Einmal quer durch die bundesrepublikanische (Nach)Kriegszeit bis hinein in die Gegenwart reicht der erzählerische Bogen, den Rabea Edel in ihrem Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern spannt. In ihrem Roman beschäftigt sie sich mit den fünf Generationen an Frauen und deren Vaterlosigkeiten.
Es ist ein Signum der Familie der Erzählerin Raisa, das sich durch die Generationen zieht. Seit den Zeiten der Urgroßmutter Dina verschwinden die Männer aus der Familie. Mal sterben sie, mal machen sich die Mütter aus dem Staub, mal heißt es einfach, dass es keinen Vater gebe. Auch Raisa muss das kurz vor den Wendejahren erfahren, als die Frage nach ihrem eigenen Vater immer drängender wird.
Mein Vater musste verschwunden sein, als ich gerade geboren worden war. Mein Name war das Einzige, was ich von ihm bekommen hatte, und selbst das stimmte nicht ganz. Er gab ihn mir und kurz danach verschwand er. Besser so, sagte meine Mutter. Für sie war das ein normaler Zustand. Anstatt auf ihn zu warten oder einen neuen Vater für mich zu suchen, den sie gar nicht brauchte, packte sie einen Koffer und wir gingen auf Reisen.
Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern, S. 20
Mit den einfachen Erklärungen will aber weder Raisa noch die Autorin Rabea Edel begnügen. Denn Edel taucht in ihrem Roman tief in die Geschichte der Familie Raisas ein. Es ist ein Roman, der – so das Nachwort- auf wahren Begebenheiten basiert und der zudem die Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen explizit nicht ausschließt, also durchaus als autobiographisch grundiert angesehen werden darf.
Verschwundene Väter als schwarze Löcher im Familiengefüge
Es ist ein Kellerfund ihres Kindheitsfreundes Mat, der bei der Erzählerin einen ersten Anstoß für eine vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Herkunft gibt. Jener Mat, der ebenfalls ohne einen sonderlich präsenten Vater in der Nachbarschaft Raisas in Bremerhaven aufwächst, entdeckt nämlich ausgerechnet in einem Buch über schwarze Löcher eine Widmung eines gewissen Pauls, der Raisas Mutter das Buch zueignet.
Doch wer ist dieser Paul? Warum darf Raisa nicht ans Telefon gehen und wer ist der Mann, der eines Abends vor der Tür der beiden Frauen steht und der von Martha brüsk abgewiesen wird?
All das klärt sich im Laufe des knapp 400 Seiten starken Romans, in dem Edel immer wieder in der Zeit zurückgeht und die verschwundenen Väter als eine Art schwarzer Löcher im Familiengefüge zeigt. Vor allem nimmt ihr Buch aber die unterschiedlichen Frauen der Familie in den Blick.
Zurückreichend bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt sie von Nachkriegsgenerationen, von Flucht, von Migration, von gescheiterten Hoffnungen und Träumen und nicht zuletzt auch von der Emanzipation, die zwar jede Generation der Frauen versuchte, deren Erfolg aber zumindest zweifelhaft ist, blickt man auf die intergenerationalen Traumata und Muster, denen sich die Frauen immer wieder gegenüber sahen und sehen.
Wiederholt sich Geschichte oder nicht?
Wiederholt sich Geschichte oder wiederholt sie sich nicht? In diesem im Buch an verschiedenen Stellen aufscheinenden Spannungsfeld bewegt sich Portrait meiner Mutter mit Geistern. Immer wieder beschreibt Rabea Edel unterschiedliche Gründe und Ereignisse, die für die Abwesenheit von Vätern sorgen und die sich aber in ihrer Konsequenz ähneln.
Von Amerika bis nach Bremerhaven, von Kindstoden bis zur Geburt von neuem Leben reicht dieser erzählerische Bogen, der ähnlich wie die Schwarzen Löcher nicht nur als Symbol für die absenten Väter nutzt. Auch sind lassen sich die im geheimnisvollen Buch beschriebenen astronomischen Phänomene auch auf die Figuren und die Erzählweise des Buchs übertragen. Rabea Edel lässt immer wieder Leerstellen in den Biografien setzt und eher auf kurze Schlaglichter denn auf wirklich episches Erzählen.
So gelingt der Autorin, die wie ihre Heldin Raisa ebenfalls 1982 in Bremerhaven geboren wurde, ein berührender Roman, indem sie die vielfachen Belastungen und richtungsweisenden Entscheidungen ihrer Frauen in den Blick nimmt. Vom Erbe des Erlebten und den über Generationen hinweg weitergegebenen Mustern kann man sich eben nicht so leicht lossagen wie vom Eintrag des eigenen Namens im Telefonbuch. Das zeigt Portrait meiner Mutter mit Geistern deutlich.
Fazit
Portrait meiner Mutter mit Geistern ist ein Roman, der über große Zeit hinweg den Parallelen und Motiven in einem familiären Gefüge nachspürt und wirklich interessante Figuren in den erzählerischen Mittelpunkt stellt. Rabea Edel beweist mit diesem Buch ihren Sinn für Zerrissenheit und Hürden sowie die inneren Kämpfe, denen sich (nicht nur) ihre Frauen gegenübersahen. Das ist anrührend komponiert und interessant montiert und lädt zur genauen und sogar mehrmaligen Lektüre ein, um all die sanft eingewebten Fragen und Figuren in all ihren Komplexitäten und Abhängigkeiten wirklich zu erfassen.
Mit Portrait meiner Mutter mit Geistern dürfte Rabea Edel bei der anstehenden Literaturpreissaison sicherlich das ein ums andere Mal eine Rolle spielen!
- Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern
- ISBN 978-3-406-82971-0 (C. H. Beck)
- 396 Seiten. Preis: 26,00 €