Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit

Um die Wahrheit ist es nicht bestellt in diesen Tagen. Fake News, alternative Fakten und eine Flut von KI generiertem Müll bedrohen die Wahrheit und machen die Verständigung auf eine gemeinsame Realität immer schwerer. In Raphaela Edelbauers Roman Die echtere Wirklichkeit probt eine Gruppe namens Aletheia den Widerstand dagegen. Wie dieser Kampf aussieht, davon erzählt die österreichische Autorin in ihrem Buch und zielt dabei mitten hinein in unsere Gegenwart.


Wir wollen keine konkreten Reformen vorschlagen, wofür wir andere, mit uns kooperierende Gruppen als zuständig erachten. Wir sind philosophische Revolutionäre, deren sogenannter Terror gewissen Denkbewegungen die Waffe an die Schläfe drückt

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 376

So formuliert es die Vereinigung namens Aletheia in ihrem thesenstarken Manifest, das die in Wien beheimatete Gruppe gemeinsam erarbeitet hat. Mit einer gehörigen Portion Revoluzzer-Nostalgie angefertigt in einer besetzten Wohnung per Matrizendruck sind es 71 Thesen, die für die Gruppe entscheidende Bedeutung besitzen.
Man liest Heidegger, nur ist es diesmal die Musik von Depeche Mode anstelle von Ton, Steine, Scherben, die aus den Lautsprechern dröhnt, während man diskutiert und streitet. Aber nur bei Diskursgewittern soll es nicht bleiben – denn Aletheia ist mehr als ein philosophischer Lesekreis und steht damit in der Tradition des Terrors einer RAF: mithilfe eines Anschlags will mit einem sprichwörtlichen Knall auf die eigenen Thesen hinweisen und die eigene Mission zum Erfolg zu führen.

Terror und Philosophie

Raphaela Edelbauer - Die echtere Wirklichkeit (Cover)

Doch wie kam es so weit, das inmitten Wiens der bewaffnete Aufstand und Terror geprobt wird? Und was will die Gruppe eigentlich? Das erzählt nicht nur das immer wieder aufgegriffene thesenreiche Manifest, das den Leser*innen von Raphaela Edelbauers neuem Roman gleich als Einstieg um die Ohren gehauen wird. Auch die im Rollstuhl sitzende Romy alias Byproxy nimmt uns zurück an die Anfänge, als das mit Aletheia begann – beziehungsweise, als sie zur Gruppe stieß. Denn Byproxy ist der jüngste Neuzugang der Gruppe, die sich aus Paul, Bernward, Brigitte und der Chirurgin konstituiert.

Nachdem sie aus ihrer Wohngruppe hinausgeflogen ist, stößt Romy in den kalten Straßen Wiens auf die Spur der Revolutionäre – und findet Anschluss bei denen in einer besetzten Wohnung beheimateten Gruppe. Als Einstieg in die Welt der Wahrheitsverfechter muss sie durch die ganz große Denkschule durchfräsen und die Lektüre von Parmenides, Husserl oder Hegel nebst Hausarbeit erledigen, um bei Aletheia Aufnahme und Anerkennung zu finden.

Mithilfe des philosophischen Rüstzeugs soll die gehbehinderte Byproxy die Gruppe in ihrem großen Kampf unterstützen. Diesen führt die nach der griechischen Göttin für die Wahrheit benannte Gruppe für die Wahrheit. Denn die Wahrheit, sie gerät seit dem Erfolg des Poststrukturalismus zunehmend in Gefahr – und das von höchster Stelle.

Längst schon arbeiten Kräfte auf dem ganzen Kontinent gegen die Wahrheit an. Man erfindet Begriffe wie alternative Fakten und hat gar kein Interesse mehr, sich zu verständigen und eine gemeinsame Verständnisbasis auszumitteln. Die Verbindlichkeit dieser gemeinsamen, verbindenden Wahrheit ist in Gefahr – doch Aletheia will sie verteidigen.

Der Kampf für die Wahrheit

Es ist ein Kampf, der mehr mit Worten und Gedanken als mit echten Taten geführt wird. Zwar besuchen Paul und Byproxy eine Wahlveranstaltung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs oder planen einen Anschlag auf die Kronenzeitung, die in den Augen der Gruppe eine Schleuder für Fake News darstellt (und die in der Alpenrepublik trotz ihres boulevardesken und unterkomplexen bis rassistischen Charakters eine Zielgruppe von über drei Millionen Menschen erreicht) – das Ergebnis dieser Anstrengungen bleibt aber kärglich. Eine schlampig gemauerten Mauer vor dem Universitätsbüro von Wahrheitsfeinden, sie ist alles, was bleibt. Dass dieses Bauwerk dann fast von alleine kollabiert ist sinnbildlich zu sehen.

Vieles bei Aletheia bleibt allein beim Wollen, ehe der Roman auf den letzten Seiten doch noch seinen explosiven Charakter entfaltet.

Und dann erlöste Brigitte uns aus dieser Totenstille: „Ich glaube, Byproxy hat recht. Moment mal, lasst uns nachdenken, vielleicht hat sie wirklich recht.“
„Seid ihr beide wahnsinnig geworden?“, fragte Bernward.
„Eine Geiselnahme? Glaubt ihr, wir wollen RAF spielen? Wir sind eine philosophische Gruppe.“
„Eine philosophische Terrorgruppe.“
„Eine philosophisch-aktionistische Gruppe!“, schrie Bernward.

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 213

Theorie und Diskussion

Über weite Strecken erschöpft sich die Gruppe in der Planung und Diskussion ihrer Aktionen – und steht damit stellvertretend für die Leistungsschwäche der Linken angesichts eines globalen Rechtsrucks und der Tendenz hin zu Autoritärem. Die Protagonisten dieses Rechtsrucks von der medialen Öffentlichkeit (Kronenzeitung) über akademischen Betrieb bis hin zu den politischen Mitspielern (FPÖ) beleuchtet Edelbauer immer wieder als einen großen Komplex, gegen den Aletheia gar nicht ankommen will und kann.

Verlockender scheinen die Dialoge über Wahrheit und der Blick der Philosophen auf den kaum zu greifenden Komplex. Was ist Wahrheit, auf welche Wahrnehmung der Wahrheit kann man sich verständigen? Die echtere Wirklichkeit geizt dabei nicht mit Thesen und Denkern. Immer wieder verliert sich die Gruppe in Diskussionen zwischen Poststrukturalismus und Pläneschmieden und strapaziert damit auch die Geduld der Leser*innen. Edelbauers Faible für Philosophie und die Widersprüche des Denkens scheinen in diesem Roman wohl so deutlich auf wie nie.

Das macht ihren Roman bisweilen zu einer zähen Lektüre, die mit den 71 Thesen, Theorietexten und Dauerstreitereien Hingabe der Konsument*innen erfordert. Dafür belohnt der Roman auch etwa mit der großartigen Bierzelt-Szene, die die Agitation rechter Kräfte ohne Fakten aber mit ganz viel Gefühl dokumentiert. Auch ist ihr Roman wieder ein großes Sprachfest, da Byproxy eine sprachstarke Erzählerin mit gewähltem Vokabular ist. Man verabsentiert sich, ist spornstreichs unterwegs oder befleißigt sich verschiedenster Dinge. Auch geizt die Autorin nicht mit hinreißenden Austriazismen der Marke Spom­pa­na­deln oder Gleich spielt’s Granada.

Fazit

So ist Die echtere Wirklichkeit ein wilder philosophischer wie sprachliche Tanz, der sich auf dem schwindenden Grund einer gemeinsamen Realität unserer Gesellschaft vollzieht. Edelbauers Buch zielt mitten hinein in die Gegenwart und das brüchig gewordene Vertrauen in Staat – und die Erzählerin.
Trotz eines klaren Österreich-Fokus ist das Buch damit doch auch universell übertragbar. Wackere Leser*innen, die sich nicht von vielen Thesen und Denkgirlanden und Diskussionsdauerfeuern abschrecken lassen, die finden in Raphaela Edelbauers Buch höchst gegenwärtige Lektüre zwischen Philosophie und Bombenanschlag.


  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit
  • ISBN 978-3-608-96630-5 (Klett-Cotta)
  • 448 Seiten. Preis: 28,00 €
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