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Backlist lesen: Wasserland

Warum immer nur das Neueste vom Neuesten lesen und in den Neuerscheinungsrausch verfallen? Auch die Backlist-Programme der Verlage bieten viele vergessene Perlen. In Zeiten, in denen Bücher maximal drei Monate in den Buchregalen verbleiben, ehe der nächste Schwung an Novitäten kommt, sollte man auch manchmal innehalten. Rückschau statt Vorschau ist das Motto – hierfür steht diese Kategorie. Eine solche Backlist-Perle möchte ich heute vorstellen, es handelt sich um den im Original 1983 erschienen Roman Wasserland von Graham Swift (Übersetzung aus dem Englischen von Erika Kaiser).

Das Buch ist eine Hommage an die Landschaft der Fens im Osten Englands, eine vom Wasser geprägte Natur. Der Fluss Ouse und viele weitere Nebenflüsse durchmessen diese Landschaft und prägen damit auch das Erzählen in Wasserland. Denn Graham Swift verschafft der mäandernden und chaotischen Natur des Wasser ein wunderbares Abbild in der Struktur des Romans. Er erzählt achronologisch, springt durch Themen, unterbricht den Lesefluss, umkreist Themen – genauso wie es ein Fluss in der Landschaft tut. Linear oder gar stromlinienförmig ist in Wasserland eigentlich nichts. Ausgangspunkt ist der Lehrer Tom Crick, der in seinen letzten Unterrichtsstunden von einem Assoziationsstrom zurück in seine eigene Kindheit in den Fens getragen wird.

Er erzählt dabei die Geschichte seiner Familie, die eng mit der der Fens verbunden ist. In dieser Familie gab es Bierbrauer, Kriegsheimkehrer, Liebe, Inzest und sogar einen Mord. Dieser bildet gewissermaßen den Auftakt des Erzählreigens. Denn als junger Mann findet Tom Crick die Leiche eines Freundes im Wasser vor der Schleuse, für die sein Vater als Wärter zuständig ist. Die damaligen Ereignisse und Zusammenhänge werden langsam während der Lektüre der knapp 500 Seiten offenbar.

Neben der wunderbaren Sprache und den Bildern, die das Buch heraufbeschwört, muss auch auf die Komposition dieses Buchs eingegangen werden. Kleine Leitmotive, klug eingesetzt, durchziehen Kontrapunkten gleich dieses Buch. So geben etwa das Wasser oder das ständige Vorkommen von Kreisen, die sich teils erst nach Jahrzehnten schließen, dem Buch Rhythmus und Struktur.

Nur ein Beispiel sei an dieser Stelle genannt. Tom Crick versieht seinen Dienst als Lehrer in England an einer ganz besonderen Stelle, die die Anfang und Ende des Erdkreises markiert. Die Rede ist natürlich von Greenwich – der Stelle des Nullmeridians, nach dem sich die Zeit und die geographischen Längengrade bemessen. Höchst symbolkräftig also dort, wo alles endet und wieder neu beginnt. Greenwich ist einer dieser Kreise, der das ganze Leben Cricks und seiner Schüler bestimmt oder bestimmen wird. Und dererlei Spielereien gibt es – mal versteckter, mal klarer – zuhauf. Man könnte alleine über die Symbolik ganze wissenschaftliche Arbeiten verfassen.

Fazit: Bierbrauer, Aale, eine Mord – Wasserland ist ein bilderreicher und prächtig schimmernder Erzählbogen allererster Güte. Ein sprachliches und kompositorisches Juwel, das ästhetischen Hochgenuss und sprachliches Breitwandkino bietet. Eine wirkliche Backlistperle, die unbedingt wiederentdeckt werden sollte. Und zudem ein Kandidat meiner ewigen Top10-Bücher – mehr muss man wirklich nicht sagen!

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