Es sind die großen Fragen, die Fernando Aramburu in seinem gewichtigen Roman Patria verhandelt (Deutsch von Willi Zurbrüggen). Schuld und Sühne, Taten und Vergebung – all geschieht bei Aramburu auf der Folie des jahrzehntelang dauernden Kampfs der Basken um Selbstbestimmung. Die Grundlage seines Romans bilden dabei zwei Familien aus dem Baskenland, exemplarisch eine Opferfamilie auf der einen Seite und gegenüber eine, aus deren Kreis ein Urheber des ETA-Terrors stammt. Eine Familiensaga mit Terrorhintergrund sozusagen.
Vor Jahren wurde Txato, der Ehemann von Bittori, vor der eigenen Haustür erschossen. Schon länger zuvor wurde er anonym bedroht und fand sich inmitten einer Verleumdungskampagne wieder. Sein Reichtum als Unternehmer zog die Neider auf sich, die ETA erpresste Gelder von ihm, beschmierte das ganze Dorf mit Parolen und denunzierte ihn als Spitzel. Bittori konnte den Verlust ihres Mannes nie verarbeiten, zu den eigenen Kindern pflegt sie seit dem Mord ein distanziertes Verhältnis. Auch hat sie ihre Verbindungen zu Miren gekappt, einer alten Freundin aus Jugendtagen, deren Familien einst unzertrennlich waren. Doch nun beschließt sie, wieder in das Dorf zurückzuziehen, aus dem ihre Familie einst geflüchtet war.
Alte Wunden brechen auf
Damit brechen alte Wunden auf. Erinnerungen an den Terror der ETA werden wieder zurück ans Tageslicht gespült – sowohl bei Bittori als auch bei Miren. Denn deren Sohn Joxe Maria sitzt schon jahrelang im Gefängnis, da er den bewaffneten Kampf der ETA um ein autonomes Baskenland unterstützte und dafür auch zu den Waffen griff. Aramburu beleuchtet nun Stück für Stück die Wahrheit über die damaligen Ereignisse, indem er sich den Mitgliedern in Mirens und Bittoris Familie annähert und in Rückblenden alle Geschehnisse aufdröselt. Immer wieder kehrt Bittori dabei an das Grab ihres ermordeten Gatten zurück und erzählt aus ihrem Leben, sodass wir als Leser einer Art Puzzle beiwohnen. Immer weiter fügen sich Teilchen von Vergangenem und Gegenwärtigem zusammen, bis schlussendlich ein Mosaik über Schuld, Sühne und Vergebung entsteht.
Die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende Familiensaga zeichnet dabei ein präzises Bild von der Unruhe, die das Baskenland im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung erfasste. Auch wenn das Interesse und der Fokus auf diesem brutalen Konflikt schon lang verschwunden ist – Aramburu schafft es, die Geschehnisse wieder ins Bewusstsein zu rufen und zu sensibilisieren (schließlich endete offiziell der bewaffnete Kampf der ETA erst im Jahr 2011 und hinterließ weit über 900 Opfer).
Sehr vielschichtig zeigt Aramburu in Patria , was hinter dem schlichten Wort des ETA-Terrors steckt. Eindringlich illustriert der Autor, wie sich Risse durch Gesellschaften, Familien und sogar einzelne Personen ziehen. Ein Buch der Fragilität und des Verlustes. Denn eigentlich kennt der Konflikt nur Verlierer, auf Seite der Opfer wie auch der Täter. Besonders deutlich wird das am Schicksal von Miren, die in einigen Passagen bitter konstatieren muss, dass es das Schicksal auch mit ihrer Familie nicht gut gemeint hat. Zu hoch ist der Preis, den auch sie für die Taten ihres Sohnes bezahlen musste.
Ganz groß ist dieser Roman auch in der Montage und darin, wie er seine Geschichte erzählt. Aramburu springt immer wieder von Figur zu Figur, um alle Familienmitglieders aus dem Bittori- und Miren-Clan für eine gewisse Spanne zu begleiten und auszuleuchten, ehe die nächsten Personen an der Reihe. Das ist geschickt gelöst und bringt viel Abwechslung in Aramburus Text – bei über 760 Seiten eine wirkliche Kunst, für die man dem Autor sehr dankbar ist.
Fazit
Fazit: IRA-Konflike oder ETA, bewaffnete Kämpfe mit dem Ziel der Abkapselung gab und gibt es viele, egal ob in Nordirland oder eben im Baskenland. Die Qualität von Aramburus Text besteht nun darin, von den bloßen Schlagzeilen auf das Leben und die Konsequenzen dahinter zu blicken. Gerade da seine Familien so nuanciert gezeichnet sind, gewinnt dieses Buch unglaublich an Tiefe und Intensität. Ein großer Wurf!
Verwiesen sei an dieser Stelle noch auf die hervorragende Beiträge der sachkundigen Isabella Caldart vom Blog Novellieren, die sich in mehreren Beiträgen der Geschichte des Baskenlandes und der baskischen Literatur im Allgemeinen widmet, sowie ein Glossar zum Roman liefert. Mehr als lesenswert und große Empfehlung!
[…] Weitere begeisterte Besprechungen findet ihr bei Constanze auf Zeichen&Zeiten, bei Alex von letusreadsomebooks, für das Hörbuch bei Romy auf Travel without moving und bei Marius von Buchhaltung […]
Lieber Marius,
Eine sehr schöne und differenzierte Rezension hast du geschrieben. Mir hat das Buch leider nicht gefallen und ich habe es irgendwann sogar abgebrochen, weil ich mit dem Schreibstil und der Geschichte einfach nichts anfangen konnte. Für mich hat irgendwie die Spannung gefehlt. Die Geschichte ist einfach nur so dahingeplätschert. Aber vielleicht war ich auch einfach nicht in der richtigen Stimmung für das Buch. Mal sehen, vielleicht gebe ich ihm später noch mal eine Chance.
Freut mich aber auf jeden Fall, dass dich das Buch so begeistern konnte.
Liebe Grüße, Julia
Servus Julia,
ja man sollte wohl wirklich in der Stimmung zu Puzzlen sein. Einfach macht es einem Aramburu gewiss nicht. Ich würde mir wünschen, es gäbe mal ein ähnliches Buch für deutsche Verhältnisse, das die Auswirkungen des Terrors der RAF oder Ähnliches literarisch thematisiert.
Aber wer weiß, was das Bücherherbst noch so bringt?
Bin auf alle Fälle auch gespannt, wie dir „Geister“ von Nathan Hill gefällt, das du gerade liest 😉
Beste Grüße, Marius
[…] Weitere begeisterte Besprechungen findet ihr bei Alex von letusreadsomebooks, für das Hörbuch bei Romy auf Travel without moving und bei Marius von Buchhaltung […]
Für mich auch einer der besten Romane des bisherigen Jahres! Viele Grüße!