Von der Suche nach den eigenen Wurzeln, dem Völkermord an den Armeniern und der hohen Kunst der Restauration erzählt Katerina Poladjan in ihrem Roman Hier sind Löwen. Ein widerspenstiges Buch mit einer ebenso widerspenstigen Protagonistin.
Triumphierend ließ sich Ano wieder auf die Matratze fallen. „Du widersprichst dir.“
„Ja.“
Ich widersprach mir. Auch Danil sagte oft zu mir, du widersprichst dir, du hast gleichzeitig mehrere Gedanken, die nicht zusammenpassen.
Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen, S. 218
Helen Mazavian ist in der Tat eine widersprüchliche Heldin. Ein Restaurationsauftrag bringt sie nach Jerewan, die Hauptstadt Armeniens. Dort will sie ein Heilevangeliar restaurarieren und die besondere Kunst der lokalen Buchmacherei erlernen.
Doch es ist nicht nur das Evangeliar, das sie reparieren will. Auch die eigenen Familiengeschichte will sie erforschen, Leerstellen auffüllen und die eigenen biographischen Bruchstellen kitten. Denn neben Russland und Deutschland hat ihre Familie auch in Armenien Wurzeln, über die Helen und ihre Mutter Sara nur wenig wissen. Die Buchrestauratorin will den Aufenthalt im kleinen Land als auch zu einer Art Provenienzforschung in eigener Sache nutzen. Work & Research in Armenien.
Doch die komplizierte und so kunstvolle Arbeit am Evangeliar tritt immer weiter hinter Helens Familienforschung zurück. Fremd im Land lässt sie sich treiben, beginnt eine Affäre, wird auf Familienfeiern eingeladen und sucht doch nur nach ihren Wurzeln. Dabei lernt sie ein Land kennen, das in seiner Zerrissenheit der Seelenlandschaft Helens ähnelt.
Ich weiß, dass viele viele [Armenier] ausgewandert sind, nach Frankreich, nach Amerika, in den Libanon, nach Russland. Es gibt ein armenisches Paradox. Jeder Armenier in der Welt könnte nach Armenien zurückkehren, aber sie denken nicht daran, es zu tun. Sie schicken Geld und sehen aus der Ferne zu, wie das Land vor die Hunde geht.
Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen, S. 152
Zwei Kinder auf der Flucht
In diese Geschichte hinein schneidet Katerina Poladjan eine weitere Geschichte, die mit dem von Helen zu restaurierenden Heilevangeliar zusammenhängt. Denn dieses befand sich einst im Besitz einer armenischen Familie, die bis auf zwei Kinder dem Völkermord an den Armeniern zum Opfer fiel. Aus Sicht der beiden Kinder erzählt Poladjan von diesem Genozid, dem zwischen 300.000 und 1.500.000 Menschen zum Opfer fielen, und der bis heute von der Türkei nicht anerkannt wird.
Die Flucht der beiden und der Kampf um das Überleben wird von ihr in kleinen Sequenzen geschildert, die manchmal fast einen bukolischen Ton aufweisen, etwa dann, wenn die beiden kleinen Kinder unter einem Strauch Zuflucht suchen. Was es bedeutet, Familie und die Heimat hinter sich zu lassen, das vermittelt die Autorin eindrücklich.
Das Heilevangeliar, das die beiden mit sich durch die karge und menschenleere Landschaft Armeniens schleppen, wird dabei für die Kinder auch zu einem Überlebensinstrument. Egal ob Entscheidungshilfe oder Kinoersatz – die gebundenen vier Evangelien begleiten die Kinder und finden schlussendlich auch zu Helen.
Ähnlich wie es Nino Haratischwili im Falle Georgiens gelingt, holt auch Katerina Poladjan hier ein uns fernes Land und seine Geschichte mithilfe der Literatur in unser Bewusstsein. Wer könnte schon vor der Lektüre von Hier sind Löwen zweifelsfrei sagen, wie die Hauptstadt Armeniens heißt oder wo das Land überhaupt liegt? Mit ihrer Prosa ruft uns Poladjan dieses in der Vergangenheit so gematerte Land und seine wechselvolle Geschichte wieder in Erinnerung. Und sie setzt nicht zuletzt der Kunst des Büchermachens und Bücherrestaurierens ein Denkmal.
Eine weitere Besprechung dieses Titels findet sich auf dem famosen Blog Kulturgeschwätz von Katharina Herrmann. Sie hat sich hier mit dem Buch und seinen Struktur im Besonderen und den vielen Bedeutungsebenen und Bezügen auseinandergesetzt.