Mariette Navarro – Am Grund des Himmels

Endstation Dach. In Mariette Navarros Roman Am Grund des Himmels strandet eine Arbeiterin auf dem Dach ihres Bürogebäudes. Drinnen vermisst sie niemand – aber vermisst sie überhaupt etwas? Einmal mehr schreibt die Französin einen surrealen Roman, der die Arbeitswelt und unser Miteinander in den Blick nimmt – und der doch recht deutlich an den großen Klassiker einer Österreicherin erinnert….


Aus dem Nichts gelang Mariette Navarro und dem herausgebenden Münchner Kunstmann-Verlag im letzten Jahr ein großer Überraschungserfolg mit ihrem Roman Über die See, der von einer ganz besonderen Überfahrt eines Schiffs erzählte. Denn nachdem die Schiffscrew die Kapitänin auf deren Schiff zurückgelassen hat, um eine Schwimmrunde im Ozean einzulegen, kehrt die Besatzung zurück an Bord – hat aber plötzlich ein Mitglied mehr in ihren Reihen. Nicht der einzige surreale Moment der Erzählung, die durch ihre Rätselhaftigkeit viele Leser*innen für sich einnehmen konnte und auch in den sozialen Medien vielfach besprochen wurde.

Mit Am Grund des Himmels liegt nun der zweite Roman der 1980 geborenen Autorin vor, der abermals von Sophie Beese aus dem Französischen übersetzt wurde. Diesmal wendet sich Mariette Navarro der Lebenswelt Büro zu und erzählt schwebend von modernen Arbeitsbedingung und der Vereinzelung am Arbeitsplatz, in der das Individuum trotz seiner Einbindung in komplexe Jobhierarchien und Teamstrukturen so alleine ist wie wohl noch nie zuvor.

Eine Frau auf dem Bürodach

Mariette Navarro - Am Grund des Himmels (Cover)

Ausgangspunkt ist wieder eine dieser ungewöhnlichen Navarro-Ideen. Nach dem Schiff mit seinen ganz eigenen Regeln ist es nun eine Büroangestellte, die der Versuchung einer offenen Dachklappe im Bürogebäude nicht widerstehen konnte. Sie hat sich auf das Dach begeben, doch nun lässt sich die vormals offene Klappe nicht mehr schließen. Und so betrachtet Navarros Heldin Claire das Leben von ganz oben, blickt auf die über sie hinwegziehenden Wolken und Vogelschwärme und bastelt sich aus den übriggebliebenen Folien auf dem Dach eine schützende Hülle, um die Nacht dort oben auf dem Dach zu verbringen, da sie im Gebäude selbst niemand vermisst.

Sie wird sich ihrer eigenen Absonderung und Vereinzelung bewusst, während die Gedanken um sie kreisen wie die Vögel, die den Himmel über ihr Durchpflügen. Der Alltag im Büro, ihre schrittweise Entkapselung von ihrem Tun dort und die unsichtbaren Barrieren sind Thema in ihren Gedanken, die Mariette Navarro auf uns einprasseln lässt.

Eine Frau in Isolation

Dabei weckt die Erzählung über die von allen geschiedene Frau durchaus Erinnerungen an Marlene Haushofers großen Klassiker Die Wand, bei der sich eine Frau ähnlich abgekoppelt von der übrigen Welt wiederfindet. Und auch in Navarros Text ist die unsichtbare Wand ein Thema.

Es stimmt nicht ganz, dass die Mauern, gegen die ich stieß, unsichtbar waren. Manchmal konnte ich sehen, wie sich eine Glasscheibe bildete: Trüb wie eine dünne Eisschicht, kroch sie in mein Sichtfeld und breitete sich dann als einfarbige Fläche vor meinem Gesicht aus. Ich dachte in dem Moment nur, meine Augen wären müde. Oft holte ich dann meine Brille aus der Tasche und putzte sie schnell, aber das änderte nichts. Irgendetwas stimmte nicht. Dann erst wurde mir klar, dass da eine Glasscheibe war, ich prüfte ihre Dicke – ungefähr ein Zentimeter –, ein Rechteck auf Augenhöhe, in dem ich mein Spiegelbild sah, offener Mund, konzentrierter Blick. Ich versuchte mit aller Kraft diese halb transparente Schicht zu durchblicken. Durch das Glas hindurch starrte ich auf den, der weiterredete, lachte und so tat, als hätte er diesen verletzenden Satz gerade eben nicht gesagt, diese noch nicht einmal bewusst geäußerte verächtliche Bemerkung, und ich ließ ihn mir von oben herab Dinge erklären, die ich schon wusste.

Mariette Navarro – Am Grund des Himmels, S. 44

Diese Gedanken und Bewusstseinsströme kontrastiert Mariette Navarro mit einer zweiten Erzählinstanz, einem chorischen Wir bei dem es sich um ein Kollektiv von Claires Kolleg*innen handelt, das im Gegensatz zu Claire in der Büroarbeit seine Sinnerfüllung findet und das damit die Dichotomie von Claire als isolierte Einzelkämpferin und dem arbeitsamen Wir bildet. Immer wieder wechselt Navarro im Lauf des Texts zwischen diesen beiden Instanzen hin und her und verstärkt so den Eindruck des unverstandenen Gegeneinanders.

Viele mögliche Lesarten

Am Grund des Himmels ist trotz dieser nun konkret nacherzählten Motive und Spurenlagen sehr deutungsoffen. Worum geht es in Mariette Navarros Roman?

Reflexion über die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt? Betrachtungen der sozialen Dynamiken und Ausgrenzungen in Bürogemeinschaften? Hinterfragung der Sinnhaftigkeit moderner Erwerbsarbeit oder eine Bebilderung der These des Soziologen Andreas Reckwitz‘ von der Gesellschaft der Singularitäten? Am Grunde des Himmels ist sehr offen, was eine eigene Deutung und Einordnung des Gelesenen anbelangt.

Und auch ich schwanke in der Bewertung des Gelesenen. Kennt man das Ganze nicht schon von Marlene Haushofer und sie die Erkenntnisse in Sachen Sinnlosigkeit modern Bullshitjobs in Büros nicht etwas auserzählt, ohne an dieser Stelle auch noch auf Melvilles Bartleby den Schreiber als Kronzeugen zitieren zu wollen?

Auf der anderen Seite steht natürlich auch die Surrealität des Ganzen, die Mariette Navarro gelungen einfängt und mithilfe des Bewusstseinsstroms und ihrem chorischen Wir ein schon fast universales Bild der Vereinzelung im immer vernetzter werdenden (Arbeits)Alltag zeichnet.

So oder so: Am Grund des Himmels lädt auf alle Fälle dazu ein, sich selbst Gedanken über das Gelesene zu machen und sich von Mariette Navarro zu Assoziationen und Gedanken über das Arbeiten und die eigene Rolle in der Gemeinschaft hinreißen zu lassen.


  • Mariette Navarro – Am Grund des Himmels
  • Aus dem Französischen von Sophie Beese
  • ISBN 978-3-95614-649-7 (Kunstmann)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €
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