Es war eine Nachricht aus meiner Heimat, die mich vor zwei Jahren aufhorchen und den Kopf schütteln ließ. Ähnlich wie in anderen Gemeinden ist auch in meiner Heimatstadt die finanzielle Situation defizitär, der Rotstift muss angesetzt werden. Und ähnlich vorhersehbar wie andernorts verlief auch hier die Suche nach Einsparpotenzialen. Schnell landete man bei den freiwillig erbrachten kommunalen Aufgaben wie etwa Schwimmbad oder Eisstadion. Unweigerlich führte die Suche nach Möglichkeiten zur Kostensenkung auch zur städtischen Bücherei. Die Diskussion nahm hier dann aber eine wirklich bedauerliche Wendung. Ein Stadtrat forderte mit der Aussage, man sammele hier eh nur Papier, die komplette Schließung der Bibliothek. Eine Äußerung, die ein Maß an grotesker Uninformiertheit an den Tag legte, wie sie mir schon lange nicht mehr untergekommen war. Ignoriert eine solche Aussage nicht nur die Vielfalt moderner Bibliotheksarbeit, zeigt sie auch ein Maß an Geringschätzung, das mich seinerzeit fassungslos zurückließ.
Dem Stadtrat (der diesen Antrag dann wenig später wieder zurückzog) und allen, die schon lange keinen Fuß mehr über die Schwelle einer Bücherei gesetzt haben, sei Freya Sampsons Roman Die letzte Bibliothek der Welt ans Herz gelegt. Ein kraftvolles Plädoyer für die Bedeutung von Bibliotheken und wider die ökonomische Kaltherzigkeit, Leseförderung mit nackten Kennzahlen gegenzurechnen. Ein Buch, das die soziale Rolle von Büchereien in den Blick nimmt, von der Bedrohung dieser Institutionen erzählt. Und nicht zuletzt auch ein Buch, das eine warmherzige Komödie ist, die von einem ganz besonderen Kampf gegen den Neoliberalismus erzählt.
„Und wir kämpfen für soziale Gerechtigkeit, für Bildung und die Zukunft unserer Kinder.“ Mrs B fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Junes Nase herum. „Wussten Sie, dass in den letzten zehn Jahren an die achthundert Büchereien in diesem Land dichtgemacht wurden? Und wenn es nach unserer beschissenen Regierung geht, werden es noch einige mehr. Wir mögen zwar ein kleines Dorf sein, aber unser Kampf ist größer als Chalcot. Wir müssen um unsere Bücherei kämpfen, als wäre es die letzte Bibliothek der Welt.“
Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt, S. 184
Von der Überlebenswichtigkeit von Bibliotheken
Chalcot ist eigentlich ein beschauliches Dörfchen. Doch eine Nachricht erschüttert das gesamte Dorf. Die Bücherei soll geschlossen werden, zu gering sind Ausleihzahlen und Nutzungsfrequenz in den Augen der lokalen Behörden. Doch das lassen sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Chalcot nicht sagen. Ihre Bücherei ist für viele der Mittelpunkt des Dorfs und die Identifikation mit der Bücherei ist hoch. So stürzen sich die Chalcoter*innen in den Kampf wider die kaltherzige Bürokratie und rufen eine Initiative zur Rettung der Bücherei ins Leben. Zunächst ungewollt wird auch die Bibliothekarin June Jones in den Kampf involviert. Obwohl es ihr von der Büchereileitung untersagt wurde, mischt sie anfangs undercover im Kampf für die Bücherei mit. Denn nach dem Tod ihrer Mutter verheißt ihr der Job in ihrer geliebten Bücherei Halt und Sinn. Als gute, aber durchaus schüchterne Seele des Hauses ist ihr am Erhalt der Bibliothek gelegen. Und schon bald müssen die Analysten und windigen Lokalpolitiker feststellen, dass die Gruppe um June höchst findig und kreativ in Sachen Widerstand ist.
Man kann Freya Sampsons Buch als leichte und sehr gut gemachte Komödie über die Emanzipation einer jungen Frau und den Widerstand eines Dorfes gegen die Obrigkeit lesen. Der Humor des Buchs ist durchaus filmreif, man könnte sich eine Übernahme des Stoffs ohne weitere große Bearbeitung sofort vorstellen. Jim Broadbent, Maggie Smith und ein paar andere talentierte Mimen – und schon hätte man eine perfekte englische Komödie im Stile von Grasgeflüster.
Ein Haus für alle Gesellschaftsschichten
Man kann das Buch aber auch als entschiedenes Plädoyer für Bibliotheken besonders auf dem Land betrachten. In Zeiten, in denen das Dorfleben zum Erliegen kommt, Gewerbegebiete in Randlagen die Innenstädte ausbluten und in denen Gasthäuser und Pubs nach und nach schließen, kommt den Bibliotheken eine immense Bedeutung zu. Als nicht-kommerzielle Einrichtung ist sie für alle Gesellschaftsschichten da – was Freya Sampson anhand ihres ebenso eigenwilligen wie erinnerungswürdigen Figurenensemble durchexerziert.
Da ist der Senior, der in der Bücherei Ansprache und seinen Zeitungslesestoff findet. Da ist die Geflüchtete, die sich mithilfe des Buchbestands die Kultur ihres neuen Landes erschließt. Da sind auch die, die einfach nach Lesestoff oder sozialem Austausch suchen. Da ist aber auch die Mutter, die nur hier einen kostenfreien Internetzugang und Hilfestellung für Themen wie Bewerbungen oder schriftlicher Konversation findet. Schüler*innen, die nur hier abseits des Trubels daheim lernen können. June als gute Bibliothekarin verschafft den Menschen eben nicht nur die gesuchte Lektüre, sondern auch Ansprache, Respekt und Austausch. Diese ganzen Faktoren sind es, die dann natürlich bei einem nüchternen Blick auf Zahlen und Effizienz schnell hintenüberfallen, kann man sie doch kaum messen, aber nicht genug wertschätzen.
„Wir haben sechs Bibliotheken im County identifiziert, die sich unserer Ansicht nach am besten für eine Restrukturierung eignen. (…). Im Laufe des nächsten Quartals werden wir eine gründliche Performance-Analyse dieser Häuser durchführen, um zu ermitteln, welche Bibliothek das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist.“
„Wie bitte? Das ist eine Bücherei und kein Start-up-Unternehmen!“ sagte eine der Strick&Schwatz-Frauen, woraufhin unterdrücktes Gelächter ertönte.
„Ruhe, bitte“ mahnte Brian.
Richard fuhr ungerührt fort. „Zu diesem Zweck haben wir eine Unternehmensberatungsfirma damit beauftragt, diese Performance-Analyse durchzuführen und die Kreisverwaltung dadurch bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Dabei geht es in erster Linie um Besucherzahlen und Ausleihstatistik. Daraus lässt sich dann die Kosteneffektivität der einzelnen Bibliotheken ableiten.“
„Und wie gedenken Sie den ideellen Wert der Bücherei in Ihrer Kostenanalyse zu berücksichtigen?“ June sah sie nicht, wusste aber sofort, dass es Mrs B war, die sprach. „Bildung, Inklusion, Leseförderung der Jüngsten. Lassen sich diese Werte beziffern, Mr Donelly?“
Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt, S. 58
Bedrohte Büchereien
So mochte sich der Stadtrat in meiner Heimatgemeinde bei einem oberflächlichen Blick über die Kennzahlen der Stadtbibliothek bestätigt fühlen. Was dieser Antrag dann aber eindeutig unter Beweis stellte war die Tatsache, dass er schon lange keine Bibliothek mehr aufgesucht hatte und ihre verschiedenen Wirkungsfelder überhaupt nicht kannte. Damit ist er natürlich nicht alleine, sieht man sich auch die Zahlen in Deutschland an. Erst im letzten Jahr sorgte der Fall die geplante Schließung der Ernst Abbe-Bücherei in Jena-Lobeda über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen. Die Bürger*innen vor Ort initiierten eine Online-Petition gegen die Schließung, die schlussendlich auch zum Erfolg führte. Aber solche Einrichtungen sind besonders in ökonomisch schwachen und dünn besiedelten Gegenden bedroht, wie Marius Elfering in seinem informativen Feature über die Bücherei in Jena-Lobeda und ihre Bedeutung für den Stadtteil schreibt. Zählte man 2009 in Deutschland noch 11.000 Bibliotheken, waren es zehn Jahre später bereits rund 2000 weniger. Das System Bibliothek ist durchaus bedroht und es kommt auf uns alle an, für diese Einrichtungen einzustehen.
Hierfür ist Die letzte Bibliothek der Welt ein eindrucksvolles Plädoyer, das mithilfe des Humors wichtige Einsichten und Botschaften transportiert. Dass das Buch dabei nicht unbedingt beim Booker Prize Berücksichtigung finden dürfte, das will ich nicht verschweigen. Einiges ist vorhersehbar, manche Figuren wandelnde Klischees, die Sprache auch eher funktional. Aber das macht überhaupt nichts.
Fazit
In unserer Kosten-Nutzen-optimierten Zeit, in der oftmals reine Statistiken zur Entscheidungsfindung herangezogen werden, zeigt die Engländerin, dass man Bibliotheken (und natürlich nicht nur sie) nicht einfach nur rein nach ökonomischen Aspekten beurteilen kann. Ihr Buch ist ein Plädoyer für einen ganzheitlicheren Blick auf Bibliotheken, ihre vielfältigen Nutzer*innen und die Bedeutung, die sie im ländlichen Raum haben. Ein engagierter literarischer Zwischenruf und gute Unterhaltung mit komödiantischem Schmelz. Nicht nur als Bibliothekar empfehle ich dieses Buch nachdrücklich!
- Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt
- Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn
- ISBN: 978-3-8321-6567-3 (Dumont)
- 368 Seiten. Preis: 20,00 €
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