Unter großen Entbehrungen entstanden, lange Zeit vergriffen liegt Romain Garys Antikriegsroman Europäische Erziehung nun endlich in einer deutschen Neuübersetzung durch Birgit Kirberg vor und lässt sich wieder entdecken. Darin erzählt Gary vom Widerstand polnischer Partisanen während des Zweiten Weltkriegs, vom Überleben und der Kultur, die uns zu Menschen macht.
Waldler, so werden die Partisanen, die sich in den Wäldern Polens eingegraben haben, von den deutschen Besatzern genannt. Auch in den Wäldern rund um die polnische Stadt Sucharki haben sich Waldler verschanzt, um Widerstand zu leisten. Juden, Ukrainer, Polen, sie alle eint der Kampf gegen die Besatzer, die in Form der SS-Division mit dem Namen „Das Reich“ über ihre Heimat gekommen ist.
Eigentlich für den Kampf um Stalingrad vorgesehen halten diese Soldaten nun die polnischen Dörfer besetzt und entführen und ermorden immer wieder Frauen, Alte und andere Dorfbewohner, um den Widerstand der Waldler endgültig zu brechen. Doch mit der Kraft der Verzweiflung harren diese so unterschiedlichen Männer gemeinsam weiterhin in den Wäldern aus und ertragen Kälte, Entbehrung und Einsamkeit, um ihr Ziel der Vertreibung des Feindes nicht aufgeben zu müssen.
Partisanen im Wald
Auch der junge Janek Twardowski kommt in Kontakt mit den Waldlern, als er von seinem Vater kurzerhand in einer Höhle dort in der Nähe der Partisanen versteckt wird. Nach einer ersten Kontaktaufnahme wird der Junge immer wichtiger für die Partisanen, da dieser als Bote zwischen dem besetzten Dorf und den Widerstandskämpfern agiert.
Und so lernt er die Bevölkerung des nahen Dorfes besser kennen, wo Väter und Mütter um ihre Kinder im Widerstand bangen und sich einheimische Kollaborateure ebenso wie Deutsche finden.
Auch werden die in den Wäldern hausenden Partisanen mit dem Voranschreiten der Zeit immer unterscheidbarer für ihn. Da ist der alte, aus der Ukraine stammende Krylenko, dessen Sohn es zum General bei der Roten Armee gebracht hat, was seinen Vater aber trotzdem nicht mit Stolz erfüllt. Er macht die Bekanntschaft mit Juden wie Yankel Cukier, der sich ins benachbarte Vilnius davonschleicht, um dort mit der Gemeinde anderer versteckter Juden Gottesdienst zu feiern oder lernt die Zborowski-Brüder, die in Sachen Widerstand wenig zimperlich vorgehen.
Sie alle lernt Janek kennen ebenso wie die junge Zosia, die sich im Auftrag der Waldler bei den Deutschen prostituiert, um so an wichtige Informationen zu gelangen. Mit ihr verbindet Janek schon bald eine Romanze, die der allgegenwärtigen Not, Gewalt und Kälte das Mittel der Liebe entgegensetzt. Doch Unschuld hat in Zeiten des Kriegs keinen allzu langen Bestand. Und so bleibt auf Janek vor der Brutalität des Krieges nicht verschont und muss erkennen, dass man im Krieg zugleich Opfer als auch Täter sein kann.
Widerstand, Leid und die Kraft von Kultur
Vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad erzählt Europäische Erziehung vom Widerstand der Partisanen und vom Leid, das die Deutschen über die polnische Zivilbevölkerung brachten. Romain Garys Buch erzählt aber auch vom Überleben und der Kultur, die Kraft und Zuversicht spendet.
Immer wieder flüchtet sich Janek in Winnetou-Lektüren und schöpft Kraft, wenn die Musik des polnischen Komponisten Chopins erklingt, mal auf einem Klavier im besetzten Dorf dargebracht, mal über einen Transistorradio in einem der Erdlöcher der Partisanen abgespielt.
Besonders der junge Partisan Dobranski und dessen Literaturbegeisterung wird zu einem Orientierungspunkt, und das nicht nur für Janek. So dichtet Dobranski und arbeitet an einem Werk, das den Titel Europäische Erziehung trägt. Denn obschon die aktuelle europäische Erziehung eine der Gewalt und Entmenschlichung ist, so ist es doch Dobranski, der dieser die Werte von Brüderlichkeit, Kultur, Zivilisation und Frieden entgegenhält.
Die Europäische Erziehung als Ziel
Mal surreal, mal tragisch sind die Episoden, die er bei den abendlichen Runden der Partisanen als Lesung zu Gehör bringt, wodurch Romain Garys Roman nicht nur eine zweite literarische Ebene erhält, sondern eben auch von Hoffnung, Aufklärung und Humanismus inmitten allen Leids kündet.
Er blieb stehen, mitten im Schnee, der ihnen bis zu den Knien reichte, hob er den Blick und fing an zu sprechen. Er sprach von Freiheit und Freundschaft, von Fortschritt und Frieden, von Brüderlichkeit und umfassender Liebe; er sprach von den Völkern, die vereint sind in ihrer einmütigen Mission, dem Versuch, dem Leben sein Geheimnis, seinen Sinn abzuringen; er sprach von Kultur und Kunst und von Musik, er sprach von Büchern, und er sprach von Schönheit… Es war, als spräche er nicht, nein, er sang, fuhr es Janek durch den Kopf; wie er da im Schnee stand, in seinem schwarzen offenen Ledermantel über der Militärjacke, mit seinem Koppel, den schmalen Schultern und den leuchtenden Augen, die eine solche Hoffnung, eine solche Freude auf sein schönes Gesicht zauberten, dass er strahlte; er gestikulierte mit hoch erhobenen Armen, mit einer solchen Begeisterung, dass Janek den Kontrast zu den in gefühlskalter Starre und Feindseligkeit verharrenden Bäumen beinahe lustig fand. Dobranski sprach nicht, er sang.
Romain Gary – Europäische Erziehung, S. 210 f.
Mit dem jungen Dichter Dobranski, der inmitten von Erschießungen, Überfällen und Mangel im bitterkalten Winter in den Wäldern Polens noch Zeit für Poesie und Prosa findet, verbindet den 1914 in Vilnius geborenen Romain Gary das fieberhafte Schreiben und das Festhalten an der Kraft des Wortes inmitten des Kriegs.
Denn Gary verfasste Europäische Erziehung während seiner Zeit im Zweiten Weltkrieg nachts, wo er bei der Luftwaffe diente. Der als Roman Kacew geborene Gary schrieb in der Nacht auf dem Schlachtfeld, während seine Kameraden schliefen und er in Handschuhen an seinem Text arbeitete, um ihn dann auf dem Stützpunkt seines Geschwaders auf der Schreibmaschine abzutippen, ehe es dann in den Morgenstunden per Fahrrad wieder zu seinen Kameraden zurückging, wo die Kampfhandlungen dann wieder fortgesetzt wurden, ehe er sich wieder an die Arbeit an seinem Text machen konnte, wie die Übersetzerin Birgit Kirberg in einem Interview zum Roman erläutert.
Fazit
Diese Mühe, unter der Romain Gary dem Krieg den Roman abrang, sein Blick auf den Schrecken vor Ort im Osten, der in den Literatur hierzulande sowieso zu wenig Platz einnimmt und dazu noch die entschiedene Hymne auf Kultur, die eine Besserung der Verhältnisse bewirken kann, all das macht Europäische Erziehung zu einem starken Stück Literatur, das auch achtzig Jahre nach seiner Veröffentlichung in Frankreich unbedingt lesens- und bedenkenswert ist, jetzt vielleicht sogar wieder mehr denn je.
Der Übersetzerin Birgit Kirberg und dem herausgebenden Wagenbach-Verlag ist damit ein echter Coup gelungen, der das Werk dem Vergessen entreißt und dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist, damit diese so wichtige Arbeit belohnt wird. Es würde sich lohnen!
- Romain Gary – Europäische Erziehung
- Aus dem Französischen von Birgit Kirberg
- ISBN 978-3-8031-3378-6 (Wagenbach)
- 224 Seiten. Preis: 24,00 €