Tag Archives: Baden-Württemberg

Luca Kieser – Pink Elephant

Von der Orientierungslosigkeit der Jugendjahre und der Suche nach Anschluss erzählt Luca Kieser in seinem zweiten Roman Pink Elephant, der mitnimmt in eine schwäbische Kleinstadt und die Zeit um die WM 2006 noch einmal auferstehen lässt.


Talahon, dieses Wort hat es im vergangenen Jahr zum zweiten Platz bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres gebracht. Aus einem Song des kurdisch-syrischen Rappers Hassan stammend, mauserte sich der Begriff zum Sammelnamen für junge Männer mit zumeist arabischen Migrationshintergrund, so weiß es Wikipedia zu berichten. Ein Grund für den Erfolg des Begriffs dürfte seine Prägnanz sein, mit der er eine sonst eher schwer zu definierende Menschengruppe zusammenfasst. E-Scooter, Gürteltasche, viel Gel in den Haaren, Schattenboxen und eine Slang-Sprache, das sind Marker, mit denen der Begriff konnotiert ist und der seither viele Debatten ausgelöst hat.

Hätte es diesen Begriff schon vor achtzehn Jahren gegeben, viele der Protagonisten aus Luca Kiesers Roman Pink Elephant stünden wahrscheinlich unter Talahon-Verdacht, rekrutiert sich doch ein zentraler Teil des Romanpersonals aus migrantischen Kreisen, die man heute mit dem Talahon-Terminus belegt.

Anschluss an Talahon-Kreise

Luca Kieser - Pink Elephant (Cover)

Auch der Ich-Erzähler Vincent sucht und findet Anschluss in diesen Kreisen, obwohl sein erster Kontakt durch Gewalt definiert ist. So äußert er sich im Laufe eines Hacky-Sack-Matches vor dem Chemieraum in der Schule abwertend über die spärliche Barttracht eines Mitschülers Tarek . Das bringt ihm nicht nur eine Kopfnuss und eine Abreibung ein, auch bedeutet es ein Täter-Opfer-Gespräch bei einem Sozialarbeitern mit seinen Peinigern Ali und Tarek.

Daraus erwachsen aber keine verhärtete Fronten, obwohl Gespräche mit der Schulleitung und einer Anzeige bei der Polizei darauf weisen könnten. Stattdessen sucht Vince Anschluss bei Tarek und Ali, die Vince in ihrer Welt aufnehmen. Es ist eine Welt, die konträr zur von spießbürgerlichen Ordnung definierten Welt der schwäbischen Kleinstadt steht, in der Vince bislang aufgewachsen ist und die von einem Bürgermeisterkandidaten namens Boris bis hin zu einem an der Wand hängenden Gemälde mit dem Hölderlin-Turm erstaunlich jener Stadt ähnelt, in der Luca Kieser selbst aufgewachsen ist, nämlich Tübingen.

Stehlen, Prügeln, Döner-Bonuskartenbetrug

Statt Tatort-Abende mit seinen Eltern führen ihn Ali und Tarek in das Rauchen ein, lernt er die Probleme von Ali kennen, der von einem anderen Jungen namens O erpresst und erniedrigt wird. Stehlen, Döner-Bonuskartenbetrug, Prügeleien in Unterführungen und erwachende Gefühle für Tareks Schwester Tahira sind nun neue Elemente in Vincents Leben.

Dann trat Ali neben mich und sagte: „Wir regeln das unten in der Unterführung“

Und während sie dann, wieder ein paar Meter von uns, den Weg nach links hintergingen, leerten wir unsere Taschen: Handy, MP3-Player, Zigaretten, Geldbeutel, Schlüssel, alles in meinen Rucksack.

An der Ecke der Unterführung legte ich ihn ab und blieb stehen. Tarek baute sich in der Mitte der Unterführung auf, streckte den Rücken durch und verschränkte seine Hände vor dem Schritt. Und Ali hockte sich neben meinen Rucksack, zog dabei seine Trainingsjacke aus und murmelte: „Wenn sie mich ficken, Vince-„

„Gehen wir mit drauf“, ergänzte ich und zwinkerte: „Bruder, wir sind Arab Power“.

Luca Kieser – Pink Elephant

Dass es mit der Arab Power im Falle von Vince und auch möglicherweise bei Ali im Gegensatz zum aus Syrien stammenden Tarek gar nicht so weit her ist, das ist nur eine Pointe dieses Romans, der seine Männlichkeitsbilder und die Sprache aus dem Vorbild der im Roman zitierten Deutschrapper Bushido, Massiv oder Eko Fresh zieht.

Der Duft von Axe Deodorant

Könnte dieser Roman duften, er würde stark nach Axe Deodorant riechen, so bin ich mir sicher. Die Pubertät mitsamt dem männlichen Kraftüberschuss, der sich hier im einem latenten Hang zur Illegalität äußert, das Aufsprechen und die Rebellion gegen gesellschaftliche Ordnungen, sie sind Themen, die Luca Kieser umkreist.

Auch wenn alles, was seither passiert war, richtig scheiße war, hatte es doch irgendwie auch sein Gutes. Hier im Viertel hatte alle andauernd Stress, Stress untereinander, Stress mit irgendwelchen Jungs aus anderen Vierteln, Stress mit der nächsten Stadt, mit irgendwelchen Leuten aus Stuttgart. Jetzt endlich hatte auch ich Stress.

Luca Kieser – Pink Elephant

Pink Elephant nimmt die Orientierungslosigkeit der Jugendjahre in den Blick. Wo finde ich Anschluss, wo gehöre ich hin, mit welchen Menschen umgebe ich mich – und welchen Einfluss haben diese auf mich? Diese zentralen Fragen treiben auch Vincent ein, der sich im Spannungsfeld zwischen Arzthaushalt und Modellbahneisenbahn im Keller auf der einen Seite und der Talahon-Welt von Ali und Tarek auf der anderen Seite wiederfindet.

Ein Roman mit langer Reifezeit

Luca Kieser schildert die Konflikte und die jugendlichen Lebenswelten in einem tragfähigen und glaubhaften Ton, der von arabischen Slangwörtern durchsetzt ist und der Vincents Zerrissenheit gut auf den Punkt bringt. Nach dem vielstimmigen und für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman Weil da war etwas im Wasser schlägt Pink Elephant nun andere Töne an, die zeigen, was für unterschiedliche Tonalitäten der 1992 geborene Autor bedienen kann und wie dicht ein Gefüge aus Zeitgeschichte und psychologischer Einfühlung in Figuren aussehen kann, wenn man jahrelang daran arbeitet.

Denn Pink Elephant, so verrät es das Nachwort, hat eine lange Geschichte. Eine Reifezeit von zehn Jahren mitsamt diverser Versionen und Überarbeitungen liegt hinter dem Buch, ehe es nun im Blessing-Verlag erschienen ist. Es ist eine Reifezeit, die sich gelohnt hat, wie die Lektüre von Pink Elephant nun zeigt.


  • Luca Kieser – Pink Elephant
  • ISBN 978-3-89667-760-0 (Blessing)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Sven Recker – Der Afrik

Afrika liegt in Baden. Zumindest ein kleiner Teil. Diese geografisch neue Erkenntnis verdankt sich dem dritten Roman von Sven Recker. Dieser zeichnet in Der Afrik das Schicksal deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert nach und lässt einen Außenseiter im Badischen einen verhängnisvollen Plan vorantreiben.


Pfaffenweiler ist ein kleines Dorf, das südlich von Freiburg im Breisgau gelegen ist. Weinhänge prägen die Umgebung des Städtchens, das etwa 2500 Einwohner*innen zählt. Einer dieser Weinhänge hat eine ganz besondere Geschichte, die auch den erzählerischen Rahmen von Seven Reckers Roman Der Afrik bildet.

Denn dieser trägt den Namen Afrika. Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Namensgebung, die in Zusammenhang mit dem Denkmal steht, das sich im Wald oberhalb der Gemeinde verbirgt. Denn dieses setzt den Auswanderern ein Denkmal, die sich im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Afrika machten.

Hunger, Armut und fehlende Perspektiven verbunden mit einer großen Werbeoffensive des Bürgermeisters und der Politiker aus dem nahegelegenen elsässischen Colmar hatten für einen großen Aufbruch des armen Bevölkerungsteils von Pfaffenweiler gesorgt. 23 Familien mit insgesamt 132 Menschen sollten nach Afrika geschickt werden. Dort in Algerien würden die Auswanderwilligen nahezu paradiesische Zustände erwarten. Genug zu essen, Felder, die zu bestellen wären, wirtschaftlicher Aufstieg und Sorgenlosigkeit. So suggerierte es zumindest die Werbekampagne der Verantwortlichen.

Um die Reise der Menschen zu finanzieren, verfiel die Stadt unter Leitung des Bürgermeisters auf eine besondere Idee: so sollte ein naher Wald abgeholzt werden, um aus dem Erlös dieser Aktion die Reisekosten für die Ausreise zu bestreiten. Der Auswanderern zu Ehren taufte man den Weinhang auf den Namen Afrika.

Alles andere als paradiesische Zustände

Doch dieses Afrika, es war alles andere als paradiesisch, wie Sven Recker in seinem Roman zeigt. Entbehrung, krasser Mangel an allem, Hunger und Tod waren es, die die Auswanderer in Nordafrika erwarteten, wenn sie nicht schon auf der Reise dorthin gestorben waren.

Sven Recker - Der Afrik (Cover)

Niemand sollte diese Auswanderung überleben – bis auf einen Mann. Franz Xaver Luhr, genannt der Afrik, war es, der es aus Paffenweiler nach Afrika und wieder zurück geschafft hatte. Dieser historischen Figur setzt Sven Recker nun ein Denkmal, das von der Auswandererbewegung und den fatalen Folgen des Erlebten auf Körper und Geist erzählt. Ebenso bietet Der Afrik Parallelen zur heutigen Zeit an, in der wieder Schleuser mit Lügen und Propaganda über das bessere Leben auf anderen Kontinenten Menschen ins Verderben locken.

Um seine Geschichte zu erzählen, wählt Sven Recker ein außergewöhnliches literarisches Gestaltungsmittel. So greift er auf die unmittelbare Du-Anrede zurück, mithilfe derer er ganz tief in die Gedankenwelt des Afrik eindringen kann. Denn dieser hat nicht nur an seinem Körper schwere Schäden erlitten – auch sein Geist ist vom Erlebten zerrüttet. Überall sieht er einen Nachtkrapp, imaginiert sich wieder zurück zu seinem Freund Djiali, den er in der Wüste kennengelernt haben will und spricht mit sich selbst.

Seelische und körperliche Zerrüttungen

Du!

Depp!

Du!

Du weißt, was die Leute sagen. Sie glauben, die Sonne Afrikas hätte dein Hirn vollkommen verbrannt. Wenn du ins Dorf gehst, kommen die Kinder und rufen dir nach:

Du!

Du!

Depp!

Du!

Wenn sie sie dich verhöhnen, beißt du dir in die Hand, aber der Drang, das zu antworten, was du auf keinen Fall sagen willst, geht nicht weg und du brüllst:

Depp!

Du!

Depp!

Die Kinder lachen, dann rennen sie weg. Du würdest gerne eines von ihnen schnappen und am Ohrläppchen ziehen. Du traust dich nicht, stattdessen denkst du an deinen Stollen und den Sprengstoff, den du ihren Vätern seit Jahren schon bei deiner Lohnarbeit in ihren Steinbrüchen stiehlst. Bei dem Gedanken lachst du laut auf. Es klingt, als würdest du bellen und sie denken erst recht, du wärst verrückt.

Sven Recker – Der Afrik, S. 12

Eindringlich schildert Recker die Traumata des Erlebten, den heuchlerischen Umgang der Stadtspitze mit den Ausgewanderten und erzählt vom Wunsch nach Rache, der den Afrik umtreibt. Denn seit seiner Rückkehr arbeitet er an einem großen Plan, den er mit Beharrlichkeit vorantreibt: Afrika soll verschwinden. Mithilfe eines über die Jahre in den Berg gegrabenen Stollen und Dynamit soll es schon bald soweit sein. Der ganze Hang soll in die Luft gesprengt werden.

Der Plan des Afrik

Doch so einfach ist das mit dem Plan nicht. Denn schon auf den ersten Seiten des Romans findet der Afrik in seiner ärmlichen Kate einen Jungen, der eine Botschaft bei sich trägt. Dieser verkündet den Namen des Jungen, nämlich Jacob. Zudem heißt es da, dass er zur Familie des Afrik gehört.

Dies sorgt für eine Unterbrechung des Plans, auf den der Afrik so lange hingearbeitet hat. Denn plötzlich gilt es, für diesen Jungen zu sorgen, der so unverhofft in sein Leben getreten ist. Dabei rührt das Auftauchen auch wieder an alten Traumata…

Es stecken viele Themen in Reckers Buch. Eindringlich erzählt er vom Schicksal des Afrik, das durch die Du-Perspektive eine ganz eigene Intensität bekommt. Dessen Selbstgespräche, Flashbacks und Psychosen zeigen das Bild eines Mannes, dem alles genommen wurde. Aber auch darüber hinaus ist die Geschichte der Auswanderer und deren erschütterndes Schicksal gut eingebunden in den Roman bis hin zur Aktualität, die diesem historischen Roman innewohnt. Der Afrik erzählt von staatlich organisiertem Aufbruch, von Schleusern und der universellen Hoffnung auf ein besseres Leben.

Fazit

Recker gelingt ein beeindruckendes Werk, das der baden-württembergischen Auswandererbewegung und deren Schicksal ebenso ein Denkmal setzt wie dem historisch verbürgten Franz Xaver Luhr. Historisch und aktuell zugleich, literarisch und spannungstechnisch wohldurchdacht – und das alles auf gerade einmal gut 150 Seiten. Ich bin beeindruckt!

Mehr Informationen zu Sven Reckers Roman gibt es unter anderem auch beim SWR, bei Birgit Böllinger und bei Hauke Harders Blog Leseschatz.


Diesen Beitrag teilen

Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt

Wenn Fluten steigen, dann stellt das nicht nur die Kraft der Natur eindrücklich unter Beweis. Oftmals bringt ein Hochwasser auch zahlreiche Dinge ans Tageslicht, und es seien es auch nur Versäumnisse, die beim Hochwasserschutz gemacht wurden. Im Falle von Thomas Knüwers Debüt Das Haus in dem Gudelia stirbt ist es sogar ein Geheimnis der Vergangenheit, das nun im Zuge einer Überschwemmung ans Tageslicht kommt.


Drei Zeitebenen hat sich Thomas Knüwer für seinen Roman als erzählerisches Grundfundament genommen. So schichtet er Schilderungen aus den Jahren 1984, 1998 und 2024 zu einem Roman zusammen, die über die 40 Jahre hinweg das Bild von Vertuschungen und Lügen zementieren.

Alles beginnt in Knüwers Roman mit Ereignissen im Jahr 2024, die auf fatale Weise an jene Ereignisses erinnern, die hier im Augsburger Umland Anfang Juni für bundesweite Schlagzeilen sorgten. Überraschend waren hier in einem Extremwetterereignisse binnen weniger Stunden Flüsse über die Ufer getreten und sorgten für überschwemmte Städte und Dörfer, unpassierbare Straßen und Brücken. Die Donau wurde zu einem reißenden Fluss, die Städte wie Günzburg oder Offingen in Teilen verwüstete. Auch bei Thomas Knüwer ist es dieser Fluss, der dem kleinen Städtchen Unterlingen Verwüstung und Chaos bringt.

Gudelia bleibt

Thomas Knüwer - Das Haus in dem Gudelia stirbt (Cover)

Während die Polizei die Bewohner*innen der Häuser evakuiert, versteckt sich die 81-jährige Gudelia in ihrem Haus. Die Mieter der unteren Wohnung haben sich längst in Sicherheit gebracht, Gudelia allerdings bleibt. Warum die Seniorin ihr Zuhause nicht aufgeben will, das klärt sich im Laufe des Romans genauso wie eine Beobachtung, die sie während ihrer Wache im Haus macht. Denn als sie nachts mit der Taschenlampe die steigenden Fluten kontrolliert, wird sie Zeugin, als zwei Leichen an ihrem Haus vorbeigeschwemmt werden. Deren Hände sind mit Kabelbinder auf die Rücken gefesselt. Als die Flut dann wieder verschwunden ist, will die Polizei Gudelia diese Beobachtung aber nicht glauben.

Was hier passiert ist, enthüllt Thomas Knüwer im Lauf seines Buchs ebenso wie die Gründe für die enge Bindung Gudelias an ihr eigenes Zuhause. Denn diese übertrieben, scheinbar schon fast manische Verhaltensweise hat eine Vorgeschichte, die nun durch das Hochwasser zum Vorschein kommen. Durch die zeitlich früher gelagerten Erzählschichten wird allmähliche die Motivation klar – und enthüllt ein Bild Gudelias, das trotz aller Zitate von Gebeten und Kirchenliedern nicht unbedingt fromm ist, geschweige denn so hilflos, wie es zunächst den Anschein hat.

Stabilität und Solidität – und ihr Ende

Alkoholismus, ein Mord und verzweifelte Mutterschaft spielen in Das Haus in dem Gudelia stirbt eine große Rolle. Souverän trägt Thomas Knüwer seine Schichten ab, wenngleich die größte Pointe dieses Buchs vielleicht schon etwas früh preisgegeben wird, wenn Knüwer in der Mitte des Buchs zeigt, warum Gudelia so sehr um die Stabilität und Solidität ihres Hauses bemüht ist.

„In dem Haus ist mein ganzes Leben.“

Er schnaubt. „In dem Haus ist dein ganzes Leid.“

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht. Ich bleibe zurück, sehe ihm hinterher. Der Himmel zieht zu.

Wir haben beide recht.

Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt, S. 214

Sein Roman ist voller starker Bilder. Das Haus mit seinen Rissen als Zeichen des Kontrollverlust Gudelias ist dabei vielleicht schon etwas arg überdeutlich, dafür aber sind die Schilderungen aus dem verdreckten Haus nach dem Rückgang der Flut oder Bilder des Friedhofs, der von Schweinekadavern übersät ist, umso gelungener. Alles hier löst sich langsam auf. Die Struktur des Ortes, die Grundfesten ihres Hauses und die von Gudelias Leben.

Fazit

Wird der eingestreute Kriminalfall der mit Kabelbinder gefesselten Leichen vielleicht auch etwas schnell abgehandelt (wenn er denn überhaupt notwendig ist), und auch das schlussendliche Schicksal von Gudelias Mann ist in der Gesamtanlage des Romans vielleicht etwas überhastet. Dennoch aber ist Thomas Knüwers Das Haus in dem Gudelia stirbt in Sachen Konzeption und origineller Idee wirklich gelungen. Sein Roman ist ebenso das Bild einer Seniorin mit Geschichte, eines großen Verlustes und einer zerrütteten Ehe, wie das Buch auch mit seiner nachvollziehbar komponierten Geschichte als Grenzgänger zwischen Krimi und Roman überzeugen kann.

Einzig und allein ein Komma für den Relativsatz im Titel hätte das Lektorat diesem Buch noch spendieren dürfen. Ansonsten gibt es bei diesem Debüt wenig zu meckern und umso mehr zu entdecken in diesem von der Flut gekennzeichneten Unterlingen. Hier wird so einiges wieder ans Tageslicht gespült!


  • Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt
  • ISBN 978-3-86532-882-3 (Pendragon)
  • 280 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam

Ein Jurist legt eine Beichte ab. Im Todestrakt, wartend auf seine Hinrichtung erzählt er uns sein Leben. Er schildert dabei Wie alles begann und wer dabei umkam. Und zeigt sich als ambitionierter Jurist, dem das Recht schon früh nicht mehr ausgereicht hat. Simon Urban hat einen Roman geschrieben, der Entwicklungsroman, juristische Einführung, psychologische Feldstudie und Schelmenroman miteinander kombiniert. Ein Roman, der unterhaltsam, aber nicht ganz rund und schlüssig ist.


Schon früh zeigt sich im Leben des Justus Hartmann: dieses Kind ist nicht wie andere. Zusammen mit den Eltern wohnt er in der Einliegerwohnung des Hauses der eigenen Großmutter. Diese tyrannisiert die ganze Familie, die Schwiegertochter muss zum Hungerlohn bei ihr putzen. Aber immerhin: den Lohn zieht sie der eigenen Familie dann vom Mietpreis der Wohnung ab. Mit ihren Tiraden und wohlgesetzten Spitzen knechtet sie die ganze Familie, sodass Justus schon im Kinderzimmer einen Prozess gegen die eigene Großmutter anstrengt. Als Beisitzer fungieren Kuscheltiere, das Ergebnis seines kindlichen Richterspruchs ist eindeutig: die Todesstrafe.

Ab nach Freiburg

Simon Urban - Wie alles begann und wer dabei umkam (Cover)

Doch bis dieses Todesurteil bei der eigenen Großmutter rechtsgültig in Kraft tritt, werden noch viele Jahre vergehen. Einstweilen absolviert er erst einmal die allgemeine Hochschulreife und tritt nach der Schulzeit den Weg aus Stuttgart nach Freiburg an. Er will der Enge der Wohnung und der großmütterlichen Tyrannei entfliehen und erwählt das heruntergekommene Freiburger Studentenwohnheim als sein neues Domizil. Immer noch mit den Auswüchsen der Pubertät geschlagen beschließt er, sich dem Studium des Rechts zu widmen.

Schnell wird er zu einem Überflieger, der Tutorien leitet, allerdings wenig soziale Kompetenz an den Tag liegt. Seine größte Erfüllung findet er in schonungslosen Gesprächen mit Kommilitoninnen oder jüngeren Studenten, in denen man gnadenlos Geheimnisse oder wahre Ansichten über das Gegenüber teilt. An diesen Gesprächen berauscht sich Justus und schreckt dabei auch vor Manipulation nicht zurück.

Alles ändert sich, als man der etwas biederen Strafrechtslehre in Freiburg mehr Glamour verleihen will. So erhält eine Berliner Starprofessorin einen Lehrauftrag an der Freiburger Uni. Sie krempelt gleich mit ihrer Antrittsrede den Laden auf links und verstört mit ihren Ansichten zur Rechtsprechung Justus nachhaltig. Er beginnt, sich als Gegenspieler der Professorin zu sehen und treibt in seiner Freizeit den Versuch der globalen Renovierung des Strafrechts voran. Doch seine Überlegungen haben für ihn und seine Mitmenschen Konsequenzen. Konsequenzen, die Justus um den halben Erdball führen werden.

Zwei unterschiedlich überzeugende Teile

Wie alles begann und wer dabei umkam teilt sich in zwei Hälften. Endet der erste Teil mit einem wahren Paukenschlag, setzt Urban die Geschichte seines Juristen mit psychopathischen Zügen dann auf der anderen Seite der Erdkugel fort.

Dabei fällt ein qualitativer Unterschied der beiden Hälften ins Auge. Während der erste Teil des Romans recht stringent und vorwärtstreibend erzählt ist, verliert sich diese Dynamik in der zweiten Hälfte fast gänzlich. Hier lässt Urban den Erzählungsfluss deutlich stärker mäandern und unterbricht die Handlung immer wieder durch kurze Erzählepisoden, die sich nicht wirklich homogen einfügen. Zwar sind Teile der Miniaturen großartig (ein humoristischer Höhepunkt sicherlich die Schilderung des Heino-Konzerts, das Justus zusammen mit der tyrannischen Großmutter besuchen muss), andere Geschichten bringen eher erzählerische Längen in den Roman ein (der mit über 500 Seiten eh recht umfänglich geraten ist).

Fehlender Drive im zweiten Teil

Auch schafft es Simon Urban nicht so recht, aus den beiden Hälften mitsamt der ganzen Erzählminiaturen ein literarisches Ganzes zu formen. Der Paukenschlag, der den ersten Teil beendet, läuft im zweiten Teil ins völlige Nichts, ehe der dann am Ende des Romans mithilfe einer Mail halbgar zu Ende gebracht wird. Auch weckt der Auftakt mit der Beichte aus dem Todestrakt heraus Erwartungen, die das Buch nicht erfüllen kann.

Statt einem skrupellosen Mr Ripley, dessen Taten nach und nach eine Lawine auslösen oder zu einem kriminellen Crescendo anschwellen, dümpelt die Handlung oft einfach vor sich hin. Justus scheint in seinen Schilderungen eher an sexuellen Erlebnissen, entblößenden Gesprächen und juristischen Fragestellungen oder Paradoxa Interesse zu haben, als sich als das zu präsentieren, was Klappentext und Geständnis am Anfang des Buchs insinuieren. So bleibt ein etwas unrunder Leseeindruck zurück.

Etwas nervig auch die Angewohnheit, sämtliche besonderen oder hervorgehobenen Wörter ständig kursiv zu setzen. Mit fortschreitender Dauer erweist sich diese Marotte als manieriert und erzählerisch nicht zweckdienlich. Ohne diese Kursivsetzung hätte das Buch kein Gran an Literarizität verloren. So zumindest mein Eindruck

Fazit

Wie alles begann und wer dabei umkam ist ein unterhaltsamer Roman, der besonders im ersten Teil vorandrängt und einen skrupellosen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt rückt. Wer viele juristische Fallbeispiele und Betrachtungen über Recht und Unrecht abkann, den dürfte das Buch gut unterhalten. Einige Straffungen und Überarbeitung hin zu einem homogenen erzählerischen Ganzen hätten dem Buch gutgetan. So bleibt für mich der Eindruck, dass hier etwas mehr drin gewesen wäre. Ich empfehle vorrangig Simon Urbans Debüt Plan D, in dem er ein alternatives Deutschland entwirft, in dem die DDR noch fortbesteht. Diesen Thriller würde ich persönlich nach wie vor Wie alles begann und wer dabei umkam vorziehen.

Ein gesonderter Hinweis sei an dieser Stelle noch auf den originellen Trailer des Verlags zum Buch:


  • Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam
  • ISBN 978-3-462-05500-9 (Kiepenheuer Witsch)
  • 544 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen