Tag Archives: Kalter Krieg

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe

Wenn der Weg über den Flur zum Anschauungsunterricht in Sachen Leben im Kommunismus wird, dann handelt es sich um den Roman Die Glühbirnendiebe von Tomasz Różycki. In diesem Buch schickt der polnische Autor einen Jungen zu Nachbarn, um dort Kaffeebohnen mahlen zu lassen. Der kurze Gang wird zu einer großen Reflektion über das Lebensgefühl und den Alltag im Plattenbau zur Zeit des Spätsozialismus


Kaffee, für viele von uns gehört er zum täglichen Leben dazu und ist meist auf Knopfdruck innerhalb von Minuten und nahezu überall verfügbar. Ganz anders jedoch bei Tomasz Różycki. Denn der Roman des 1970 geborenen Autors spielt irgendwann in der Spätphase des Kalten Kriegs in Polen.

Karol Wojtyla ist Papst und segnet auf Bildern und Fotos auch die Wohnungen der Familien im Plattenbau – Güter des täglichen Bedarfs sind aber weit weniger verfügbar als der omnipräsente Papst und Landsmann. Teils über Tage hinweg müssen sich Familienmitglieder gegenseitig abwechseln, um ihren Platz in langen Schlangen zu behaupten, an deren Ende im besten Fall einige wenige Rationen von Luxusgütern wie etwa Kaffee warten.

Die Sache mit dem Kaffee

Und wenn man aufgrund eines guten familiären Netzwerkes und einer wohlkoordinierten Anstelltaktik zu den Glücklichen zählt, dann kann es passieren, dass sich sich der sehnlich begehrte Kaffee als nicht verarbeitetes Produkt in Bohnenform herausstellte. So zumindest im Falle des Romans von Tomasz Różycki, der mit genau diesem Fall eröffnet, der sich in der Folge zu einem Panorama des Lebens im Spätsozialismus entfaltet.

Hört euch an, wie meine Mutter gesprungen ist. Also, das war so: Als es uns kurz vor Vaters Namenstag endlich gelungen war, Kaffee zu organisieren, und sich herausstellte, dass es Bohnen waren, sagte Vater, der vorm Fernseher saß, wo im pulsierenden grauen Pixelwirbel gelegentlich die fantastischen Formen des Plattenbaupanoramas von Ursynów auftaucheten, zu mir: „Geh zu Stefan und lass ihn mahlen“, denn sie hatten eine Kaffeemühle. Er ging natürlich nicht selbst, obwohl man dazu über den schrecklichen Dachboden musste, und wir klopften auch nicht bei den Nachbarn links und rechts, weil die von links keine Mühle und wir mit denen von rechts kein sonderlich gutes Verhältnis hatten, warum, wusste, keiner genau.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 5

Und so macht sich der junge Held Tadeusz auf den Weg hinauf zum Dachboden, wo der gefürchtete Gaang auf einer Länge von etwa 120 Meter die verschiedenen Plattenbauten miteinander verbindet, um die Kaffeebohnen in einen nutzbaren Daseinszustand verwandeln zu lassen.

Was eigentlich nicht länger als ein paar Minuten dauern dürfte, wird im Falle von Die Glühbirnendiebe zu einer Erzählung von 220 Seiten. In dieser Erzählung taucht man man mit Tadeusz gemeinsam tief ein in das Leben dort im Plattenbau ein und erhält eine Ahnung davon, wie Gemeinschaft und Alltag einst aussahen in jenem spätkommunistischen Betonmonstrum, das von Rissen und Brandnarben durchzogen am Rande eines Steinbruchs harrt.

Leben im Plattenbau

Tomasz Różycki - Die Glühbirnendiebe (Cover)

Aufgrund des Vandalismus, der sich auch im steten Diebstahl von Leuchtmitteln im Haus zeigt, ist der Gang äußerst schummrig beleuchtet. So flößt sich Różyckis junger Erzähler selbst Geschichten und Erinnerungen ein, um sich damit von der Schaurigkeit seines Wegs zu den Nachbarn abzulenken.

Meter um Meter kämpft sich Tadeusz dort oben auf dem Flur voran, während seine Gedanken immer wieder abschweifen und sich in Erinnerungen verharken. Der Müllschlucker, die ständigen Zündeleien und Brandstiftungen und die Risse im Gebäude, die einen Ausblick auf die Tristesse des Stadtteils Ursynów im Süden Warschaus erlauben, sie alle zeigt uns Tadeusz in seiner Art der Autosuggestion.

Ähnlich wie das aufgrund von Sprengungen im benachbarten Steinbruch immer wieder schwankende Gebäude zeigen sich auch im Alltag der Menschen immer mehr Risse und das System beginnt langsam zu bröckeln. Noch aber regiert der Sozialismus in seinem ganzen Lauf – was sich aber keineswegs einem grauen und deprimierenden Leseerlebnis äußert – ganz im Gegenteil.

Ein gewitzter Roman über den Spätsozialismus

Die Glühbirnendiebe ist ein gewitzter Roman, der mit viel Liebe zu seinem Erzählgegenstand den Alltag im Plattenbau mit all seinen Mängeln, vor allem aber mit der Findigkeit seiner Bewohner noch einmal wachruft. Die Familie Tadeusz‘, die aus der Ukraine stammt und in der vor allem die Altlemberger Flüche des Vaters Zeugnis von der Herkunft ablegen, die Nachbarn, die mal als äußerst kreative Denunanzianten die Mitbewohner im Plattenbau anschwärzen, mal mit besonders rigorosen Ernährungsvorschriften ihrer Kinder Tadeusz‘ Familie herausfordern, sie alle leben im wahrhaftigen Erinnerungsgang des Jungen auf.

Die Anforderungen, die das Leben im Block stellte, werden bis heute unterschätzt- Dabei war es eine echte Schule des Lebens, vielleicht eine kommunistische, aber eine Schule.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 53

Tomasz Różycki erzählt von Familienfeiern, deren Tabakkonsum alle Feinstaubmesswerte pulverisiert haben dürfte, von kuriosen Schwarzbrennereien in der Platte oder dem Fest, das die Zuteilung von Schweinsfüße bedeutete, denn das Endprodukt von Sülze konnte ganze Familien in kulinarische Ekstase versetzen, wie Die Glühbirnendiebe beweist.

Es sind die kleinen Momente, die so anschaulich vom Leben im großen Plattenbau erzählen. Tadeusz erweist sich als durchaus sprachmächtiger Erzähler (Übersetzung aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann), der von Menschen und deren Zusammenleben erzählt, und damit wieder einmal jenes vielzitierte und vielen Denker*innen zugeschriebene Zitat erfüllt, dem nach der Historiker sagt, wie es war und der Schriftsteller, wie es sich angefühlt hat.

Fazit

Wie es sich angefühlt hat, das Leben im Plattenbau, das zeigt Tomasz Różycki in seinem Roman eindringlich. Der Spätsozialismus ersteht in diesem Roman wieder auf und straft damit auch die Worte von Tadeusz‘ Freundin Bermuda Lügen. Denn diese bekennt, dass sie Bücher für Zeitverschwendung hält, das Lesen sie langweile. „Wozu lesen, wenn man leben kann?“ so ihre Haltung. Dabei sind es genau solche Bücher wie Die Glühbirnendiebe, bei denen man nicht nur Lesen, sondern gleich ganze Leben mitleben kann. Mehr kann gute Literatur nicht schaffen!


  • Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe
  • Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
  • ISBN 978-3-949262-45-6 (edition. fotoTAPETA)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Michael Ondaatje – Kriegslicht

Michael Ondaatje ist zurück. Kürzlich wurde sein Roman „Der Englische Patient“ im Rahmen des Man Booker Prize zum besten Buch der letzten 50 Jahre gewählt. Nun kehrt er mit „Kriegslicht“ wieder zu seinen Topoi von Kindheit, Erinnerung und Krieg zurück.

Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.

Ondaatje, Michael: Kriegslicht, S. 13

So erzählt es uns der Ich-Erzähler Nathaniel, der in Kriegslicht (Deutsch von Anna Leube) die Erinnerung an seine Kindheit in London während und nach dem Zweiten Weltkrieg heraufbeschwört. Jene beiden möglicherweise Kriminellen, denen die Betreuung von Nathaniel und seiner Schwester Rachel übertragen wird, werden von den Kinder Der Boxer und Der Falter tituliert.

Von einer Betreuung der Kinder zu sprechen, ist allerdings zu hoch gegriffen. Rachel und Nathaniel bleiben sich meist selbst überlassen und werden manchmal von den beiden Erwachsenen für halbseidene Touren eingespannt. So wird das Flussnetz und die Architektur Londons Nathaniel schon bald sehr vertraut, da er immer wieder mit dem Boxer zu Touren aufbricht, bei denen sie Hunde für Rennen schmuggeln und Ähnliches wagen, das die Grenze der Legalität überschreitet. Doch alle Abenteuer im Dschungel der Großstadt Londons können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine offene Wunde bei den Geschwistern zurückgeblieben ist – das Verschwinden ihrer Eltern.

Der alte Fluss Tyburn verschwand, auch Geografen und Historiker verloren seine Spur. So ähnlich glaubte auch ich, meine sorgfältig verzeichneten Gebäude an der Lower Richmond Road seien gefährlich gefährlich provisorisch,so wie große Gebäude im Krieg verlorengegangen waren, so wie wir Mütter und Väter verlieren

Ondaatje, Michael: Kriegslicht, S. 43

Doch – ohne hier Entscheidendes der Handlung vorwegnehmen zu wollen: Dieser Verlust ist kein dauerhafter. Denn Kriegslicht ist genauso die Geschichte von Nathaniel wie die seiner eigenen Mutter, deren Geheimnisse zentral für die Handlung von Ondaatjes neuem Roman sind. So schafft das Buch den Bogen vom Zweiten Weltkrieg hin zum Kalten Krieg, der aus den Ergebnissen jenes Zweiten Weltkriegs erwächst.

Ondaatjes Buch ist zum Teil eine Spionagegeschichte und zum Teil die Rekonstruktion eines Verlustes. Diese Ambivalenz macht das Buch reizvoll, lässt aber auch etwas Tiefe vermissen. So wird viel angerissen, vertieft wird es hingegen kaum. Dieses fragmentarische Schreiben lässt auch keinen durchgängigen Lesefluss entstehen, vielmehr muss man sich als Leser einen Teil der Geschichte selbst ausmalen. Das ist nicht immer bequem für den Rezipienten, funktioniert allerdings von der inneren Logik des Romans her ganz ausgezeichnet. In die Kategorie Saftiger Schmöker passt dieses Buch so eindeutig nicht (auch wenn der Inhalt dies eigentlich impliziert) – zudem lässt die Länge von gerade einmal 320 Seiten so etwas wie ein tiefes Abtauchen in die Doppelgeschichte kaum erwarten.

Kriegslicht hat unterschiedliche Themenschwerpunkte. So ist das Buch eine Hymne an ein London, das im Zuge von Gentrifizierung und Bauboom völlig zu verschwinden droht. Die Flüsse, die Gebäude, die Geschichte – all das drückt sich in diesem Buch genauso aus wie das Thema des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen. Die Kindheit und die Erinnerung fasziniert Ondaatje ebenso unübersehbar (es sei hier nur an seinen letzten Roman Katzentisch erinnert) – und so liest sich sein neues Buch tatsächlich auch ein Stück weit wie eine Synthese aus dem Englischen Patienten und letzterem Werk. Kein ganz leichtes oder zugängliches Buch, im Gegenteil. Das Sperrige ist hier immer präsent und zeigt einmal mehr, wie wahr das Zitat aus Benedict Wells Vom Ende der Einsamkeit ist

Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.

Diesen Beitrag teilen