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Svealena Kutschke – Gespensterfische

Wie kann man überleben, ohne verrückt zu werden? Oder bedeutet Überleben auch immer, selber ein wenig verrückt zu werden? Svealena Kutschke erkundet in ihrem Roman Gespensterfische die Frage des Überlebens und erzählt weit ausgreifend von Patienten und Ärzten einer norddeutschen Psychiatrie. Daraus entsteht eine Lektüre, die in ihrer Erzählweise herausfordert, aber zugleich zu vielen Fragen und Reflektionen einlädt.


Gespensterfische, das sind Fische, die unter größtem Druck in der Tiefsee leben. Licht dringt in ihren Lebensbereich keines mehr vor, nur üben die Wassermaßen einen großen Druck auf die Tiere aus. Die Fische haben körperliche Merkmale entwickelt, um unter den widrigen Bedingungen leben zu können. Manche von ihnen verfügen sogar über eine eigene Lumineszenz, um dort in der Tiefe überleben zu können. Sie zeigen damit jenen Überlebenssinn, den auch die Figuren in Svealena Kutschkes Roman an den Tag legen.

Denn bei vielen der Figuren handelt es sich um Psychiatrieinsassen einer Einrichtung im Norden des Landes. Wie Gespensterfische haben sie eigene Überlebensstrategien entwickelt, um auf das Leben mit all seinen Zumutungen reagieren zu können. Mal mehr und mal weniger gut eingestellt mit Medikamenten trotzen sie den inneren Dämonen – vor denen aber auch ihre Gegenüber nicht gefeit sind.
Denn viele der Behandelnden sind ebenfalls nicht frei von den Schwarzen Hunden, wie der selbst unter Depressionen leidende Winston Churchill seine Pein einst ausdrückte.

Der Geist war jeden Morgen schon lange vor ihm wach, ausgezehrt von sich selbst. Er schlief nur in Fetzen. Vor einem freien Tag bediente er sich am Medizinschrank. Er war schließlich Psychiater. Auch ihm einmal in der Woche die tiefe kalte See, in der nichts mehr zu finden ist als der eine oder andere Gespensterfisch.

Svealena Kutschke – Gespensterfische, S. 157

Dem herausfordernden Thema von psychischer Belastung, psychischer Probleme und der Behandlung dieser Felder begegnet Svealena Kutschke mit großem Einfühlungsvermögen, die sprachlich nachzuzeichnen vermag, wie sich Depressionen oder andere Krankheitsbilder ausdrücken und vor allem anfühlen. Mit einer wandelbaren und sehr poetischen Sprache springt sie durch die Jahrzehnte und die Leben ihrer Figuren.

Psychiatriegeschichte und der Umgang mit blinden Flecken

Svealena Kutschke - Gespensterfische (Cover)

Immer wieder wechseln die Kapitel, beleuchtet sie die dunkelsten Kapitel der Psychiatriegeschichte dort in Lübeck, als Patienten der Jannsen-Klinik in der Zeit der Nazis der Euthanasie zum Opfer fielen und wie sich der Umgang mit dieser Schuld wandelte. Auch zeigt sie in ihren Figuren den Wandel und die Anpassung an neue Umstände, etwa dann wenn die Künstlerin Laura an einem Bildroman über die Klinikpatientin Olga Rehfeld arbeitet, deren Mann nach der Scheidung zu ihrem behandelnden Arzt werden sollte.

Bei einem Aufenthalt in der Klinik in den 90er Jahren lernt sie diese Lebensgeschichte kennen, die sie nicht mehr loslassen soll. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der vor ihr in der Jannsen-Klinik lebenden Frau – und löst durch die sich intensivierende Beschäftigung auch eine Krisis bei Laura aus.

Auch Olga Rehfeld erlebte eine solche Krisis, fand aber in der Verbindung zu ihrer Mitpatientin Noll einen Raum, der ihr einen Umgang mit ihren Problemen ermöglichte. Denn vor allem in der Beschäftigung mit der Sprache, die an das Werk von Lyrikerinnen wie Ingeborg Bachmann, Sylvia Platz, Yoko Tawada oder vor allem Friederike Mayröcker anschließt, fand sie einen Ausdrucksraum. Es ist ein Ausdrucksraum, an den Svealena Kutschke mit ihrer Sprache, den Sprachbildern und den immer wieder verändernden Rhythmen und Melodien ihrer Sätze anknüpft.

Rehfeld glaubte an Arbeit, Beharrlichkeit, Disziplin, was das Gegenteil von Keksen war. Besonders aber glaubte Rehfeld an Räume. Physische Räume. Und Denkräume. Einen physischen Raum hatte sie sich erkämpft. Es gegen das liebevolle Lächeln Fellners durchgesetzt, das Hause gehöre doch ganz ihr, den ganzen Tag, überall könne sie doch –

Svealena Kutschke – Gespensterfische. S. 76

Kunst als Heilungsraum

Mit ihren gemalten Bildern und der graphischen Beschäftigung mit ihrer gewissermaßen Vorgängerin versucht sich Laura an einem Zugang zum Heilungsraum der Kunst, sie für sich öffnen soll. Immer wieder ist diese Kunst für Patienten ein Ausdrucksmittel – und auch Svealena Kutschke nutzt sie ausgiebig, um damit die Innenweilten ihrer Figuren anschaulich erfahrbar zu machen.

Vieles ist in Gespensterfische wie in einem impressionistischen Gemälde hingetupft. Es ist ein Erzählen, das auf das Innen schaut und das dennoch ein Gespür für das hat, was nicht erzählt werden kann und was im Ungefähren bleiben muss. Sie springt nicht nur durch fast zehn Jahrzehnte, sondern blickt auch immer wieder auf unterschiedliche Generationen von Menschen auf beiden Seiten des Behandlungsspektrums und fällt von Figur zu Figur, deren Schicksale sie immer wieder aufgreift.

Sie zeigt dabei, wie durchlässig die Schichten von vermeintlichen Normalen und „Verrücktem“ ist, und wie fragil doch unser Bild der Welt ist, das wir uns machen. Literatur wird bei Kutschke zum seelischen Ausdrucksmittel und zum Überlebenswerkzeug, oder wie es eine ihrer Figuren im Buch in einer Notiz einmal beschreibt: Wenn wir nicht sterben wollen, müssen wir erzählen (S. 222)

Zudem trägt ihr kunstvoller Beitrag neben den in diesem Bücherherbst erscheinenden Werken von Leon Engler oder Anna Prizkau dazu bei, das immer noch klischeetriefende Thema der Psychiatrien und psychiatrischer Behandlung aufzubrechen und ein Bewusstsein für diese Welt und die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen zu schaffen – und das stets mit einem Gespür für Brüche und die Fragilität des vermeintlich Normalen.

Fazit

Thematisch wie sprachlich wie strukturell ist Gespensterfische das Gegenteil eines Easy Reads. Kunstvoll komponiert und sehr fein, fast fragil gearbeitet erfordert Kutschkes Buchs das Einlassen auf ihren Text. Wenn man sich aber die Zeit und die gedankliche Offenheit für ihr Erzählen nimmt, so wird man mit einer sprunghaft und gerade dadurch so eindrücklich erzählten Geschichte belohnt, deren Zusammenhänge und Beziehungen sich erst langsam erschließen.

Wie durchlässig die Schichten von vermeintlich Normalem und „Verrücktem“ ist, wie man den Widrigkeiten der Welt trotzt, was Wirklichkeit eigentlich bedeutet und wie sich langsam unser Umgang mit den lange Zeit so stigmatisierten Menschen mit psychischen oder Problemen und Schwierigkeiten wandelt, das lässt sich aus diesem Kunstwerk erfahren, das die Zeit belohnt, die man sich für die Beschäftigung mit Kutschkes Werk und Gedankenwelten nehmen sollte. Denn die Tiefe in diesem Buch ist enorm, auch wenn die Gespensterfische dabei nur Metapher sind.


  • Svealena Kutschke – Gespensterfische
  • ISBN 978 3 89561 363 0 (Schöffling)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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Inger-Maria Mahlke – Unsereins

Zu Gast im kleinsten Staat des Königreichs. Inger-Maria Mahlke lässt in ihrem Roman Unsereins die Kaiserzeit um die Jahrhundertwende im kleinen Stadtstaat Lübeck wieder auferstehen, „der Pfau“ alias Tomy Mann inklusive. Leider gerät das Ganze dabei etwas zu arg hanseatisch-trocken.


Schon der Blick in das vorangesetzte Personenverzeichnis des neuen Romans von Inger-Maria Mahlke macht klar, dass hier mit großem Besteck operiert wird. So führt das Verzeichnis allein acht Kinder des im Mittelpunkt stehenden Senators Friedrich Lindhorst auf. Daneben Hausmädchen, Ratsdiener, Lohndiener, Senatoren, Wasserbaudirektoren und dergleichen mehr. Sie alle bewohnen den „Kleinsten Staat“ des Kaiserreichs, der eigentlich gar nicht der kleinste ist, zieht man in Bezug auf die Fläche Bremen oder in Bezug auf die Einwohnerzahl den noch kleineren Staat Köstritz heran. Aber wie es so ist mit der Fassade dort im vom Großbürgertum dominierten Stadtstaat – man möchte etwas sein, und so wird man eben kurzerhand zum kleinsten Staat, um mit irgendetwas herausstechen zu können.

Generell geht es viel um das Sein und Nicht-Sein in Unsereins. Denn Inger-Maria Mahlke beschreibt den Zustand der Entropie, der im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur das Kaiserreich, sondern eben auch den Stadtstaat und im Innersten auch die Familie Friedrich Lindhorsts erfasst.

Geschichten aus dem kleinsten Staat des Kaiserreichs

Inger-Maria Mahlke - Unsereins (Cover)

Während im Stadtstaat der Sozialdemokrat Theodor Schwartz der elitenzentrierten Politik der alteingesessenen Senatoren und Konsuln entgegenwirkt und sich um den einzigen Platz als Abgeordneter des Stadtstaates bewirbt, geht es auch in der Familie Lindhorst hoch her. Zwischen Ausbildung, Verlobung, Schule, Erwartungen der Eltern, Yokohama, London und Bad Kissing treibt die ganze Familie Lindhorst auseinander. Der finanzielle Status verschlechtert sich zunehmend, man muss Immobilien beleihen, der nach London entsandte Sohn Cord düpiert mit seinen Spekulationen nicht nur die Firma, sondern die eigene Familie. Auflösungserscheinungen aller Orten, den althergebrachte Ständeordnung gerät durcheinander – und nicht einmal ein Kaiserbesuch im kleinsten Staat des Landes kann da etwas retten.

Um diese vielköpfige Familie Lindhorst herum gruppiert Inger-Maria Mahlke weitere Figuren, die den Stadtstaat bevölkern und deren Schicksal immer mal wieder angerissen wird. So verliebt sich der Ratsdiener Isenhagen in seine Nachbarin, deren Pelargonium triste zunächst seine Aufmerksamkeit und sie wenig später sein Herz gewinnt. Homosexuelle und damit verbotene Avancen, geheime Fechtclubs in der Schule, deren Ursprung der der Schüler Georg Presswitz in seinem Geheimversteck auf der Primanertoilette ergründen will – und dann auch noch Presswitz‘ Mitschüler, der „Pfau“ geheißene Mitschüler Tomy mit schriftstellerischen Ambitionen und Sohn der Senatorenwitwe Mann, die bald aus Lübeck nach München ziehen wird.

Leider viel Langeweile

Viele Figuren und Erzählstränge für einen Roman – der dabei doch erstaunlich langweilig ist, um dieses wenig analysescharfe und recht undifferenzierte Erkenntnis gleich vornewegzusetzen. Das hat aber auch seine Gründe.

Wie schon in ihrem rückwärts erzählten Familienroman Archipel, für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, handelt auch Unsereins wieder von den Umbrüchen in Ländern und Leben, erzählt vom Verfall und dem Niedergang des familiären Status einer großbürgerlichen Familie (hier aber eben im Stadtstaat Lübeck statt auf der Insel Teneriffa).

Nur ist in dieser neuen Geschichte Mahlkes nicht nur der Pelargonium trist – auch ihr Erzählen schleppt sich über die Jahre nur voran, statt eine Bindung zum Leser (zumindest in meinem Falle) aufzubauen. Dabei wäre der sich abzeichnenden Abstieg der Senatorenfamilie Lindhorst ja durchaus ein valider Grunde, die Leserschaft mitfiebern zu lassen, ob die Sanierung der Senatorenfamilie noch gelingen kann. Daraus wird aber nichts.

Die Jahre schreiten ins Land, die Schauplätze wechseln – trotz aller äußeren Bewegung fehlt allerdings die innere Bewegung. Die Familie verfällt, während man sich gegenseitig über die wahren Seelen- und Kontozustände täuscht. Man bleibt als unbeteiligter Beobachter dabei außen vor, stellt sich Fragen über den Verbleib mancher Figuren, die für Jahre und damit dutzende von Seiten aus der Geschichte fallen, ehe ihr weiteres Schicksal kurz wieder angeschnitten oder indirekt weitererzählt wird.

Das übergroße Personaltableau erweist sich als zentraler Mühlstein des Erzählens. Nicht einmal Schauplätze wie Kobe und Yokohama in der zweiten Hälfte des Romans können darüber hinwegtäuschen, dass das Buch erzählerisch stagniert und trotz aller Raffinesse der erzählerischen Mittel, die Inger-Maria Mahlke zweifelsohne zur Verfügung stehen, nicht vom Fleck kommt.

Das ist besonders schade, da diese Personenfülle auch das lobenswerte erzählerische Vorhaben zu erdrücken droht.

Ein Gegenentwurf zu den Buddenbrooks

Inger-Maria Mahlke positioniert sich mit ihrem Roman als Gegenentwurf zu Tomy alias Thomas Manns Debüt Buddenbrooks, in dessen Lübecker Bürgertumsporträt für Frauen und Dienerinnen allenfalls ein Platz am erzählerischen Seitenrand war. Was als Vorhaben in Teilen funktioniert, trägt leider aber nicht über die Länge des Buchs. Denn um eine Bindung beispielsweise zum Schicksal des Dienstmädchens Ida aufzubauen, müsste das Erzählen stärker auf sie fokussiert sein, anstatt immer wieder zu anderen Figuren und neuen Handlungssträngen abzuschweifen, ehe sich die Autorin wieder ihrer besinnt.

Dort wo die Gebrüder Mann einst die Kaiserzeit Form ihrer Romane Der Untertan und Buddenbrooks in staunenswerte Literatur gossen, bleibt hier alles leider nur Staffage und Kulisse, in der kein lebendiges Schauspiel stattfindet, trotz des unbestreitbaren Talents Inger-Maria Mahlke. Die Erzählung verharrt, das Personal bleibt (zumindest mir als Leser) fern und echten Drive entfaltet Unsereins leider auch nicht. Insofern bleibe ich etwas enttäuscht zurück, obschon ich mich wirklich auf den Roman gefreut hatte.


  • Inger-Maria Mahlke – Unsereins
  • ISBN: 978-3-498-00181-0 (Rowohlt)
  • 495 Seiten. Preis: 26,00 €
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