Kann die Diplomatie die Welt zum Besseren wenden oder gar überhaupt etwas bewirken? Diese Frage, die gerade angesichts von Krieg und angestrebten Friedensverhandlungen so aktuell wie drängend ist, sie beschäftigt auch Lucy Fricke in ihrem neuen Roman Die Diplomatin (zuletzt von ihr der mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnete Roman und jüngst verfilmte Töchter).
In ihrem neuen Buch schickt sie die Diplomatin Fred in den auswärtigen Dienst und lässt sie an den herrschenden Verhältnissen verzweifeln. Großartig geschriebene und mehr als relevante Literatur in diesen Tagen.
Fred hat sich mit Ironie und Abgeklärtheit gegen die Unzulänglichkeit des diplomatischen Dienstes gewappnet. Sie wurde nach Urugay abgeordnet, 16 Flugstunden von Deutschland entfernt, wo sie Deutschland repräsentieren und nach außen wirken soll.
Es hieß, der Minister persönlich habe mich nach oben geschossen. Mit Ende vierzig ein Posten als Botschafterin, das galt bei uns als kleine Sensation. Es hieß auch, es gebe kaum genügend kompetente Frauen, um die Quote zu erfüllen. Endlich das richtige Geschlecht, dachte ich. Nach jahrzehntelangen Kämpfen und fast zwanzig Jahren im Amt endlich den Nachteil zum Vorteil gekehrt. Ausgerechnet ich: Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin, aufgewachsen in einem Hamburger Arbeiterviertel , zu einer Zeit, in der es solche Begriffe noch gab.
Lucy Fricke – Die Diplomatin, S. 13
So etwas wie Freunde gibt es selten im Auswärtigen Amt. Mit Philipp, einem langgedienten Kollegen, verbindet sie so etwas, das man als Freundschaft bezeichnen könnte, ansonsten ist es gerade mal die sporadische Konversation mit ihrer Mutter, die Fred in ein soziales Netz einfügt. Sie ist ledig, flexibel und versucht sich, den entsprechenden Gegebenheiten vor Ort anzupassen. In Urugay bedeutet das, Grillwürstchen für Feierlichkeiten am 3. Oktober zu organisieren, in Fragen wie Livemusik oder Hymne vom Band zu entscheiden, und sonst nicht viel Staub aufzuwirbeln. So recht gelingt es ihr allerdings nicht, denn als eine deutsche Touristin vor Ort verschwindet, erhält die glänzende Karriere von Fred einen ersten Kratzer, vor allem da die Mutter der Touristin über Einfluss und Macht verfügt.
Von Urugay nach Istanbul
Sie findet sich in Istanbul wieder, einer Stadt die sie überfordert, vor allem angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse. Journalisten und Oppositionelle werden in Scheinprozessen verurteilt, der Vorwurf der „Terrorpropaganda“ findet geradezu inflationär Anwendung, wenn es darum geht, missliebige Personen des öffentlichen Lebens unschädlich zu machen. Das bekommt Fred als Konsulin aus nächster Nähe zu spüren, als sie sich für eine inhaftierte deutsch-kurdische Kuratorin und deren Sohn einsetzt.
Meral, eine deutsch-kurdische Kuratorin, eine Kunsthistorikerin, die brillante Texte verfasste und bekannt dafür war, in ihren Ausstellungen alles zu zeigen, aber nichts offen zu sagen.
Meral war ein leerer Raum, in dem sich die Welt zum Tee getroffen und jeder etwas zurückgelassen hatte, manche auch Bilder. Bilder, die die hiesige Regierung nicht sehen wollte, deren bloße Existenz schon als Attacke galt. Eine verbotene Flagge, ein geleugnetes Massaker, eine Wirklichkeit, die kein Zeugnis duldete. Wenn man dieses auch noch gerahmt präsentierte, wurde aus Kunst Terrorpropaganda.
Lucy Fricke – Die Diplomatin, S. 89
Hier in Istanbul bekommt Fred ihre eigene Ohnmacht und politische Wirkungslosigkeit in aller Härte vor Augen geführt. Der Staat verbittet sich Einmischungen von außen, außer einem Kunstmagazin oder anderen Kleinigkeit darf Fred nichts zu den Inhaftierten mitbringen, sich nicht in den Prozess einmischen, nur im Zuschauerraum den Prozessen beiwohnen. Ein Sinnbild für ihr ganzes politisches Wirken in der Türkei, bei dem sie gefühlt ständig auf der Ersatzbank sitzt und zum Zuschauen verdammt ist.
Von der Hilflosigkeit der Diplomatie
Ihre eigene Hilflosigkeit als ranghohe Diplomatin bekommt sie hier eindrücklich vor Augen geführt. Im Angesicht von politischer Willkür, staatlichen Übergriffigkeiten, Regellosigkeit und Unterdrückung gibt es für die Diplomatin wenig zu gewinnen. Und dennoch mag sich Fred nicht mit ihrer Ohnmacht begnügen, was zu einer waghalsigen Aktion führt, die so vom diplomatischen Protokoll sicherlich nicht gedeckt ist. Hier zeigt sich, dass Diplomatie auch manchmal ein Kampf mit den eigenen Werten und Überzeugungen sein kann, bei dem sich Fred gegen ihre eigenen Vorschriften und Verhaltensweisen stellt, um das Richtige zu tun.
Aber auch über diese Aktion hinaus wirft Lucy Frickes Buch viele Fragen auf, die so aktuell wie wohl nie sind. Welchen Sinn hat die Diplomatie, wenn Staatenlenker sich ihr verschließen und lieber auf Willkür und Oppression setzen? Was kann ein einzelner Mensch als Repräsentant eines Staates überhaupt bewirken? Zeigt Die Diplomatin und die aktuellen Geschehnisse nicht ganz deutlich unsere westliche Hilflosigkeit gegenüber Despoten und Diktaturen auf? Ergibt es Sinn, auf die Kraft der Diplomatie zu setzen, wenn sich andere ihr verschließen?
Fragen an uns und unsere Demokratie
Die Aktualität ihres Buch dürfte Lucy Fricke so nicht vorhergesehen haben, aber selbst wenn man die augenfälligsten Entwicklungen in der Ukraine und Russland ausblendet, bleibt Die Diplomatin immer noch ein mehr als relevantes Buch, das uns und unserer Demokratie unbequeme Fragen stellt. Wie umgehen mit Staaten wie der Türkei, im Angesicht von Schauprozessen gegen Osman Kavala, Deniz Yücel oder Meşale Tolu? Wie können wir auf Staaten einwirken, die Presse- und Meinungsfreiheit drastisch einschränken und freien Journalismus beschneiden und zensieren?
Für Die Diplomatin spricht in meinen Augen, dass nach der Lektüre alle diese Fragen in meinem Kopf umhergeisterten und von billigen Antworten oder Antwortversuchen im Buch jede Spur fehlt.
Verlockt auch der tückische Anfang mit seiner sonnendurchfluteten Ironie und Bonmot-getränkten Coolness auf falsche Fährten, ändert sich spätestens mit dem Verschwinden der Touristin und dem neu ansetzenden türkischen Erzählteil in diesem Roman alles. Lucy Fricke gelingen ganz unterschiedliche Teile, die ihre Nahaufnahme von politischem Wirken im Ausland und die in ihrer Abgeklärtheit und gleichzeitigen Hilflosigkeit bestechend gelungene Ich-Erzählerin Fred.
Ähnlich wie etwa Nora Bossong in Schutzzone oder Robert Menasse in Die Hauptstadt (und dankenswerterweise nicht so wie Sönke Wortmann) erzählt Lucy Fricke von Menschen, die Politik machen oder die vielleicht auch von der Politik gemacht werden. Ihr gelingt ein Buch, das man wohl auch mit der Phrase des „Buchs der Stunde“ beschreiben könnte, wäre dieser Termins nicht schon so abgenutzt und schal geworden. Die Diplomatin ist glänzend geschrieben, gesellschaftlich und politisch höchst relevant, vereint Ambition und Position und ist eines jener Bücher, aus denen man seitenweise zitieren möchte.
Fazit
Für mich ist das Literatur, wie ich sie mir wünsche. Engagiert, mit einem genauen Blick auf die (politischen) Verhältnisse und noch dazu literarisch überzeugend mit einer Heldin im Mittelpunkt, die sich mit Ironie und Distanziertheit gegen die Unzulänglichkeiten der Welt gepanzert hat, und die doch feststellen muss, dass die Lage der Welt empfindliche Löcher in diesem Panzer verursacht hat. Aktueller war gute Literatur in letzter Zeit selten.
- Lucy Fricke – Die Diplomatin
- ISBN 978-3-546-10005-2 (Claassen)
- 256 Seiten. Preis: 22,00 €