Yuko Kuhn – Onigiri

Familie, Migration und die Frage nach Identität sind Themen, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur scheinbar schon bis zur Erschöpfung verhandelt hat. Yuko Kuhn bearbeitet den Themenkomplex in ihrem Debüt Onigiri nun ein weiteres Mal – und findet einen unverbrauchten Zugang zum Thema. Denn in ihrem kurzweiligen Buch steht eine Familie zwischen Gestern und Heute, Erinnerungen und Vergessen, Aufbruch und Tradition, vor allem aber zwischen Japan und Deutschland im Mittelpunkt.


Neun Tage, so lange will die Erzählerin Aki noch einmal mit ihrer Mutter Keiko von Deutschland aus zurück nach Japan fliegen, das Land ihrer Vorfahren. Einst kam Keikos Mutter nach Deutschland, um sich vor Ort zur verlieben, Japan den Rücken zu kehren und fortan nur noch sporadisch mit ihren Verwandten in Kontakt zu stehen. Doch dann kommt die Nachricht, die alles durcheinanderwirbelt und Aki die Flüge buchen lässt.

Yasuko lebt nicht mehr. Sie ist einfach gestorben und wir haben es gar nicht gemerkt. Meine Mutter hat irgendwann aufgehört, ihre Familie in Japan anzurufen, erst war sie zu müde, dann wurde sie über die Jahre zu vergesslich dafür. Es kommen auch schon lange keine Pakete mit getrockneten Algen mehr. Yasuko lebt sicher noch, sagte meine Mutter immer, sonst hätte ihr Bruder sich auf jeden Fall bei ihr gemeldet.

Yuko Kuhn – Onigiri, S. 9

Sie lebt aber eben doch nicht mehr, nur hat es die Nachricht von Japan lange Zeit nicht nach Deutschland geschafft, sodass die Nachricht jetzt umso überraschend und emotional unmittelbarer bei Keiko eintrifft. Zusammen mit ihrer mittlerweile in einem Wohnstift lebenden, stark dementen Mutter bricht sie per Flugzeug in Richtung Osaka auf, um Abschied von ihrer Mutter und Großmutter zu nehmen – und sich zu erinnern.

Wieder einmal zeigt sich dabei, dass eine Reise zwar weit weg führen kann, sie doch auch immer eine Reise zu sich selbst ist. In Akis Fall lernt sie durch den Trip nach Japan ihre Wurzeln und die Verbindung ihrer Mutter zu diesem Land kennen, aus dem sie vor vielen Jahren aufgebrochen ist, um in Deutschland eine Familie zu gründen.

Ein Roman als Erinnerungs-Kintsugi

Yuko Kuhn - Onigiri (Cover)

Onigiri ist ein Buch, das das Erinnern als eine Art literarisches Kintsugi betreibt. Jene japanische Kunst veredelt zuvor zerbrochene Keramik- und Porzellangefäße mit einer speziellen meist goldhaltigen Mischung, sodass Scherben wieder zu einem ganzen Kunstwerk mit einem neuen, unverwechselbaren Aussehen werden.

Ein ganzes Stück weit betreibt auch Yuko Kuhn mit ihrem Text ebenfalls diese Kunst. Denn durch Akis Reise und die dadurch freigelegten Erinnerungen taucht sie tief in jene Welt ein, die für ihre demente Mutter nur noch in Teilen und Splittern besteht. Nicht nur, dass die gemeinsame Reise langsam ein zuvor nur in Bruchteilen bestehendes Bild ihres eigenen Mutter und deren Leben zwischen Japan und Deutschland zusammenfügt – und arbeitet Aki damit für die eigene Familie den schwindenden Erinnerungen entgegen, die die Erzählung ihrer Familie und damit auch das Wissen um die eigenen Wurzeln bedroht.

Darüber hinaus finden weitere familiäre Splitter in Onigiri zusammen. Da ist Keikos Mann und Vater von Aki und ihrem Bruder Kenta, von dem sich ihre Mutter schon vor Jahren getrennt hat. Da ist die Kluft zwischen ihrer eigenen Mutter und den nobel-distanzierten Schwiegereltern, die zur Oberschicht gehören, alle typischen Ingredienzien von Villa bis zu Montblanc-Füllern als Geschenk inklusive – oder auch die Frage, warum ihr Bruder so ganz anders als Aki selbst ist und einen anderen Lebensentwurf gewählt hat.

Brüche, Unterschiede und Differenzen

Das Unverständnis jener Schwiegereltern für die Beziehung, die selbstgewählte Distanz zu ihrer eigenen Heimat, die Schwierigkeiten einer Anpassung im fremden Land und eine Elternschaft in Trennung, all das ruft das Erzählen in diesem Text wach, während sich Aki und Keiko durch das Land ihrer Familie und Vorfahren bewegen und ihre japanische Familie noch einmal neu kennenlernen.

Voller Brüche, Unterschiede und Differenzen sind die Leben und Biografien, die die Erzählerin betrachtet und mit ihrem Erinnern und den Schriftzeichen ein Stück weit überwindet, heilt und veredelt, ganz wie die japanische Kunst der Porzellanreparatur.

So wird diese Suche nach Identität und Herkunft, Erinnerung und Bewahrung dieser Erinnerung zu einer gelungenen Reise und einem gelungenen Roman, mit dem Yuko Kuhn debütiert. Viele Themen klingen in dem mit japanischen Begriffen gegliederten Roman an, dem es gelingt, den eingangs erwähnten und vielfach bearbeiteten Themen von Familie, Herkunft und Identität doch auch neue Facetten abzuringen und so zu überzeugen.


  • Yuko Kuhn – Onigiri
  • ISBN 978-3-446-28311-4 (Hanser Berlin)
  • 207 Seiten. Preis: 23,00 €

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