Malaysia ist ja ein literarischer Schauplatz, der uns westlich geprägten Leser*innen eher selten unterkommt. Mit Nachttiger ist nun Literatur von dort zu entdecken, die zurück in die 30er Jahre führt, als Malaysia noch Britisch-Malaya hieß. Die gebürtige Malayin Yangsze Choo entführt in ihrem ersten auf Deutsch vorliegenden Roman in Tanzhallen, Pathologie-Säle und auf die Spuren einer äußerst lebendigen Legende.
Es ist der letzte Wille seines Hausherren, der den jungen Ren auf eine Mission schickt. Der Zehnjährige verdingte sich im Haus von Doktor MacFarlane als Hausboy, der sich um Essen, Reinigung und das Wohlergehen seines Chefs kümmerte. Doch nun ist Doktor MacFarlane tot. Auf dem Totenbett hat er Ren mit seinem letzten Willen betraut. Er soll den amputierten Finger des Doktors auftreiben und dafür sorgen, dass dieser mit der Leiche MacFarlanes beerdigt wird. Ihm bleiben 49 Tage Zeit, ehe die Leiche seines Herren in die Totengründe eingeht.
Derweil verdingt sich Ji Lin heimlich in Ipoh einem Tanzsalon. So will sie dazu beitragen, die Spielschulden ihrer Mutter abzustottern. Von ihrer Nebentätigkeit darf niemand etwas erfahren, denn eigentlich ist sie in einer Schneiderei zur Lehre angestellt. Für ihren Stiefvater steht eh schon fest, dass Ji Lin sich lieber mit dem richtigen Partner verloben sollte und dann als Ehefrau ihr Glück finden soll.
Tatsächlich findet Ji Lin beim Tanzen aber etwas ganz anderes: einen abgetrennten Finger in einem Glas. Ist es der Finger, den Ren dem Grab von Doktor MacFarlane zuführen soll?
Auf der Jagd nach einem Finger
Yangsze Choo hat einen Roman geschrieben, der mit leuchtenden Farben das Leben in Britisch-Malaya in den 30er Jahren wieder aufleben lässt. Britische Ex-Pats, die Partys geben und trotzdem nicht so richtig im Land angekommen sind. Houseboys und andere einheimische Angestellte, die für die Briten sorgen. Tanzhallen, Monsunregen und Legenden aus dem Diesseits, die die Malayen umtreiben.
Aus diesen Zutaten mischt Choo ihren Roman und reichert ihn mit einer Liebesgeschichte um Ji Lin an. Eine Liebesgeschichte, die ich für etwas überflüssig erachte und die das Buch seichter als nötig macht. Denn in meinen Augen fällt dieser Part des Buchs etwas gegen die restlichen, sehr starken Elemente des Buchs ab. Die Suche nach dem Finger, die Legende des Wer-Tigers, der immer wieder Opfer fordert und ein Krimiplot, der zu einem rasanten Showdown führt – da hätte es die Lovestory on top nicht unbedingt gebraucht. Abgesehen von dieser Liebesgeschichte und ein paar erzählerischen Längen ist der Nachttiger aber ein wirklich runder und guter Unterhaltungsroman geworden.
Irgendwo zwischen Colin Cotterills Dr. Siri-Reihe und Puccinis Miss Butterfly nimmt Yangsze Choo Platz und erzählt eine Geschichte, bei der sowohl der Inhalt als auch die klar unterscheidbaren Erzählstimmen der Ich-Erzählerin Jin Lin und des in der 3. Person Präsens erzählten Strang um Ren überzeugen. Darüber hinaus bietet die Erzählung Exotik integriert auch Übersinnliches, wodurch das Buch gewinnt.
Allein warum man den im Buch beständig Wertiger genannten Tiger im Titel des Buchs plötzlich zum Nachttiger macht, das bleibt wohl das Geheimnis von Autorin und Verlag. Übersetzt wurde das Buch aus dem Englischen von Heike Reissig und Stefanie Schäfer.
- Yangsze Choo – Nachttiger
- Aus dem Englischen von Heike Reissig und Stefanie Schäfer
- ISBN 978-3-336-54807-1 (Wunderraum)
- 576 Seiten. Preis: 22,00 €