Bram Stoker – Das Geheimnis der See

Ein geheimnisvoller Code, ein nicht minder geheimnisvoller Schatz, Geheimgänge, eine große Liebe und viel Pulverdampf. Das alles bietet Das Geheimnis der See, ein hierzulande weitgehend unbekannter Abenteuerroman des Dracula-Erfinders Bram Stokers. Dank des Übersetzers Alexander Pechmann und des Mare-Verlags lässt sich dieses Buch nun auch im Deutschen entdecken.


Man könnte schon ahnen, dass es nicht ganz mit rechten Dingen zugeht, wenn sich auf den ersten Seiten eines Buchs der Vorhang hebt und eine solche Szene wie die folgende preisgibt:

Ich war gerade erst in Cruden Bay angekommen, wo ich, wie jedes Jahr, meinen Urlaub verbrachte, und saß nach einem späten Frühstück auf einer niedrigen Mauer an der Böschung der Brücke, die über den Fluss Water of Cruden führte. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im Schatten der einzigen kleinen Baumgruppe der Umgebung, stand eine große, hagere alte Frau, die mich immerzu aufmerksam anstarrte. Im nächsten Moment gingen ein Mann und zwei Frauen an mir vorbei. Mein Blick folgte ihnen unwillkürlich, und nachdem sie sich ein Stück weit entfernt hatten, glaubte ich zu sehen, dass die beiden Frauen nebeneinander einherschritten, während der Mann allein voranging und eine kleine schwarze Kiste auf der Schulter trug – ein Sarg.“

Bram Stoker – Das Geheimnis der See, S. 11

Hier ist er, jener Bram Stoker, der mit Dracula eine der stilprägenden Figuren des Horrorgenres schuf, die bis heute ihren Einfluss auf die Popkultur ausübt. Auch in seinem fünf Jahre nach dem Blutsauger-Meilenstein entstandenen Werk Das Geheimnis der See (1902) ist der Grusel vorhanden. Allerdings tritt er nach dem eindrücklichen Beginn des Romans hinter die „realistischere“ Erzählhaltung des übrigen Romans zurück. So ist die Szene mit dem Sarg der Auftakt zu weiteren morbiden Geschehnissen, die sich in Cruden Bay ereignen.

Grusel in Cruden Bay

Bram Stoker - Das Geheimnis der See (Cover)

Denn nicht nur, dass tatsächlich ein Kind stirbt, nachdem die Erwachsenen den kleinen Sarg durch das schottische Küstenstädtchen getragen haben. Ein weiterer Mann kommt kurz darauf in der Nacht zum sogenannten Lammas-Tag, dem 1. August, ums Leben. Bei diesem Tag handelt es sich im keltischen Brauchtum um den Tag, der den Übergang zum Herbst markiert. Auch jenen Toten sah Archibald Hunter noch kurz zuvor und ist nun ob seiner Visionen von den bevorstehenden Toden höchst irritiert.

Von einer mysteriösen Alten namens Gormala wird er eingeweiht, dass er ebenso wie sie selbst das zweite Gesicht hat und Tode vorausahnen und sehen kann. Bereits aufgewühlt durch jene Offenbarung wähnt er sich bei seiner dritten Begegnung mit in Todesgefahr schwebenden Frauen schon wieder in einer Vision, die sich dann aber als wahrhaft und konkret erweist.

So sind eine junge und eine ältere Dame in der unruhigen Strömung nahe der gefährlichen Meeresklippen von Cruden Bay in Gefahr geraten. Selbstlost rettet Archie die beiden Frauen aus der Gefahr – und schon kurz darauf ist es um ihn geschehen. Denn ebenso unverhofft wie die Begegnung kommt auch die Liebe, die sich zwischen ihm und der aus Amerika stammenden Marjory entspinnt.

Archibald Hunter, der Retter in der Not

Stoker vertut in seinem Roman nicht viel Zeit sondern geht in Das Geheimnis der See gleich in die Vollen. Von den Todesvisionen zur Errettung der Frauen zur Hochzeit mit Marjory vergeht hier nicht allzu viel Zeit und Seiten.

Um diese Geschichte herum montiert er noch eine weitere, fast schon an die Mantel und Degen-Romane eines Alexandre Dumas erinnernde Erzählung. Denn zufällig gelangt Archibald in den Besitz einer Eichenholzkiste mit Dokumenten. Diese sind mit einem Code verschlüsselt, der Archibald und Marjory auf die Spur eines Schatzes bringt, der auch mit Marjory selbst zu tun hat.

Denn die junge Frau schwebt in großer Gefahr. So versteckt sie sich eigentlich in Cruden Bay, weil es Entführer auf sie abgesehen haben. Der amerikanisch-spanische Krieg tobt im Hintergrund – und Marjory kommt eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung, wie Stoker zeigt. Der Schatz, der Geheimcode, Archibalds Haus, alles hängt hier (nicht immer sehr glaubwürdig) miteinander zusammen. Das fällt aber nicht so sehr ins Gewicht, weil Stoker die Logiklöcher und Unwahrscheinlichkeiten mit einem hohen Tempo und immer neuen Erzähleinfällen kaschiert.

Die Entschlüsselung des Codes führt zur Höhle mit dem Schatz (die sich natürlich gleich in der Nähe von Cruden Bay verbirgt), Geheimgänge und Codes bringen Archibald und seine Frau auf die Spur von Entführern und schließlich darf auch die alte Seherin Gormala noch einmal einen Auftritt haben, um im Bombast-Finale vor der Küste Archibald mit übersinnlichen Kräften zur Rettung seiner Holden zu verhelfen.

Nicht wirklich glaubwürdig – aber unterhaltsam

Glaubwürdig ist das alles natürlich nur bedingt – aber dafür umso unterhaltsamer. Das Geheimnis der See ist doch reich an Schwächen, die das Buch nicht unbedingt zu einem vergessenen Meisterwerk machen. Einige recht unmotivierte Zufälle, viele verschiedene Elemente und Genres, die sich nicht immer ganz glatt verfugen, eine manchmal etwas konfuse Handlung, Liebeskitsch á la im Gleichklang schlagende Herzen oder wilder Exotismus ob der glutäugigen Spanier und gedungenen Amerikaner sind durchaus Schwächen.

Wer an historischen Abenteuerromanen wie Dumas‘ Der Graf von Montecristo oder Moonfleet von John Meade Falkner seine Freude hatte, den dürfte auch Das Geheimnis der See nicht enttäuschen. In vielen Kapiteln und noch mehr erzählerischen Volten treibt er seine Leser*innen durch das Buch, das von Alexander Pechmann nicht nur übersetzt, sondern auch mit einem Nachwort und weiterführenden Informationen versehen wurde. Gelungen arbeitet Pechmann interessante Aspekte an Stokers Werk heraus und erläutert darüber hinaus auch noch Wissenswertes, etwa zum Binärcode von Francis Bacon, der im Roman eine entscheidende Rolle spielt.

Fazit

So kann man mit diesem formschön gestalteten Band im Schuber ein Werk entdecken, dem man nicht Unrecht tut, wenn man es jetzt nicht ganz in den Bereich eines wiederentdeckten Klassikers rückt. Aber ein solider Abenteuerroman ist Das Geheimnis der See doch allemal. Nicht zuletzt für die bevorstehende Weihnachts- und damit auch Geschenksaison ist Bram Stokers Text ein Tipp, der Leser*innen klassischer Abenteuerroman sicher gut unterhalten dürfte. Und auch aus bibliophiler Perspektive haben sich Übersetzer und der herausgebende Mare-Verlag mehr als nur ein lobendes Wort für ihre Arbeit verdient!


  • Bram Stoker – Das Geheimnis der See
  • Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
  • ISBN 978-3-86648-704-8 (Mare)
  • 544 Seiten. Preis: 48,00 €
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