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Canceln – Ein notwendiger Streit

Ein Geist geht um in Deutschland, der Geist der Cancel Culture. Diese Sätze stellte nicht nur Adrian Daub seinem jüngst im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buch Cancel Culture Transfer voran, nein auch im neuen im Hanser-Verlag erschienen Essayband Canceln (zu dem auch Daub einen Aufsatz beisteuerte) tauchen die Worte wieder auf. Diesmal greift sie der österreichische Philosophieprofessors Konrad Paul Liessmann in seinem Beitrag auf.

Und tatsächlich scheint ja wirklich ein Gespenst umzugehen. So wirklich gesehen hat es noch keiner, aber die Zeitungen sind Woche für Woche voll damit. Erst jüngst machte die Wochenzeitung Die Zeit mit der Frage auf, wie frei die Kunst überhaupt noch sei. Immer wieder entzündet sich diese Debatte über (angebliche) Verbote, die Lager stehen sich recht konträr gegenüber. Um der Frage nach einer etwaigen Cancel Culutre auf die Spur zu kommen, haben die Herausgeber*innen Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle und Georg M. Oswald ganz verschiedene Menschen des Literaturbetriebs nach ihrer Meinung gefragt. Ebenso unterschiedlich wie die Verfasser sind auch die Aufsätze, die diese zu der Sammlung beigesteuert haben und die versuchen, den amorphen Debattenbegriff etwas schärfer zu konturieren.

Ergebnis ist ein polyphones, im besten Sinne widersprüchliches Buch, das sich dem Debattenthema Cancel Culture auf verschiedenen Wegen und das das Phänomen anhand aktueller Streitthemen untersucht.


So ist schon die Eingangsfrage für viele der Beitragenden extrem strittig, eben ähnlich, wie es sich auch sonst ins Debatten zeigt. Gibt es überhaupt eine Cancel Culture? Auf alle Fälle, wenn man den Ausführungen Konrad Paul Liessmanns folgt oder den Eingangsessay von Ijoma Mangold liest, der konstatiert:

Halten wir fest: Cancel Culture meint nicht staatliche Zensur. Es geht nicht um Zensur von oben, sondern um Zensur von unten. Nicht um hierarchische, sondern um dezentrale Macht. Nicht der Obrigkeitsstaat ist das Problem, sondern das, was man früher mal das gesunde Volksempfinden genannt hat, also eine von einer starken moralischen Stimmung aufgeheizte Menge. Was in Rede steht, ist mithin ein kulturelles Klima, das ohne staatliche Durchgriffsrechte dafür zu sorgen vermag, dass Meinungen, die vom im jeweiligen sozialen Aktionsradius kulturell dominanten Milieu als unerträglich empfunden werden, keine Bühne mehr bekommen. Der Druck kommt von der Straße, und es sind dann Universitätsleitungen, Chefredaktionen, Festivalveranstalter oder Verlagshäuser, die sich ihm beugen.

Ijoma Mangold – An ihren Worten sollt ihr sie erkennen . In: Canceln, S. 11

Gibt es Cancel Culture oder nicht?

Au contraire der Kulturredakteur Johannes Schneider von Zeit online, der in seinem hemdsärmeligen und stark subjektiven Beitrag vom Ausgangspunkt eines Besuchs in Astrid Lindgrens Kindheitsstätte im schwedischen Vimmerby aus in Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt konstatiert:

Das aber ist die Realität: Kulturerzeugnisse aller Epochen sind zugänglicher denn je, man kann den ganzen Tag stummgeschaltete Winnetou-Filme laufen lassen und dazu „Layla“ hören, und kein Twitter-Mob wird des Weges kommen und „Du, du, du“ sagen. Oder man macht eine Pilgerfahrt zum Geburtshaus jener Schriftstellerin, deren schönste Bücher andere grad aus dem Regal räumen. Nichts ist gecancelt, alles ist möglich. Und ich bin der lebende Beweis.

Johannes Schneider – Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt. In: Canceln, S. 221

Überhaupt – oft sind es die Kinderbücher, von denen aus die Autor*innen auf die großen Debatten überleiten. Asal Dardan nimmt sich etwa Michael Endes Jim Knopf vor und blickt vom heutigen Standpunkt aus in Deutsche Kindheiten: Über Michael Ende und sein erstes Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf Probleme, die Lektüre heute aufwirft. Sie fragt sich im Resümee „also nicht, ob man Jim Knopf heute noch lesen darf, sondern weshalb man es überhaupt wollen würde, wenn man sich eine pluralistische Gesellschaft wünscht, in der unsere Kinder als Subjekte ernst genommen und ins Leben mit anderen als Gleiche geschickt werden sollen“ (S. 52)

Cancel Culture – von Joanne K. Rowling bis Othello

Canceln - Ein notwendiger Streit (Cover)

Adrian Daub widmet sich Harry Potter beziehungsweise dessen Schöpferin Joanne K. Rowling, die sich unter anderem Vorwürfen der Trans-Feindlichkeit ausgesetzt sieht und gerne als Kronzeugin für den Beleg einer Cancel Culture herangezogen wird. Diese Entwicklung und die Entstehung der Vorwürfe arbeitet Adrian Daub ebenso nuanciert heraus wie die Autorin Mithu Sanyal, die ihrer kindlichen Begeisterung für Enid Blyton trotz aller Stereotype und problematischen Ansichten der Autorin nachspürt. Und Literaturkritiker Lothar Müller schließlich widmet sich dem Feld des Kolonialismus und dessen Repräsentation im Kinderbuch, in dem er ein altes Buch aus seiner Kindheit noch einmal mit dem heutigen Blick liest, nämlich das 1963 erschienene Weißer Mann auf heißen Pfaden. Entdecker, Eroberer und Abenteurer im schwarzen Erdteil von Hermann Homann.

Geht es den Autor*innen dabei keinesfalls darum, die jeweiligen Autor*innen und Werke zu verbieten, so legen sie allesamt mal offensichtlichere, mal subkutanere Probleme der Lektüren und Autor*innen offen und leisten damit das Gegenteil, was Cancel Culture-Anhänger meist befürchten, nämlich Verbote und Zensur. Erfrischend, wenn Lothar Müller einfach konstatiert, dass er froh ist, dass es der Markt geregelt habe, dass man das antiquierte Buch seiner Kindheit heute nur noch umständlich erhalten könne, da die Gesellschaft heute aufgeklärter sei und der Markt für eine Verdrängung dererlei Lektüre gesorgt habe. Eine geerdete Ansicht, die eben nicht den Fehler der Nostalgie macht, wie er in Debatten um die Cancel Culture schnell Einzug findet.

Cancel Culture, ein Ausdruck falscher Nostalgie?

Denn viele der Aufsätze in Bezug auf Kinderbücher arbeiten in unterschiedlichen Ausprägung eine Erkenntnis heraus, die Adrian Daub in seinem Beitrag Your fave is problematic: Der Fall J. K. Rowling wie folgt formuliert, wenn Stimmen Probleme an Kinderbüchern mit dem Argument herunterspielen, es handele sich dabei ja „nur“ um Kinderliteratur:

Dieser Imperativ sagt etwas aus über das Problem der Nostalgie, das der Klage über die Cancel Culture immer auch innewohnt: eine hermeneutische Nostalgie, die sich eine Zeit zurückwünscht – eine höchstwahrscheinlich fiktive – in der bestimmte Aspekte von Werken, Personen, Diskursen nicht als rassistisch, sexistisch usw. ins Auge sprangen, eine Ära, in der es noch unproblematische „Faves“ geben konnte. Diese Nostalgie äußert sich aber konkret in einer unmöglichen Forderung: dass andere nicht sehen, was sie nicht nicht sehen können.

Adrian Daub – Your fave is problematic: Der Fall J. K. Rowling. In: Canceln, S. 125

Die Nostalgie und Verklärung der eigenen Lektüre, das Verschließen der Augen vor problematischen Weltbildern und der Wunsch nach einer subjektiven heilen Kindheitswelt, in Canceln tritt dieser Aspekt der Debatte in den Gedanken ganz unterschiedlicher Autor*innen deutlich hervor.

Um diese Schwerpunktsetzung der Kindheitslektüre herum gruppieren sich weitere Aufsätze, die Debatten der letzten Zeit aufgreifen und noch einmal rekonstruieren (wie dies etwa Anna-Lena Scholz in ihrem Beitrag mit dem Streit um Dieter Nuhr und dessen Beitrag zum Jubiläum der DFG macht, der schon wenige Jahre nach dem Ereignis gar nicht mehr wirklich nachvollzogen werden kann).

Daniela Strigl widmet sich der Übersetzer*innen-Debatte, die nach dem Protest in den Niederlanden gegen die Übertragung des Inaugurationsgedichts von Amanda Gorman durch eine Nicht-Schwarze Übersetzerin entstand. Jürgen Kaube beschäftigt sich mit der Inszenierungsfrage von Shakespeares Othello in unseren Tagen oder Hanna Engelmeier zeigt eine alternative Möglichkeit auf, wie man mit Texten umgehen kann, die mit unserer heutigen Weltsicht kollidieren, etwa Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo, das sie mit einem Text der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger kontrastiert und so neue Erkenntnisse gewinnt.

Cancel Culture, oftmals ein Sturm im Wasserglas?

Interessant ist die Akribie, die die Autor*innen in ihren Aufsätzen verwenden, um Fälle wie den schon genannten Fall von Dieter Nuhr und der DFG stets mit zahlreichen Quellen und Verweisen zu rekonstruieren. Viele der Debatten wurden ja höchst hitzig geführt – das aber nur über einen kleinen Zeitraum hinweg und sind heute schon von anderen Debatten längst überlagert worden, so auch etwa die Querelen um Monika Maron, die von ihrem Verlag S. Fischer nach der Publikation in einem rechten Verlagshaus keinen neuen Vertrag mehr erhielt, und bei der auch schnell von Canceln die Rede war.

22 Tage lang dauerte der Spuk, wie die Literaturkritikerin Marie Schmidt in ihrem Aufsatz zeigt. 22 Tage, dann hatte Maron einen neuen Vertrag vom Publikumsverlag Hoffmann und Campe erhalten. Ein Sturm im Wasserglas, bei dem aber auch wieder ähnliche Mechaniken zu beobachten waren, wie sie in anderen Essays herausgearbeitet werden. Spannend auch, wie sich etwa auch die Rückgriffe auf Argumente und Kronzeugen in den unterschiedlichen Lagern ähneln.

So zitieren sowohl Ijoma Mangold als auch Konrad Paul Liessmann den erst abgesagten und dann doch stattfindenden Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt Universität in Berlin oder die Kontroverse um die österreichische Kabarettistin Lisa Eckart als Kronzeugen als Beleg für eine Cancel Culture.

Johannes Schneider hingegen verweist deutlich entspannter ebenso wie Mithu Sanyal auf Astrid Lindgren, deren Südseekönig vor einiger Zeit für Aufregung sorgte. Lothar Müller benennt Kleist als Beispiel für einen aufgeklärten Umgang mit „moralisch veralteten“ Ansichten, ebenso wie sich Hanna Engelmeier für ihre Thesen auf den 1777 geborenen Kleist bezieht.

Immer wieder kommt es zu spannenden Interferenzen zwischen diesen vielstimmigen Beiträgen, die neben ihren Hauptthemen auch viele weitere Diskurse und heißblütig geführte Debattenthemen abräumen, so etwa auch die Debatten um das N-Wort oder Triggerwarnungen, zu denen die unterschiedlichen Autor*innen unterschiedliche, aber sehr bedenkenswerte Gedanken äußern.

Man mag mit vielem nicht d’accord gehen, grundsätzlich anderer Meinung sein. Aber der Widerspruch, der aus diesem Essayband strömt, würde auf diesem Niveau und dieser Differenziertheit der öffentlichen Debatte auch gut zu Gesicht stehen, abseits von albernen Schlagzeilen um verbotene Sombreros auf Bundesgartenschauen oder Ballermannhits, die jedes Niveau unterschreiten.

Cancel Culture, ein Ausdruck für die Sehnsucht akademischer Freiheit?

Persönlich halte ich das Gespenst der Cancel Culture für ein ebenjenes – ein Phantom, das den Blick auf viele wirkliche und dringend zu führende Debatten verstellt. Für die immer wieder perpetuierten Debatten um eine eingeschränkte Meinungsfreiheit und kleiner werdende Meinungskorridore an Universitäten und anderswo möchte ich fortan die Worte Anna-Lena Scholz‘ zitieren, in deren Gedanken zur hermeneutischen Figur der Cancel-Culture ich viel Bedenkenswertes gefunden habe. Ihr Verständnis der Debatten und Mechaniken, bezogen auf die angeblich bedrohte wissenschaftliche Freiheit und die Freiheit generell ist eines, dem ich mich anschließen würde.

All jene Fälle, die in den letzten Jahren als Cancel Culture gerahmt wurden, stehen aus meiner Sicht nicht für einen Niedergang der akademischen Freiheit in Deutschland. Sondern für ein drängendes Interesse dran, dass sie gelten möge. Wenn aber ungesellschaftliche Sehnsucht und juristische Norm deckungsgleich sind, dann kann es um die Möglichkeit zur Freiheit und Erkenntnisgewinnung all schlecht nicht bestellt sein.

Anna-Lena Scholz – Cancel Culture: eine hermeneutische Figur. Der Streit um die Freiheit der Wissenschaft. In: Canceln, S. 101

Fazit

Das kann man so sehen – oder eben ganz anders. Aber genau hier liegt die Qualität, weil Canceln eben nicht zu einem billigen Kompromiss gelangt, sondern das Widersprüchliche aushält und keiner Seite einen wirklichen Vorzug gibt. Das Buch steht für Differenzierung, genaue Betrachtungsweise und ein produktives Gegen- und Miteinander von Perspektiven, das aus einem Dissens erwachsen kann. Könnte Streiten nur öfter so anregend, fundiert und horizonterweiternd sein, es wäre schon viel gewonnen!


  • Canceln – Ein notwendiger Streit
  • ISBN 978-3-446-27613-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Don Winslow – City on fire

Ist das noch Troja oder schon Dogtown, dass da brennt? Zum (angeblich) letzten Mal beglückt uns Don Winslow mit einer Trilogie um Rache, Verrat, Mobster, Gewalt und Liebe. City on fire ist eine klassischen Tragödie im Gewand eines Mafiathrillers, der den Auftakt zu einer Reihe um Danny Ryan bildet. Dieser findet sich in einem verzehrenden Kampf zwischen italienischer und irischer Mafia wieder. Nicht ganz so voluminös wie Winslows Zyklus um den DEA-Agenten Art Keller und dessen Kampf gegen das mexikanische Kartell, aber auf dem erfreulich hohem Niveau, das er zuletzt nach den Tiefschlägen mit seinem Kurzgeschichtenband Broken wieder erreichte.


In letzter Zeit machte Don Winslow eher auf dem Feld der Social-Media-Kommunikation denn literarisch von sich reden. Mit seinen Kurzfilmen griff er in den US-Wahlkampf ein, twitterte und positionierte sich lautstark gegen die Politik Donald Trumps. Auch in seinem letzten, 2019 erschienenen Teil der Art-Keller-Trilogie ließ er Trump, dessen Schwiegersohn Jared Kushner und den Rest des damaligen republikanischen Regierungsapparat kaum verfremdet auftreten und zog dabei mächtig vom Leder, um die Bigotterie und Korruption im System mithilfe des fiktionalen Thrillers aufzuzeigen.

Seine politische Positionierung und klaren Ansichten etwa der amerikanischen Einwanderungspolitik an der Grenze zu Mexiko führte er auch in seinem zuletzt veröffentlichten Kurzgeschichtenband Broken fort. Und auch künftig gedenkt Winslow dieses politische Engagement nicht ruhen zu lassen, vielmehr will er seine schriftstellerische Karriere zugunsten der Verhinderung einer Wiederwahl Donald Trumps aufgeben, wie jüngsten Pressemeldungen zu entnehmen war.

Der Auftakt zu Winslows letzter Trilogie

Bis es nun aber soweit ist, gibt es mit City on fire den Auftakt seiner vielleicht letzten Trilogie zu lesen, die sich wieder etwas von der politischen Agenda Winslows entfernt. Denn anstelle von der gegenwärtigen Politik und Gesellschaft zu erzählen, begibt sich der Autor fast vierzig Jahre zurück, nämlich ins Jahr 1986, genauer gesagt in den August jenes Jahres.

Don Winslow - City on fire (Cover)

Alles beginnt mit einem Clambake, also einem Zusammentreffen beim italienischen Padrone Pasco Ferri am Goshen Beach in Rhode Island. Wenn Ferri einlädt, dann kommen sie alle, egal ob irische oder italienische Mobster. Man trifft sich bei gegrillten Meeresfrüchten und Bier, badet und parliert am Strand.

Es sind friedliche Treffen, genauso wie es eigentlich friedliche Zeiten im kriminellen Milieu sind. Iren und Italiener haben sich miteinander arrangiert, es herrscht der Zustand einer friedliche Co-Existenz. Die Iren kontrollieren die Gewerkschaften und den Hafen, die Italiener Drogen und Glücksspiel. Alles könnte eigentlich in bester Ordnung sein. Doch Ferris Einladung zu seinem Clambake ist neben den jeweiligen Sprösslingen der Anführer auch Pam gefolgt, die neue Freundin von Paulie Moretti. Sie verdreht mit ihrem Sexappeal und Aussehen sämtlichen Männern und Frauen am Goshen Beach den Kopf.

Danny Ryan sieht die Frau dem Wasser entsteigen, sie taucht auf wie ein Bild aus seinem Traum vom Meer, wie eine Vision. Nur dass sie real ist und es wegen ihr Ärger geben wird.

Wie meistens mit schönen Frauen.

Danny weiß das; nur ahnt er nicht, was für einen Wahnsinnsärger diese hier lostreten wird. Wüsste er, was passieren wird, würde er vielleicht zu ihr in die Wellen waten und ihren Kopf unter Wasser drücken, bis sie sich nicht mehr rührt.

Aber er weiß es nicht.

Don Winslow, City on fire, S. 11

Eigentlich ist Pam, die hier Botticelli-gleich den Fluten entsteigt, die Freundin von Paulie Moretti, dem Sohn des italienischen Paten. Doch auch bei Liam Murphy, dem Sohn des irischen Paten, weckt Pam Begehrlichkeiten. Er spannt Paulie Moretti seine Freundin aus – und setzt damit eine blutige Dominokette in Gang. Denn den Verlust seiner Freundin kann und will Moretti nicht hinnehmen, und so entspinnt sich ein tödlicher Kampf, in dem Autobomben und Drive-by-Shootings, viele Tote und noch mehr Leid zu beklagen sind.

Klassischer Tragödienstoff

Es ist ein klassischer Tragödien-Stoff, den Winslow hier verarbeitet. Der Kampf zweier Männer um eine Frau, der anschließende Krieg, Täuschungsmanöver und Verrat mit sich bringt und ganze Reiche in den Abgrund reißt. Die Themen sind die immergleichen, egal ob Trojanischer Krieg oder der Kampf um Dogtown in Rhode Island. Mögen sich auch die Mittel und Worte unterscheiden, die Konflikte, sie bleiben doch gleich. Und so setzt Winslow seinen verschiedenen Kapiteln auch Zitate etwa von Homers Ilias oder Virgils Aeneis voran, um das Klassische seines Stoffs hervorzuheben. Das ist zwar in seiner Überdeutlichkeit nicht besonders subtil, für die ganz feinen Zwischentöne sollte man aber eh zu anderen Autor*innen denn Winslow greifen.

Wo bei Homer das Versmaß und die Abgewogenheit in Form und Inhalt herrschte, so geht Winslow literarisch durchaus rustikaler zu Werke. In der für ihn so typischen atemlos hetzenden Prosa (abermals von der verdienten Winslow-Übersetzerin Conny Lösch ins Deutsche übertragen) beschreibt er die eskalierende Gewalt in Rhode Island, reißt kurz, aber wirkungsvoll die Hintergrundgeschichten seiner Figuren an, lässt seine Figuren und damit die Leser*innen kaum zur Ruhe kommen und kegelt seine Figuren schnell wieder vom literarischen Spielbrett, nachdem er sie zu Beginn sorgsam platziert hat.

Das hat einen enormen Drive, ist mitreißend geschildert und lässt durch den gut gesetzten Cliffhanger am Ende des ersten Buchs schnell auf das zweite Buch namens City of Dreams hoffen, dessen in Kalifornien spielender Beginn schon als Leseprobe dem ersten Teil beigefügt ist. Geht es auf diesem Niveau weiter, wäre der Entschluss Winslows zum Ende als Schriftsteller zugunsten seines politischen Engagements wirklich bedauerlich. Hier schreibt ein echter Könner, der die Welt der amerikanischen Mobster eindrücklich zu schildern weiß und dessen Ideen der Überführung eines antiken Tragödienstoffs ins Mafiamilieu der 80er Jahre plausibel aufgeht.


  • Don Winslow – City on Fire
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-7499-0320-7
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
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