Monthly Archives: Juli 2021

Helga Schubert – Vom Aufstehen

Erinnerungssplitter

Es wird viel geklagt über Corona und den Wegfall von Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Miteinander – und das völlig zurecht. Die Folgen der Pandemie sind gravierend – und momentan noch gar nicht reell abschätzbar. Allerdings bietet Corona auch Vorteile und Chancen. Eindrücklichstes Beispiel hierfür der Fall von Helga Schubert und ihrer Teilnahme am Bachmannpreis.

Denn eigentlich war das mit dem Preis und der Autorin mehr als unwahrscheinlich. Schon einmal hätte sie zu DDR-Zeiten beim Wettbewerb antreten sollen, durfte dann auf Geheiß der DDR-Führung allerdings nicht teilnehmen. Zwar wurde ihr dann 1987 bis 1990 die Ehre zuteil, als Kritikerin Teil der Jury des Preises zu sein. Aber noch einmal eine zweite Chance bei diesem Wettbewerb auf Teilnehmerseite? Das schien mehr als unwahrscheinlich.

Zu weit weg das Wettlesen am Wörthersee, da sie in Mecklenburg-Vorpommern zusammen mit ihrem pflegebedürftigen Mann lebt. Zu alt mit ihren 80 Jahren für das normalerweise recht junge Teilnehmerfeld (sogar den Rekord für die älteste Teilnehmerin überhaupt stellte sie damit auf). Und doch gewann die Autorin den Preis – dank der Verlegenheitslösung, die der Preis 2020 versuchte. Denn anstelle einer Präsenzveranstaltung wurde der Preis digital durchgeführt. Die Juror*innen saßen zuhause, die Lesungen wurden voraufgezeichnet. So konnte auch Helga Schubert beim Wettlesen mitmachen – und gewann unter großem Medieninteresse den Preis. Nun, ein Jahr nach dem Bachmannpreis liegt ihr Werk Vom Aufstehen vor. Auf eine Gattungsbezeichnung hat der Verlag verzichtet. Stattdessen prangt der Untertitel Ein Leben in Geschichten auf dem Cover.

Kurze Erinnerungen und Eindrücke

Und das trifft es ganz gut. Wobei viele der sogenannten Geschichten für mich gar keine Geschichten sind. Eher würde ich von Erinnerungs- und Gedankensplittern reden. Teilweise sind die Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, nicht einmal eine Seite lang. Die kurze Form dominiert, nur wenige Geschichten sind länger als drei bis fünf Seiten – beispielsweise die ans Ende gesetzte titelgebende Erzählung Vom Aufstehen, die Schubert den Bachmannpreis eintrug.

Helga Schubert - Vom Aufstehe (Cover)

Und jetzt begehe ich zu Beginn gleich den Frevel: trotz aller Meriten, Lobeshymnen und Nominierungen finde ich es auf literarischer Ebene eher schwach. Einen eigenen Sound hat Helga Schubert in meinen Augen nicht, eine besondere literarische Bearbeitung oder Überformung ihres Materials findet sich in diesem Buch nicht. Natürlich kann man einwenden, dass diese Kunstlosigkeit auch Kunst ist. Aber eine unverwechselbare Stimme konnte ich in den Erzählungen nicht entdecken. Klar fokussiert sind die Geschichten auch nicht immer und mäandern thematisch hin und her, etwa die Erzählung Vom Erinnern.

Hier wandert Helga Schubert von einem Besuch in Bad Kleinen zum dortigen GSG9-Einsatz, bei dem RAF-Mitglieder festgenommen werden sollten. Davon kommt sie zu einem Treffen mit ihrem Lektor an ihrem Wohnort in Mecklenburg, von wo aus sie zum Suizid eines benachbarten Bauern schweift, ehe es um Besucher aus dem Westen kurz nach dem Mauerfall geht, ehe sie wieder zu den Beschreibungen ihrer Heimat zurückkehrt. Und auch wenn die Geschichte vom Erinnern handelt und das Sprunghafte, Assoziative in den Mittelpunkt stellt, so hat mich diese Art des Erzählens nicht überzeugt. Auch irritierten mich die Anschlüsse und Bezüge der Geschichten, etwa wenn Schubert in der Schlussgeschichte Vom Aufstehen vieles zuvor Erzählte einfach noch einmal wortwörtlich aufgreift und wiederholt. Hier hätte eine Überarbeitung notgetan. Kurzum: dieses Erzählen überzeugte mich auf der Mikroebene leider nicht.

Ernüchterung auf Mikroebene, Faszination auf Makroebene

Anders hingegen auf der Makroebene – denn hier entfaltet das Buch seinen ganzen Reiz. Die Vielzahl von Erinnerungen, Gedankensplittern und Anekdote ergibt zusammen das Porträt einer faszinierenden Frau, an deren Leben sich die gesamten Bruchlinien der jüngeren deutschen Geschichte ablesen lassen. Flucht, Vertreibung, das schwierige Verhältnis mit der eigenen Mutter. Die Erfahrungen als regimekritische Autorin in der DDR, das literarische Leben dort, die Umstellungen nach der Wende. All das thematisiert Vom Aufstehen über die einzelnen Erzählungen hinweg und verschafft dem Leser und der Leserin einen Eindruck von dem, was man sonst mit dem schmalen Wort Lebensleistung erschlägt.

In Schuberts Leben (oder dem, das sie uns erzählt) wird offenbar, welche tiefgreifenden Wechsel der Systeme hin von der Nachkriegszeit hin in die Gegenwart und von der DDR hin zur Bunderepublik für die Menschen bedeutete. Auch eingedenk der Debatten im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit und die Frage nach der tatsächlichen Einheit von Ost und West kann Schuberts Prosa mitreden und mit Persönlichem die Debatte bereichern. So besitzt Vom Aufstehen gesellschaftliche und zeithistorische Relevanz, die mich mit dem eher schmalen literarischen Gehalt des Buchs versöhnte.

Weitere Meinungen zu diesem Buch gibt es unter anderem bei Aufklappen, masuko13 und Zeichen&Zeiten.


  • Helga Schubert – Vom Aufstehen
  • ISBN 978-3-423-28278-9 (dtv)
  • 221 Seiten. Preis: 22,00 €
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Salvatore Scibona – Der Freiwillige

Vom Dschungel Vietnams bis nach Hamburg. In seinem Roman Der Freiwillige spannt Salvatore Scibona einen weiten Bogen – und scheitert an den eigenen Ambitionen.


Dabei ist der Auftakt zu Scibonas zweitem Roman (zuletzt „Das Ende“, erschienen 2012 bei Arche) durchaus vielversprechend. Ein Junge steht menschenverlassen auf dem Hamburger Flughafen, keine Spur von Erziehungsberechtigten. Die Ermittlung der Identität des Jungen stellt sich als schwierig heraus. Von dort aus springt der Roman dann einige Jahrzehnte zurück, um im ersten Teil die Geschichte von Vollie zu schildern.

Salvatore Scibona - Der Freiwillige (Cover)

Dieser meldet sich als Freiwilliger für den Vietnamkrieg und verlängert sein Engagement dort sogar noch einmal. Er gerät in Kriegsgefangenschaft und erlebt den Wahnsinn des Kriegs hautnah mit. Später wird er nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst auf eine Spionagemission geschickt. In Queens soll er den Verbleib eines Mannes herausfinden. Sollte er erfolgreich sein, erwartet ihn eine finanzielle Entlohnung. Doch bis sich diese Geschichte mit der des verlassenen Jungen auf dem Hamburger Flughafen verbindet, wird noch einige Zeit vergehen.

Es sind durchaus vielversprechende Zutaten, die Salvatore Scibona für seinen Roman verwendet. Schilderungen des Vietnamkriegs, die Frage von familiärer Verbundenheit, der Blick auf das gesellschaftliche Leben abseits des öffentlichen Interesses. All das spielt in dem Buch eine Rolle, mag sich aber nicht zu einem überzeugenden Ganzen verbinden.

Ein Buch, das den Fokus verliert

Beginnt das Buch mit einer klaren Schlagrichtung, nämlich den Schilderungen des Kriegs in Vietnam, verliert sich dieser Fokus bereits nach dem ersten Teil. Scibona springt zurück nach Hamburg, erzählt von dem Jungen, der unter die Fittiche eines Priesters genommen wird. Dann ändert er den Erzählfokus, rückt Vollie (der inzwischen seine Identität bereits zum ersten, aber nicht letzten Mal gewechselt hat) an den Rand der Erzählung. Er beendet den Teil um die Spionageerzählung, um dann weiter zu einer Kommune in New Mexico zu springen. Vollie, sein Sohn, der Junge in Hamburg – immer mehr lösen sich die Erzählstrukturen auf, enden oftmals wahllos und in großer Beliebigkeit. Viele eingeführte Konflikte enden im Nichts, immer zielloser wird dieser wild mäandernde Erzählstrom. Auch bleiben die meisten Figuren völlig unkonkret, obwohl Scibona viel Zeit zur Schilderung dieser verwendet.

Das ist schade, denn so bleibt bei mir der Eindruck eines Buchs, bei dem deutlich mehr dringewesen wäre. Schon die Schilderungen des Kriegs in Vietnam wirken eingedenk einer Fülle an Filmen und Romanen überholt. Andere Schriftsteller haben gezeigt, wie man heute modern und mit Erkenntnisgewinn von diesem Krieg erzählen kann. Scibona wirkt hier etwas antiquiert und fällt ästhetisch hinter ein solches Erzählen zurück. Und da dieser Teil der überzeugendste des Buchs ist, bekommt man eine Ahnung, wie der Rest dieses Romans versandet. Zwischen all den Identitäts-und Schauplatzwechseln stellte sich bei mir eine Müdigkeit ein, die ein guter da fokussierter Roman so hätte nicht entstehen lassen.

Das ist schade, denn mit einer klareren Stoßrichtung, einer prägnanteren Figurenzeichnung und einer überzeugend durchgeführten Entwicklung hätte aus Der Freiwillige ein echter Klassiker werden können. So bleibt Scibonas Roman weit hinter seinen Möglichkeiten zurück und erzeugte zumindest bei mir etwas Ratlosigkeit ob der erzählerischen Orientierungslosigkeit.


  • Salvatore Scibona – Der Freiwillige
  • Aus dem Englischen von Bettina Arabarnell und Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1383-5 (Berlin-Verlag)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €

Titelbild: „1968 Helicopter Lands Jungle Clearing US Soldiers Vietnam War UPI Photo“ by manhhai is licensed under CC BY 2.0

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