Jan Wilm – Winterjahrbuch
Da reist ein Ich-Erzähler namens Jan Wilm nach Los Angeles. Im Gepäck eine unverarbeitete Trennung und ein wahnwitziges Vorhaben. In der Stadt der Engel will Wilm ein Buch über Schnee bzw. über den Schneefotografen Gabriel Gordon Blackshaw schreiben. Dabei hat es dort seit 1949 nicht mehr geschneit. Ein ganzes Jahr wird Jan Wilm in Los Angeles verbringen – davon erzählt das Winterjahrbuch des Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Jan Wilm.
Doch wer ist überhaupt dieser Jan Wilm? Was ist wahr, was ist erdacht? Geschickt entzieht sich der Philologe schon mit der Bezeichnung seines Buchs einer genauen Einordnung. Ein autofiktionaler Text ist sein Buch, so die Bewerbung durch Verlag und Autor. Was genau er darunter versteht, erläutert Jan Wilm in diesem lesenswerten Interview mit Knut Cordsen.
Autofiktional in Los Angeles
Ein autofiktionaler Text also, eine Melange aus Erlebtem und Erdachten. Dieser spielerische Umgang mit Fakt und Fiktion prägt das ganze Buch, bei dem vordergründig erst einmal gar nicht so viel passiert. Jan Wilm reist nach Los Angeles, durchmisst die Stadt, vergräbt sich in Archiven wie dem des Getty Research Insitute, kurz Getty genannt. Dort versucht er aus den Aufzeichnung und dem legendären Pestjahrbuch des Fotografen Gabriel Gordon Blackshaw schlau zu werden und seine Erkenntnisse in ein akademisches Werk zu überführen. Nebenbei ist er bestrebt, in Gedanken und Reflektionen die Trennung von seiner Partnerin zu verarbeiten. Dabei stagnieren sämtliche Bestrebungen oder sind sogar rückläufig.
Es sind drei Elemente, die das Buch strukturieren. Da ist zum Einen das akadmische Element der (reichlich dünnen) Blackshaw-Forschung, dann ist da zum Zweiten das Element der Trennungsverarbeitung und zum Dritten noch das Flanieren durch Los Angeles. Diese drei Elemente gehen immer wieder ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig. Dazwischen, als Kapiteleingrenzung, gibt es jede Menge Indie-Songtitel, von Noah and the Whale bis zu Eliott Smith, von Jane Birkin bis zu den Mountain Goats (auch in einer Playlist hier zusammengefasst).
Ein literarischer Schneehase
Doch möchte man das Buch lediglich auf das Äußere reduzieren, entgeht einem der Hauptreiz dieses Buchs. Denn Jan Wilm kann und will seinen Studien- und Arbeitshintergrund gar nicht aus diesem Buch heraushalten. Wie eine Art literarischer Osterhase (oder sollte man besser von einem Schneehasen sprechen?) hat Wilm in diesem Buch derart viele literarische Anspielungen, Tricks und Kniffe versteckt, dass die Entzifferung selbst mit akademischen Bildungshintergrund kaum zu durchdringen ist. Alleine schon die mannigfaltigen Bedeutungen und Deutungsweisen des Schnees nehmen einen großen Raum ein. Dann ist das Winterjahrbuch auch noch randvoll mit Zitaten aus der Literaturgeschichte, von Martin Opitz bis hin zu Christa Wolf. Gedichtanalysen, Flaneursgedanken, philosophische Exkurse – dass aus dem Winterjahrbuch nichts herausfällt oder schwappt, ist ein kleines Wunder
Gerade auch auf Joan Didion und ihr Werk Das Jahr des magischen Denkens rekurriert Wilm gleich am Anfang seines Buchs. Es finden sich, wenn man denn möchte, erstaunliche Parallelen zwischen den Werken. Ich bin nach der Lektüre geneigt, im Winterjahrbuch auch Jan Wilms eigenes Jahr des magischen Denkens zu entdecken. Denn sein Aufenthalt in Los Angeles umfasst eben ein entscheidendes Jahr, vom Januar bis zum 31. Dezember, von Winter zu Winter. Ob danach eine Transformierung eingetreten ist, das muss jede Leserin und jeder Leser am Ende der 456 Seiten selbst deuten.
Faszinierend zu lesen in vielerlei Hinsicht
Wer jetzt von dem Buch aufgrund dieser Worte und einem möglichen zu akademischen Niveau zurückschreckt, der sollte sein Urteil noch einmal überdenken. Denn auch wenn Jan Wilm manchmal dazu neigt, die Leser*innen zu überfordern, so ist das Winterjahrbuch ein großer Reiz, den man nicht unbedingt in seiner ganzen Tiefe dechiffrieren muss, um an dem Buch seine Freude zu haben. Denn eins muss man einfach festhalten: Jan Wilm vermag zu schreiben und seine Geschichte zu erzählen. Und damit ist das Winterjahrbuch keinesfalls Schnee von gestern, sondern eine großartige Hommage auf Los Angeles, den Schnee, die Literatur und all das Dazwischen, dass das Leben ausmacht.