Generationenroman, Dokumentation des Verfalls einer aristokratischen Familie und Beschreibung des Schreckens des Kommunismus – Nelio Biedermanns Roman Lázár weckt Assoziationen mit großen Vorbildern, tappert dann aber etwas hilflos in den Fußspuren der großen Meister.
Wieder einmal bedient sich ein junger Autor der beliebten Erzählweise des Generationenromans, um mithilfe der voranschreitenden Erzählzeit vom Vergehen des Alten und des Entstehends von Neuem zu erzählen. Bei ihm ist es das adelige Geschlecht der Lázárs, das im Mittelpunkt seines Romans steht. Die Mitglieder der Familie wohnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem Waldschloss in Ungarn.
Noch sind die Aristokraten als Teil der k. u. k.-Monarchie angesehen und leben mit Angestellten und Pferden im ungarischen Niemandsland. Doch schon bald wird nicht nur die Monarchie zu einem Ende kommen, auch die alte Generation findet umnachtet zu ihrem Ende und so ist es an Lajos von Lázár, die nächste Generation in das neue Zeitalter zu führen. Nach dem Ersten und dann dem Zweiten Weltkrieg ist es der Kommunismus, der nun erblüht und der für das Geschlecht der Lázárs tiefgreifende Veränderungen bereithalten wird.
Der ungarische Leopard
Eine Aristokratenfamilie, ein Jahrhundert, das seinem Ende kommt und die neue Generation, mit der alles anders werden soll – vieles in Nelio Biedermanns Roman erinnert an einen der großen Literaturklassiker, nämlich Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard (mit dessen Verfasser Nelio Biedermann auch zumindest väterlicherseits die adelige Herkunft teilt). Legt man di Lampedusas Roman neben Lazár, zeigt sich aber, dass die Fußstapfen solcher Vorbilder doch etwas arg groß sind.
Denn auch wenn das Erzählgerüst funktioniert, der Wandel von der Monarchie hin zum Kommunismus mit all seinen Verheerungen recht sauber über die Familiengeschichte gelegt ist, hat das Ganze doch etwas leicht Schulbuchhaftes. So hakt der 2003 geborene Biedermann alle bekannten geschichtlichen Aspekte der Zeit ab (Vergewaltigungen durch die Rote Armee nach und Hinrichtung eines Nazi-kritischen Priesters während des Kriegs, sogar eine seltsam unmotiviert im Roman stehende Schilderung des Todes Stalins gibt es, die im Gesamtkontext des Romans nicht so recht Sinn ergeben mag).
Sprachlich nicht ganz stimmig
Auch sprachlich ist das Ganze nicht immer ganz stimmig.
Kaum war die Sonne hinter die Hügel gesunken, hatten Mária und Jonathan das Schloss verlassen, wobei sie links und er rechts um das Städtchen spaziert war. Hinter dem Friedhof hatten sich ihre Wege gekreuzt. Sie hatten sich schon von Weitem gesehen, denn der Sommerhimmel trug noch das Licht des Tages.
Zuerst hatten sie umdrehen wollen, sie waren sich noch nie außerhalb des Schlosses begegnet. Aber natürlich war das unmöglich, nun, da sie sich gegenseitig gesehen hatten.
Nelio Biedermann – Lázár, S, 69 f.
Während sie weiter aufeinander zugegangen waren, ohne zu wissen, ob sie sich anschauen sollten oder nicht, hatten sie beide nach Worten und dem richtigen Ton gesucht, hatten leise vor sich hin murmelnd verschiedene Begrüßungen geübt und Gesprächsthemen probiert – um dann mit leeren Mündern voreinander zu stehen. Nicht einmal ein „Guten Abend“ kriegten sie hin, sie sahen sich nur panisch an, suchten vergeblich nach all den Worten, die sie vorhin noch vor sich hergesagt hatten, und begannen schließlich laut zu lachen.
Da der Himmel, der noch das Licht des Tages trägt, dort das verdruckste Stammeln, bei dem die beiden nichts „hinkriegen“. Umgangssprache steht neben poetischen Ausflügen und findet an einigen Stellen zu keinem rechten Miteinander. So auch folgende Passage, in der das „Bissen runterbringen“ dem Rest der gehobenen Schilderungen entgegensteht.
Mittlerweile war sogar Frau Telke besorgt und wies Dora an, nur noch Matildas Lieblingsspeisen zu kochen, da sie glaubte, ihr Hungern sei eine Form des Streiks, mit dem sie sie erpressen wolle. Dabei brachte Matilda wirklich keinen Bissen runter.
Nelio Biedermann – Lázár, S. 162
Überstrapazierte Metaphern, vergessene Figuren und ein irrlichternder Stalin
Registerschwankungen wie auch schiefe Bilder und überstrapazierte Metaphern gibt es haufenweise in dem Text. Auch an anderen Stellen verfestigt sich der Eindruck von einer etwas argen Unbehauenheit des Texts, nämlich im Umgang Biedermanns mit seinen Motiven und Figuren.
Zu Beginn hebt der Roman mit Lajos von Lázárs gläsernem Körperbau an, ohne dass daraus irgendetwas Interessantes entstünde. Auch das Verschwinden der jungen Baronesse Ilona, die im Wald verlorengeht und später wiedergefunden wird und die in der Zwischenzeit einen immensen Appetit auf Fleischliches entwickelt hat, es bleibt ohne Folgen. Der Wald als Motiv oder als Erzählansatz wird nicht wirklich ausgedeutet. Auch andere Gestalten schiebt Biedermann aus dem Bild, wenn sie ihn nicht mehr interessieren. Allen voran der für verrückt erklärten Imre, der in einem Zimmer im Schloss vor sich hinvegetieren muss fällt komplett aus der Handlung und wird erst wenige Seiten vor Ende des Romans wieder von Biedermann hervorgezaubert.
Fazit
Feuilletons, die den jungen Biedermann als „Zauberer“ beschwören, kann ich so nicht ganz folgen. Seine Tricks sind doch recht durchschaubar und wollen für mein Empfinden nicht wirklich klappen, auch wenn man mit jungen Talenten auf der Variétebühne wie auf der literarischen Bühne natürlich auch etwas nachsichtig umgehen sollte. Dennoch ist dieses Buch mehr Illusionsbudenzauber als echte literarische Magie.
So kann ich mich auch dem Lob Daniel Kehlmanns, der das Buch auf der rückwärtigen Klappentext als Donnerschlag lobpreist, nicht so recht anschließen. Lázár ist gewiss nicht ganz schlecht und hat seine zahlreichen Fans in Feuilleton wie auch im Buchhandel (nicht umsonst ist das Buch als eines von fünf für den Preis des Lieblingsbuchs des unabhängigen Buchhandels nominiert und steht auf den Bestsellerlisten).
Dennoch weist das Buch handwerkliche Mängel auf, die trotz des jugendlichen Alters des Autors benannt werden müssen. So neige ich eher der Meinung der Rezensentin Eva-Sophie Lohmeier auf 54 Books zu, die in dem Buch einen Roman „voller schiefer Bilder, prätentiöser Sprache und halbverdauter Lektüre“ sieht, der zudem mit seiner überstrapazierten sexuellen Note und den schiefen Frauenfiguren verärgert.
- Nelio Biedermann – Lázár
- ISBN 978-3-7371-0226-1 (Rowohlt)
- 336 Seiten. Preis: 24,00 €