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Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt

Eine allesüberragende Hecke, dahinter ein Dorf, das zu verschwinden droht und Menschen, die immer mehr schrumpfen. Kinder, auf denen die Hoffnung des Dorfs ruht. Und dazu eine Forscherin in der Einsamkeit des ewigen Eises. Klingt nach einer wilden Mischung? Ist aber im Falle von Gianna Molinaris Roman Hinter der Hecke die Welt ein spannender Erzählansatz, um vom möglichen Leben inmitten der Klimakatastrophe zu erzählen.

Wie wir verschwinden

Auf den ersten Blick wählt Gianna Molinari für ihren Roman einen Erzählansatz, der auf dem deutschen Büchermarkt eigentlich schon für eine völlige Übersättigung gesorgt hat: die Rede ist vom Dorfroman. Auch in Molinaris Fall ist es schon wieder ein Dorf, vor dessen Hintergrund Molinaris Geschichte hauptsächlich verhandelt wird und in dem die beiden Kinder Lobo und Pina leben.

Gianna Molinari - Hinter der Hecke die Welt (Cover)

Auf den zweiten Blick aber wird dieses auserzählte Setting interessant – denn das Dorf steht kurz vor dem Verschwinden. Hinter einer Hecke in Übergröße gelegen schrumpft das Dorf – und mit ihm seine Bewohner. Jeder, der da über 1,50 Meter groß ist, zählt schon zu den Hoffnungsträgern. Neben dem Dorfhund Pilaster sind das eben Pina und Lobo, auf denen die Hoffnung der Dorfgemeinschaft ruht. Sie sollen das Dorf dem Vergessen entreißen und für eine Zukunft sorgen, die aktuell recht düster aussieht.

Ab und an finden noch Touristenbusse in das Dörfchen, um die Hecke zu bewundern und das Dorfmuseum zu besuchen, ansonsten ist das Dorf aber keineswegs ein Aspirant für den Wettbewerb Unser Dorf hat Zukunft.

Eine Welt in Auflösung

Die Welt des Dorfs, sie befindet sich in Auflösung. Und mit ihr auch die Welt da draußen, die hinter der Hecke in einem diffusen Prozess des Verschwindens inbegriffen ist.

Es gibt Stellen, sagte Pinars Vater, die von der Landkarte verschwinden. Das geht nicht nur uns so. Auch andere Orte verschwinden, Inseln gehen unter, Berge zerbröseln zu Steinklumpen, Klümpchen, zu Staub.

Pinas Vater war der Meinung, dass hinter der Hecke das Dorf liege und dieses darum besser geschützt sei als andere Orte.

Pina war der Meinung, das hinter der Hecke die Welt liege. Die Welt und irgendwo auch die Arktis.

Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt, S. 27 f.

Die Arktis ist der zweite Handlungsstrang, den Gianna Molinari in ihrem Roman einführt. In diesem Strang steht die Arktisforscherin Dora im Mittelpunkt, die zugleich auch im ewigen Eis ebenjene Untergangsstimmung spürt, die auch das Dorf und seine Welt ergriffen hat. Dora, die auch die Mutter von Pina ist, schickt ihrer Tochter Sprachnachrichten, die von der schwindenden Schönheit des Eises erzählen.

Wuchernde Hecken, schmelzende Gletscher

Sie berichtet über Gletscher und Eisberge, die zerfallen, denkt über die Einsamkeit von Grönlandhaien nach und beschreibt durch kleine Momentaufnahmen die zerstörerische Kraft des Anthropozäns. Immer ist es der Mensch als Erdbewohner, der alles zerstören muss, was diese Erde eigentlich ausmacht. Ergänzt werden diese Impressionen durch kleine Skizzen, die das Erzählte in Silhouetten noch einmal nachzeichnen.

Es sind Szenen, die von ebenso still wie eindrücklich vom allmählichen Ende dessen künden, was Dora aktuell noch dort hoch oben im Eis beobachten kann.

Damit ist Hinter der Hecke die Welt eine kraftvolle Meditation über die Vergänglichkeit und den Klimawandel, in den wir sehenden Auges reichlich fatalistisch steuern. Ähnlich wie zuletzt bei T. C. Boyle fällt auch bei Gianna Molinari die menschliche Antwort auf die Klimakatastrophe reichlich fatalistisch aus.

Irgendwie arrangiert man sich mit den schmelzenden Gletschern und dem Schrumpfen der Menschen – es geht ja doch irgendwie weiter – und Aufgeben wäre eh keine Option, und so lebt man einfach weiter, von Tag zu Tag. Dieses Gefühl trifft Hinter der Hecke die Welt sehr genau.

Fazit

Gianna Molinari gelingt mit ihrem Roman Hinter der Hecke die Welt ein ungewöhnlicher Dorfroman mit Parabelcharakter, eine Erzählung übers Verschwinden und Artensterben – und den Fatalismus der Menschen, die sich auch von Schrumpfen, übergroßen Hecken und dem Schmelzen der Gletscher und Eisberge nicht aus dem Konzept bringen lassen. Obwohl das Buch nur aus kurzen Szenen und Momentaufnahmen montiert ist, gelingt der Schweizer Autorin ein tiefgreifender Eindruck dieser Prozesse, den sie in ihrer schwebenden und wie hingetupft wirkenden Prosa präsentiert.


  • Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt
  • ISBN 978-3-351-04173-1 (Aufbau)
  • 208 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ian McGuire – Nordwasser

Bei Ian McGuire wird es in Nordwasser im wahrsten Sinne des Wortes schmutzig. Ein dunkler, ein derber und ein brutal guter Thriller rund um eine Expedition ins gefährliche Nordwasser.

Dabei fokussiert sich Ian McGuire in seinem Roman auf zwei gegensätzliche Charaktere, die sein Buch tragen. Da ist zum Einen der Harpunier Drax, ein Mann ohne Moral oder Gewissen. Seinen Gegenpart bildet der irische Arzt Sumner, der aus Verlegenheit als Schiffsarzt zur Nordwasser-Expedition dazustößt. Er trägt besonders an einem Geheimnis aus seiner Vergangenheit, das mit der Besatzungszeit durch das englische Empire in Delhi zusammenhängt.

Vom Nordwasser zum Mordwasser

Geheimnisse, brutale Draufgänger, das Schiff als begrenzte Bühne, auf der die Charaktere aueinanderprallen. Schon in der Anlage ist Nordwasser sehr stark und verspricht einiges an Spannung, was das Buch dann auch tatsächlich einzulösen vermag.

Geschickt schafft es Ian McGuire, die brodelnde Atmosphäre auf dem Schiff in Worte zu fassen. Unter Leitung von Kapitän Brownlee wird das Nordwasser nämlich schnell zum Mordwasser (ein Kalauer pro Rezension sei mir erlaubt …). Nicht nur Robben und Wale werden nämlich von den Männern des Profits wegen abgeschlachtet. Auch bald findet sich die Leiche eines Schiffsjungen an Bord. Sumner beginnt nachzuforschen, wer den brutalen Mord an dem Jungen begangen hat.

So reichert der britische Schriftsteller seine dichten Schilderungen des Lebens an Bord und der Waljagd zusätzlich noch mit einem Whodunnit-Krimiplot an. Gerät ihm die Einführung seiner Figur Drax für meinen Geschmack zu plakativ, so findet McGuire schon bald in besseres Fahrwasser und entwickelt kontinuierlich seinen Plot und seine Figuren mit ihren Abgründen. Dabei funktioniert Nordwasser auch besonders über die Körperlichkeit.

Das Gegenteil von Sauber

Ian McGuire pflegt in Nordwasser keine klinisch-reines Grundattitüde, um es vorsichtig auszudrücken. Der Leser wird mit Unmengen von Blut, erschlagene Tiere, Scheiße, heimtückischen Morden, Ausschlag und diversen körperlichen Versehrungen konfrontiert. Nordwasser ist Survival of the fittest in Reinform.

Zartbesaitete Leser mögen sich mit Grausen abwenden oder argumentieren, dass alles ja so schmutzig und unappetitlich sei. Ich möchte dem entgegenhalten, dass diese Erzählung allerdings nur so funktionieren kann und muss. Der von McGuire so gebaute Erzählrahmen folgt dem Gesetz der Authentizität und bedarf genau deshalb dieser Schmutzigkeit auf allen Ebenen. Kategorien wie Sauberkeit oder ästhetische Schönheit in puncto Handlung und Plot sind bei diesem Thema fehl am Platz – diese bei Nordwasser einzufordern wäre lächerlich und deplaziert. Stattdessen macht dieser Thriller wieder sinnlich erfahrbar, wie es damals an Bord eines Walfängers und im Eis der Antarktis gewesen sein muss.

Dieses Aufrufen der Bilder und die geradezu atemlose Handlung, die in ihren Bann zieht – das ist großartig gelungen. Das Buch steht für mich in einer Reihe der großen Abenteuerliteratur. Die deutlichsten Brüder im Geiste sind Das Herz der Finsternis von Joseph Conrad oder (natürlich) Moby Dick von Herman Melville. Aber auch die Erinnerungen Heute dreimal ins Polarmeer gefallen von Arthur Conan Doyle standen mir beim Lesen deutlich vor Augen. Auch die Jury des Booker-Preises sah das so. Sie nominierte 2016 das Buch für den Preis.

Ein Lob sei an dieser Stelle auch an den Übersetzer Joachim Körber ausgesprochen. Ihm gelingt es, die derbe Sprache, das nautische Vokabular und die großen szenischen Bilder, die McGuire entwirft, gut ins Deutsche zu übertragen, ohne dass viel vom Sound verlorengeht. Sicherlich keine ganz leichte Aufgabe, die der Übersetzer aber sehr gut gemeistert hat.

Nordwasser ist ein waschechter Abenteuerroman, eine hochspannende Jagd nach Walen und letztendlich auch nach Erlösung, sowie das Duell zweier ungleicher Männer. Nordwasser ist wunderbar altmodisch und zugleich hochaktuell. Ian McGuire ist damit ein echtes Kunststück gelungen!

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