von Vince und auch möglicherweise bei Ali im Gegensatz zum aus Syrien stammenden Tarek gar nicht so weit her ist, das ist nur eine Pointe dieses Romans, der seine Männlichkeitsbilder und die Sprache aus dem Vorbild der im Roman zitierten Deutschrapper Bushido, Massiv oder Eko Fresh zieht.
Ein Roman mit dem Duft von Axe Deodorant
Könnte dieser Roman duften, er würde stark nach Axe Deodorant riechen, so bin ich mir sicher. Die Pubertät mitsamt dem männlichen Kraftüberschuss, der sich hier im einem latenten Hang zur Illegalität äußert, das Aufsprechen und die Rebellion gegen gesellschaftliche Ordnungen, sie sind Themen, die Luca Kieser umkreist.
Auch wenn alles, was seither passiert war, richtig scheiße war, hatte es doch irgendwie auch sein Gutes. Hier im Viertel hatte alle andauernd Stress, Stress untereinander, Stress mit irgendwelchen Jungs aus anderen Vierteln, Stress mit der nächsten Stadt, mit irgendwelchen Leuten aus Stuttgart. Jetzt endlich hatte auch ich Stress.
Luca Kieser – Pink Elephant
Pink Elephant nimmt die Orientierungslosigkeit der Jugendjahre in den Blick. Wo finde ich Anschluss, wo gehöre ich hin, mit welchen Menschen umgebe ich mich – und welchen Einfluss haben diese auf mich? Diese zentralen Fragen treiben auch Vincent ein, der sich im Spannungsfeld zwischen Arzthaushalt und Modellbahneisenbahn im Keller auf der einen Seite und der Talahon-Welt von Ali und Tarek auf der anderen Seite wiederfindet.
Ein Roman mit langer Reifezeit
Luca Kieser schildert die Konflikte und die jugendlichen Lebenswelten in einem tragfähigen und glaubhaften Ton, der von arabischen Slangwörtern durchsetzt ist und der Vincents Zerrissenheit gut auf den Punkt bringt. Nach dem vielstimmigen und für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman Weil da war etwas im Wasser schlägt Pink Elephant nun andere Töne an, die zeigen, was für unterschiedliche Tonalitäten der 1992 geborene Autor bedienen kann und wie dicht ein Gefüge aus Zeitgeschichte und psychologischer Einfühlung in Figuren aussehen kann, wenn man jahrelang daran arbeitet.
Denn Pink Elephant, so verrät es das Nachwort, hat eine lange Geschichte. Eine Reifezeit von zehn Jahren mitsamt diverser Versionen und Überarbeitungen liegt hinter dem Buch, ehe es nun im Blessing-Verlag erschienen ist. Es ist eine Reifezeit, die sich gelohnt hat, wie die Lektüre von Pink Elephant nun zeigt.
- Luca Kieser – Pink Elephant
- ISBN 978-3-89667-760-0 (Blessing)
- 304 Seiten. Preis: 24,00 €