Einmal mehr fordert Mathias Enard seine Leser*innen heraus und beschenkt sie dafür überreich mit Wissen. Tanz des Verrats taucht tief ein in die Welt der Mathematik und das Leben zweier Überlebender des Dritten Reichs ein. Dazu kombiniert Enard eine archaische Überlebensparabel, die auf den ersten Blick kaum etwas mit der zweiten Erzählung des Buchs zu tun hat – dann aber doch Berührungspunkte zur Geschichte um die Familie des Mathematikers Paul Heudeber aufweist.
Überraschend dünn ist der neue Roman von Mathias Enard, wenn man seine letzten Romane als Vergleich heranzieht. 250 Seiten umfasst sein Tanz des Verrats. Damit nimmt sich das Buch rein äußerlich wie ein Leichtgewicht neben dem deutlich voluminöseren Kompass oder dem zuletzt auf Deutsch erschienenen Roman Das Jahresbankett der Totengräber mit seinen gut 480 Seiten aus. Schlägt man das Buch allerdings auf, verkehrt sich der Eindruck eines Leichtgewichts schon nach wenigen Seiten ins Gegenteil. Denn sein neuester Roman setzt die Tradition von Enards wissenssatten und herausforderten Romanen mit Verve fort. Diesmal ist es die deutsche Geschichte und die Welt die Mathematik, die ihn besonders beschäftigt.
Die Ausgangslage ist dabei wieder ähnlich originell wie es Enard etwa in Kompass unter Beweis stellte. Damals durchwachte ein Orientalist in seiner Wiener Wohnung eine Nacht und baute dabei beständig theoretische Brücken zwischen Orient und Okzident. Im letzten Roman ließ der Franzose einen jungen Ethnologen aufs Land ziehen, wo er ein Tagebuch führte, das nur der Auftakt zu einer Reihe fantastischer Erlebnisse wurde, die gar bis ins Totenreich führte.
Ein schwimmender Mathematikkongress
Enards jüngstes Buch ist nicht weniger theoriesatt als seine Erzählungen um Ethnologen oder Orientalisten, denn nun widmet er sich der Welt der Mathematik. Anlass des Ganzen ist ein Mathematikkongress, der zu Ehren des verstorbenen Denkers Paul Heudeber in Berlin stattfinden soll. Doch statt ein gewöhnliches Symposium an der Universität zu Berlin oder Potsdam abzuhalten, verfällt man auf die Idee, einen schwimmenden Kongress abzuhalten. Ein Ausflugsdampfer namens Beethoven wird gechartert, der von der Anlegenstelle gegenüber der Pfaueninsel ablegen soll.
Zwischen Havel und Spree soll sich die Mathematikelite den Theorien des verstorbenen Heudebers widmen, man will tief in die Mathematikhistorie eintauchen, neue Forschungen präsentieren und den Namensgeber der Paul-Heudeber-Tage feiern.
Eine kreative Idee, die allerdings zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt anberaumt ist. Denn am 10. September soll das Ganze beginnen und schon einen Tag später gerät die bisher sicher geglaubte Welt aus den Fugen. Wir schreiben nämlich das Jahr 2001. In ihren Erinnerungen ruft sich Heudebers Tochter Irina die damaligen Geschehnissen noch einmal ins Gedächtnis, während sie in der erzählten Gegenwart im Jahr 2021 mit der Distanz von zwanzig Jahren auf den Kongress und die Entwicklungen blickt.
Ich habe mein Leben als Erwachsene damit verbracht zu schreiben, zu sprechen und zu schreiben, und heute, da ich gerade meinen siebzigsten Geburtstag gefeiert habe, erzähle ich zum ersten Mal mein eigenes Leben. Wie sich Pauls Leben darin spiegelte, wie Majas Leben; die Zahlen, Daten, Orte erschrecken mich; es fällt mir viel leichter, über die Algebra von Omar Khayyam oder die Entdeckungen Nasiruddin Tusi im 13. Jahrhundert zu sprechen, als die Mauern einzureißen, die ich zwischen mir und meinem in jahrelanger Zurückhaltung geübten Ich errichtet habe.
Mathias Enard – Tanz des Verrats, S. 33
Vom Überlebenskampf und den Erinnerungen
Neben der Erinnerung an den Kongress und wichtige Weggefährten ist es vor allem die Beziehung ihrer Eltern, die Irina interessiert. In Briefauszügen und Erinnerungssplittern spürt sie der Beziehung des Mathematikers zu seiner Frau Maja nach, überlegt, wie sich ihre Mutter auf dem schwimmenden Kongress einst gab und was die Beziehung ihrer Eltern kennzeichnete.
Er Überlebender des KZ Buchenwalds, wo er seine bahnbrechenden Theorien in den Ettersberger Vermutungen, mathematische Elegien, einer Verschmelzung von Lyrik und Mathematik notierte und damit die Grundlage für seinen Ruhm schuf. Sie Politikerin, die an der Seite Willy Brandts Karriere machte und in den Westen ging, während er im Osten blieb und sich der Mathematik widmete. Ihr Leben und Überleben im Zweiten Weltkrieg ruft Irina in ihren Gedanken wach – und doch bildet dieses ganze Themenkonvolut nur die eine Hälfte des Romans.
Denn da ist auch noch der zweite Teil, der immer wieder in Irinas Reflektionen und Spurensuche eingeschoben wird. Darin erzählt Enard die Geschichte eines namenlosen Geflüchteten, der in einer nicht näher bestimmten Bergwelt unterwegs ist, wo er dem Tode nah Sicherheit in einer Hütte sucht. Er ist vor einem Krieg geflohen und hat in vier Tagen hundert Kilometer in den Bergen zurückgelegt, um zu einer Hütte zu finden, die er von früher kennt. In welcher Zeit wir uns befinden, wo diese Geschichte spielt, was dieser Mann gemacht hat, all dies bleibt im Dunkeln.
Verknappt und hochpräzise
In einem verknappten und doch hochpräzisen Ton und Blick erzählt Enard von seinem Überlebenskampf und dem Aufeinandertreffen auf eine Frau mit Esel dort in den Bergen.
Es ist eine archaische Erzählung, die fast schon etwas Parabelhaftes besitzt und die auf den ersten Blick wenig zu tun hat mir der Erzählung um den schwimmenden Mathematikkongress im Jahr 2021. Alles erscheint wie zwei Seiten einer Schleife, die sich nicht verbinden wollen und ganz unabhängig voneinander sind.
Und doch wird bei näherer Betrachtung aus dem scheinbar so disparaten Themengemisch und den zwei Seiten der Schleife ein Möbiusband, das immer wieder ineinander übergeht.
Denn die Frage des Verrats spielt in beiden Erzählungen eine zentrale Rolle. Der Überlebenskampf mal in den Bergen, mal in Göttingen und Lüttich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, wo Paul Heudeber aufgrund seiner jüdischen Herkunft in Gefahr schwebt und schlussendlich sogar ins KZ deportiert wird, das ähnelt sich auf einen zweiten Blick dann doch.
Déserter
Noch tragfähiger wird die Verbindung zwischen den Geschichten, wenn man auch den Originaltitel des Romans in die Überlegungen miteinbezieht. Denn im Französischen hört Enards Buch auf den Titel Déserter, was ja den Verrat und das Verlassen beinhaltet, das Heudeber erfahren musste. Ebenso klingt darin aber auch das Desertieren an, dessen sich offenkundig die Erzählfigur in Enards zweiter Episode schuldig gemacht hat und sich nun in einer kärglichen Bergwelt wiederfindet, in der Blitze noch eine der geringsten Gefahren sind.
Wollte man diese hermeneutische Spiel noch weitertreiben, könnte man auch die Wüste, auf Französisch Désert, in seine Überlegungen hineinholen. Nicht nur, dass Irina einst in Kairo studierte und dort die Welt der Kulturstätten und Wüsten kennenlernte, auch der von ihr erforschte Mathematiker Nasiruddin Tusi stammte aus Bagdad, wo er wie die beiden Hauptfiguren des Romans ebenfalls zum Zeugen barbarischer Gewalt wurde, als seine Heimatstatt 1258 von Nachfahren des Dschingis Khan erobert und sämtlich Bewohner brutal abgeschlachtet wurden. Tusi überlebte nur, indem er in die Festung Alamut im iranischen Gebirge floh.
Tiefes Eintauchen in die deutsch-deutsche Geschichte
Immer wieder ergeben sich Querverweise rund um Flucht und Überleben, was Tanz des Verrats zu einer tiefen und interpretationswürdigen Lektüre macht. Wie von Enard gewohnt schüttet er auch hier wieder Füllhörner voller Wissen aus und bringt Entlegenes wie mathematische Theorien und vergessene Denker*innen mit deutscher Geschichte zusammen. Bildungsgesättigt sind Enards Ausflüge, der sich als Franzose deutlich besser auskennt mit deutscher Geschichte, als es so mancher deutscher Autor tut.
So nimmt das KZ Buchenwald auf dem Ettersberg und dessen Bedeutung für die antifaschistische Geschichte einen großen Raum ein. Mühelos webt Enard Verbindungen von Goethe und Schiller bis hin zur Zwangsarbeit im KZ, von der Nachnutzung des Ortes bis zur Geistesgeschichte der DDR.
Das ist beeindruckend und herausfordernd, ebenso wie es die Sprache des Romans ist. Denn ebenso unendlich wie die Schleife des Möbiusbandes erscheint, so sind es auch die Sätze Enards, die Holger Fock und Sabine Müller einmal mehr bravourös übersetzt haben. Die beiden Übersetzer haben die fließenden Sätze, lange Parataxen und die sprachmächtigen Elogen Enards in ein ebenso variantenreiches und wortmächtiges Deutsch übertragen, das den lyrischen wie brutalen Tönen in diesem Buch Rechnung trägt.
Fazit
Wie die übrigen Romane von Mathias Enard ist auch Tanz des Verrats kein Buch für nebenher. Theoriesatt und bildungsprunkend (aber nie protzend) fordert seine Erzählung – oder hier besser seine zwei Erzählungen – heraus.
Möchte man im Bild der Mathematik bleiben, so ließe sich der Eindruck der Lektüre etwa auf folgenden Nenner bringen: die auf den ersten Blick etwas disparaten Geschichten bilden zunächst eine Gleichung, die nicht aufzugehen scheint. Mit dem Einsatz der thematischen Variablen von Verrat, Überlebenskampf und Entbehrung lässt sich das Ganze dann aber doch auflösen. So wird aus den Erzählungen ein durchaus homogenes Bild der Schilderung von erfahrener Gewalt und dem Kampf um eigene Selbstständigkeit.
Das macht aus Tanz des Verrats eine lohnenswerte Lektüre, auf die man sich aber wirklich einlassen muss und von der man trotz der knappen Länge von 250 Seiten nicht unbedingt eine größere Zugänglichkeit als bei Enards anderen Romanen erwarten sollte.
- Mathias Enard – Tanz des Verrats
- Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
- ISBN 978-3-446-27956-8 (Hanser Berlin)
- 256 Seiten. Preis: 25,00 €